Vidar Vendel ist siebenundfünfzig, Geschäftsführer eines Energieunternehmens und nicht erst seit gestern gut betucht. Außerdem ist er glücklich mit Eva verheiratet.
Mit dem Sakko seines hellgrauen Leinenanzugs in der Hand ist er an diesem ungewöhnlich heißen Augustabend auf dem Weg nach Hause. Als er in die Straße einbiegt, in der Eva und er wohnen, atmet er den lauen Duft welken Laubs ein. Ihr gelbes Einfamilienhaus steht in Sävast südöstlich von Boden und nur wenige Kilometer von der norrbottnischen Küste entfernt im Neubaugebiet. Die Nachbarn sind nett, die Häuser teuer, die Birken noch jung, der Rasen wird ordentlich gemäht.
Kurz bevor Vidar hoch zu ihrem Haus abbiegt, wirft er einen Blick über die Schulter. Ihre Zufahrt ist die längste in der ganzen Siedlung: pechschwarzer, blitzblanker Asphalt, flankiert von Pflastersteinen und niedrigen Büschen. Eva liebt ihren Buchs und schneidet ihn zu akkuraten kleinen Kugeln. Vidar hat den Reiz von zu unnatürlichen Formen gestutzten Gewächsen nie verstehen können. Die Buchskugeln sehen einfach nur albern aus, liegen wie Fußbälle in einer Reihe.
Er hat kaum den Schlüssel ins Schloss geschoben, als er feststellt, dass die Tür offen ist. Eva muss vor ihm nach Hause gekommen sein. Er ist überrascht und froh, in dieser Reihenfolge. Tags zuvor hieß es noch, sie müsse eventuell Überstunden machen. Anscheinend hat es sich doch anders ergeben.
Vergnügt betritt Vidar den Flur. Vom gleißenden Sonnenlicht tanzen jetzt Schatten durch sein Sichtfeld. Er versucht, sie wegzublinzeln, während er sein Sakko an den Garderobenhaken hängt. Als er sich ein wenig zu schnell die Schuhe von den Füßen tritt, stolpert er über einen Schuhlöffel, der auf dem Läufer liegt. Gerade noch rechtzeitig kann er sich am Türrahmen festhalten, sodass er nicht hinfällt, doch die ruckartige Bewegung fährt ihm in die Schulter, und er macht seinem Unmut und Schmerz lautstark Luft.
Er bleibt noch kurz im Flur stehen, massiert sich die schmerzende Schulter, drückt dann den Rücken durch und blinzelt erneut. Langsam verziehen sich die Flecken vor seinen Augen, und die Dunkelheit zerstreut sich. Vidar lässt den Blick durch den Flur schweifen und hat kaum festgestellt, dass er fast wieder normal sehen kann, als ihm etwas am Eingangsbereich komisch vorkommt. Knapp über Augenhöhe, direkt unter der Stelle, an der sonst die Flurlampe hängt, hängen stattdessen zwei Damenschuhe. Rote, teure Sandalen mit geflochtenen Riemchen über zwei zierlichen Fußrücken.
Erst begreift Vidar nicht, was er vor sich hat. Die Füße bewegen sich nicht. Mit angehaltenem Atem versucht er, was er sieht, zu verdauen. Sein Blick ist wie erstarrt, als hätten die Augen längst eingesehen, was das Gehirn noch nicht verarbeiten will.
Langsam sieht er nach oben. Sein Blick streift die roten Schuhe, die Knöchel, die dünnen Schienbeine und blassen Schenkel, dann denn Rocksaum. In seinem Ohr beginnt es zu schrillen. Der Pfeifton wird im selben Maß lauter, in dem Vidars Blick weiter emporwandert.
Auf dem blauen Stoff sind bräunliche Flecken. Wie wenn ein Auto durch eine Pfütze pflügt und Wasser aufspritzt. Zwischen dem Schmutzwasser entdeckt er zudem rote Flecken.
Die Hände sind über dem Unterbauch verschränkt. Wie zum Gebet gefaltet. Über dem Rock folgt eine dünne weiße Bluse. Um den Hals liegt ein lose geknotetes blaues Tuch – und darüber befindet sich ein lebloses Gesicht. Eine dunkle Strähne hat sich aus dem Zopf im Nacken gelöst und fällt über die bleiche Wange, die am Morgen noch herrlich sommergebräunt war.
Dieses Gefühl wird ihm bleiben.
Diese Verblüffung – wie schnell eine sonnengeküsste Wange bleich werden kann.
Die Frau, die dort von der Decke hängt, ist tot. Auf dem Flur ist es mucksmäuschenstill, doch in seinem Ohr schrillt es weiter. Ein ums andere Mal klappt Vidar verstört den Mund auf und wieder zu, und er muss sich am Türrahmen festhalten, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Er weiß nicht, ob er noch atmet, glaubt es aber nicht. Er weiß nur noch, dass die Frau an der Decke nie mehr zurückkommt.
Dann überrollt ihn die Panik wie eine Flutwelle. Es rauscht in seinem Kopf vor wortlosen Gedanken, er kann nichts mehr sortieren, und die Zeit rast und steht zugleich still. Er hebt die Hand, die unkontrolliert zittert, als er ihre Finger berührt und die Kälte der bleichen Haut spürt. Entsetzt zieht er die Hand zurück. Er hyperventiliert. Kurz darauf fangen seine Lippen und Finger an zu kribbeln.
Ungebremst fällt Vidar zu Boden. Es tut nicht mal weh, als er mit dem Kopf gegen den Türrahmen schlägt, im Großen und Ganzen spürt er gar nichts mehr.
Über ihm hängt seine geliebte Eva.