Es ist kurz nach vier Uhr in der Nacht, als Olle zu Hause vorfährt. Lovis liegt hellwach im Bett im ersten Stock. Sie ist außer sich vor Wut und Sorge, weiß jetzt aber zumindest, dass er nüchtern ist. Man kann Olle viel vorwerfen, aber er setzt sich nicht betrunken ans Steuer. Wenn er getrunken hätte, wäre er gelaufen oder hätte sich ein Taxi genommen. Dass er im eigenen Auto nach Hause kommt, bedeutet für Lovis, dass er keinen Tropfen angerührt hat. Eine Party kann es folglich nicht gewesen sein, weil er ebenso wenig, wie er betrunken fährt, bei Feiern nüchtern bleibt. Bliebe also die Frage, warum er jetzt erst nach Hause kommt.
Sie hört – wie so oft –, wie er auf der Veranda mit schnellen Tritten die Schuhe an der Fußmatte abstreift. Dann schiebt er den Schlüssel ins Schloss, macht die Haustür auf, betritt den Flur und macht die Tür leise wieder zu. Ein paar Sekunden verstreichen lautlos, bis im Bad Wasser rauscht. Kurz darauf hört sie die wohlvertrauten Schritte auf der Treppe.
Lovis zieht sich die Decke bis unters Kinn und kneift die Augen zu. Sie spürt mehr, als dass sie hört, wie er das Schlafzimmer betritt. Er bleibt noch kurz stehen. Lovis stellt sich vor, wie er sie ansieht und überlegt, ob sie schläft oder nicht. Sie rührt sich nicht und atmet so langsam, wie sie nur kann.
Wenig später hört sie, wie er sich auszieht und schließlich neben ihr unter die Decke kriecht. Sie ist zu wütend und zu erschöpft, um jetzt noch zu streiten. Olle darf auf keinen Fall merken, dass sie noch wach ist.
Doch wie es aussieht, hätte sie sich gar nicht anstrengen müssen, weil er zwei Minuten später tief und fest schläft. Sie selbst bleibt noch eine Weile wach liegen, bevor sie sich vorsichtig hochstemmt und die Beine über die Bettkante schiebt. Lautlos verlässt sie das Schlafzimmer. Das lange Nachthemd weht um ihre Beine. Auf leisen Sohlen schleicht sie über den oberen Flur und dann nach unten.
Im Erdgeschoss bleibt sie zunächst in der Diele stehen, ohne recht zu wissen, was sie dort will. Dann geht sie ins Bad, macht Licht und sieht sich um. Nichts in dem gefliesten Raum wirkt verändert. Die Badetücher hängen ordentlich über dem elektrischen Handtuchwärmer, der Badezimmerteppich liegt glatt auf den Fliesen, und Olles Zahnbürste steht neben ihrer eigenen im Zahnputzbecher. Alles sieht aus wie immer.
Sie knipst das Licht wieder aus und tritt hinaus in die Diele. Olles schwarze Halbschuhe stehen ordentlich aufgereiht neben ihren braunen Absatzschuhen. Am Garderobenhaken hängt die dünne Jacke, die ohne Futter, die mit der Reißverschluss-Innentasche. Lovis beugt sich vor und schiebt das Gesicht in den Stoff, inhaliert den Duft des Mannes, den sie so sehr geliebt hat. Sowie sie ihn riecht, zieht es im Unterleib. Vielleicht sind doch noch Gefühle übrig?
Sie geht zurück ins Bad. Macht das Licht wieder an, greift zu seiner Zahnbürste und hält sie sich an die Lippen. Sie ist trocken. Er hat sich die Zähne nicht geputzt.
Sie stellt die Zahnbürste zurück, schaltet das Licht aus und zieht die Badezimmertür hinter sich zu. Eilig, aber noch immer lautlos, nimmt sie zwei Stufen auf einmal und steht leicht außer Atem wieder im ersten Stock.
Sie schleicht zurück ins Schlafzimmer. Vor dem Bett bleibt sie stehen, sieht Olle an, der mit dem Gesicht zu ihr auf der Seite liegt. Er atmet tief. Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich bereits den Weg durch die Vorhänge und werfen Lichtstreifen auf Olles Stirn und Wange.
Mit pochendem Herzen geht Lovis in die Hocke, bis sie ihrem schlafenden Ehemann von Angesicht zu Angesicht gegenüberkauert. Er sieht aus wie ein Kind, hat den Mund leicht geöffnet, seine Unterlippe glänzt. Die Wangenmuskulatur ist entspannt, nur die Lider zucken hektisch. Er träumt.
Sie beugt sich so weit vor, dass ihr Mund fast sein Kinn berührt, und schnuppert an seinem Atem. Er ist warm und neutral. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürt sie eine unerklärliche Enttäuschung, ehe sie beschließt, es noch mal zu versuchen.
Diesmal wartet sie, bis er tief ausatmet, und atmet selbst tief durch die Nase ein. Das Ergebnis ist derart unerwartet, dass sie das Gleichgewicht verliert und hintüberkippt. Instinktiv reißt sie die Hände nach hinten, und es ist ein dumpfer Aufprall zu hören. Schockstarr bleibt sie auf dem kühlen Boden sitzen und sieht beunruhigt zu Olle. Doch der schläft weiter.
Langsam streckt sie die Beine aus. Mit den Fußspitzen zur Bettkante schiebt sie sich vorsichtig rückwärts, bis sie an der Schlafzimmerwand angelangt ist. Dort winkelt sie die Knie an, stützt die Ellenbogen auf und lässt den Kopf schwer gegen ihre Hände sinken.
Sie will eigentlich heulen, aber es kommen keine Tränen. Sie weiß nicht, ob es am Schock liegt oder an der Angst, dass sie ihn wecken könnte. In ihr herrscht ein Chaos, das vollkommen unerwartet für sie kommt. Ihre Beziehung läuft schon seit einiger Zeit nicht mehr rund und neigt sich zweifelsohne dem Ende entgegen – umso seltsamer, dass es sich derart niederschmetternd anfühlt. Wie eine Faust ballt sich die Trauer in ihrer Brust, und ein lähmendes Heulen bahnt sich erbarmungslos den Weg durch ihre Kehle. Sie will nur noch laut schreien, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht. Vielleicht ist es ja gar keine Trauer? Sondern Erniedrigung?
Noch während Lovis mit dem Kopf in Händen auf dem Schlafzimmerboden sitzt, stellt sie erschrocken fest, dass es ihr allen Ernstes lieber gewesen wäre, wenn er besoffen gefahren wäre. Da hätten sie sich wenigstens gemeinsam Hilfe holen können. Sie hätten Olle bei den Anonymen Alkoholikern anmelden oder Wunder was tun können. Aber gegen diesen Verrat gibt es keine Hilfe.
Olles Atem riecht nicht nach Alkohol. Er riecht nach nichts, was es in Flaschen zu kaufen gäbe.
Er riecht nach Möse.