»Hallo Mama, ich habe heute jemanden mitgebracht. Das ist mein Freund Cole. Sag Hallo, Cole.«
»Wie soll ich denn Hallo sagen?« Coles Wangen waren rosafarben. Ob das an der steifen Frühlingsbrise oder an etwas anderem lag, konnte nur er beantworten. Ich knuffte ihn in die Seite.
»Na, so: Hallo, Ava. Der Name meiner Mama ist Ava …«
»Ich weiß …«, brummte er und nahm mir pflichtschuldig den Hörer aus der Hand. »Hallo, Ava. Es ist schön, Sie endlich kennenzulernen. June hat mir schon viel von Ihnen erzählt … Reicht das?«
Ich verdrehte die Augen. »Manchmal bist du echt kindisch, Cole. Gib mir schon den Hörer zurück. Meine Mama denkt ja noch, du bist irgendwie komisch. Er ist bloß schüchtern, Mama. Ja, ich weiß, er sieht nicht so aus … und bei mir ist er irgendwie auch das genaue Gegenteil von schüchtern …«
»Hey!«, zischte Cole. »Hör auf, die kriegt ja einen total falschen Eindruck von mir!«
Ich unterdrückte ein Kichern.
Cole deutete auf Pops, der sich mit einem Sack Kartoffeln abmühte. »Ich lass euch Mädels mal in Ruhe lästern und helfe deinem armen Vater. Bestimmt braucht er gleich wieder einen Schnaps … für seinen Rücken.«
Als er die Telefonzelle verließ, musste ich wirklich lachen. Freude blubberte mir über die Lippen und Cole drehte sich noch einmal um und zwinkerte mir zu. Ich sah ihm einen Augenblick lang hinterher. Diesem Jungen, der mich anfangs so hasserfüllt angestarrt hatte und dessen Blick nun butterweich wurde, sobald er mich aus dem Bus steigen sah. Seit dem letzten Gespräch mit seinem Bruder hatte Cole sich verändert. Vor allem für die anderen. Für mich war er schon lange nicht mehr der kaltherzige Tunichtgut, für den ihn alle gehalten hatten. Eigentlich war er das ja noch nie gewesen.
»Oh, zum Glück bist du da, Cole. Du brauchst bestimmt ein Workout nach dem Burgergelage von letzter Woche …« Pops klopfte sich auf den kleinen Bauchansatz, sah dann auf Coles schlanken Körper und winkte ab. »Okay. Vergiss es wieder. Hilf mir bitte trotzdem. Ich bin ein alter Mann …«
Cole sagte etwas, das ich nicht verstand, woraufhin Pops lauthals lachte.
Ich war mir anfangs nicht sicher gewesen, ob die beiden sich ehrlich verstehen konnten oder ob es immer irgendwie verkrampft zwischen Pops und meinem Freund bleiben würde. Darum hätte ich mir allerdings keine Sorgen zu machen brauchen. Beim Pokerspielen stritten die zwei wohl wie ein altes Ehepaar, aber ansonsten verstanden sie sich echt prächtig. Ich war ein bisschen stolz auf beide.
Seufzend riss ich mich von dem Anblick los und konzentrierte mich wieder auf mein Gespräch mit Mama. Es war lange her, dass ich zuletzt in der Telefonzelle gewesen war. Zunächst hatte ich noch jeden Tag überprüfen müssen, ob die Leitung wirklich still war. Doch nachdem Lucas sicher fortgegangen war, hatte ich wochenlang sogar den Garten gemieden und nicht einmal aus dem Fenster geschaut. Nun gab es jedoch etwas, das ich dringend mit Mama besprechen wollte. Ohne ihre Zustimmung würde ich es nicht tun wollen und Pops hatte gemeint, der einfachste Weg wäre, sie zu fragen.
»Okay, Mama. Folgendes: Cole und ich wollen nach dem Abschluss ein bisschen um die Welt reisen. Vor allem Asien … Das echte Telefon des Windes in Japan besuchen, so wie ihr damals. Und Coles Verwandte in Korea. Es wird dann den ganzen Sommer lang keiner hier sein. Und da haben wir uns überlegt …« Ich holte tief Luft. »Wäre es für dich in Ordnung, wenn in Zukunft auch andere die Telefonzelle nutzen würden? Ich hab schon Pops gefragt, und er meinte, es wäre okay für ihn, wenn hier Leute in den Garten kämen, die noch ein, zwei Dinge mit ihren Toten zu klären hätten.«
Ich setzte mich auf den Boden. Jetzt, wo es ausgesprochen war, konnte ich mich auch wieder entspannen. »Es war eigentlich Coles Idee. Er meinte, es hätte ihm wirklich geholfen, ein letztes Mal mit Lucas zu sprechen. Bestimmt wäre das auch für andere Menschen wichtig. Und ich finde, er hat recht. Was sagst du, Mama? Du hast unsere Leitung schon mit Lucas geteilt, wofür ich dir für immer dankbar sein werde. Wenn du nicht willst, mache ich es nicht.«
Ich lauschte der Stille im Hörer. Natürlich erwartete ich keine Antwort. Nicht von meiner Mama, nicht von Lucas und auch nicht von einem anderen Geist. Dennoch war mir die Zustimmung meiner Mutter wichtig. Der Wind fuhr durch den Hagebuttenstrauch und schüttelte ein paar weiße Blütenblätter herunter.
Ich lächelte. »Das ist ein Ja, nehme ich an. Das freut mich wirklich. Ich denke, es sollte jeder die Chance auf einen Abschied haben.«
Draußen fluchte Cole und warf eine Kartoffel nach Pops. Plötzlich konnte ich es in der winzigen Kabine kaum mehr aushalten. Jahrelang war sie mein Rückzugsort, mein sicherer Hafen gewesen. Nun erschien sie mir zu eng und zu klein für all das Leben, das in mir steckte.
»Ich muss los. Danke für deine Zustimmung. Grüß mir Lucas ganz herzlich! Bis bald, Mama, ich hab dich lieb!«
Ich legte auf und schloss die Tür der Telefonzelle hinter mir.
Draußen streckte ich mich, als hätte ich stundenlang in dem Häuschen gesessen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel hinauf.
Die weiße Sichel des Mondes hing wie ein lächelndes Versprechen am Frühlingshimmel.