Wie üblich macht Kommissar Anders Eriksson aus seinem Auftritt eine Riesensache. Obwohl er seit drei Jahren Iduns Vorgesetzter ist, hat sie sich nie daran gewöhnen können. Sie mag ihn in vielerlei Hinsicht, aber diese Auftritte sind schwer verdaulich.

Sie hört ihn von draußen laut husten, noch ehe die Tür aufgeht. Oder … aufgeht und aufgeht. Der Chef schiebt die Tür mittels Kehrseite auf: Von dem Zweimetermann taucht erst das Hinterteil auf, dann folgt eine halbe Drehung, damit er in Fahrtrichtung den Raum betreten kann. In der Hand hält er einen Becher mit Kaffee. Er schafft genau zwei Schritte, ehe die Tür hinter ihm so laut ins Schloss fällt, dass er vor Schreck zusammenzuckt. Sein Kaffee schwappt über und kleckert auf den Boden. Anders scheint es nicht einmal zu bemerken, zumindest macht er keinerlei Anstalten, die Spur, die er zieht, wieder aufzuwischen.

Beim Anblick von Idun und Calle hellt sich sein Gesicht auf.

»Was sehe ich denn da – meine zwei Lieblingskollegen! Wie gut, dass ihr da seid – von wegen Samstag und so!«

Aufrichtig erfreut zieht er die Augenbrauen hoch.

Calle ergreift sofort das Wort.

»Wir haben gerade schon über diesen Mist hier gesprochen. Den Dreckskerl schnappen wir uns.«

Anders schmatzt zufrieden. Weiter kommt er nicht, weil die Tür erneut aufgeht. Siv Liv ist da. Sie nickt knapp in die Runde und setzt sich auf den freien Platz gegenüber Idun.

Siv ist die einzige Zivilangestellte in der Abteilung. Sie ist das Bindeglied zwischen Polizeibehörde und Öffentlichkeit und hat von ihrem Arbeitsplatz am Eingang einen guten Überblick. Sie empfängt Besucher, bringt sie ins Büro des jeweiligen Ermittlers und bei Bedarf wieder zur Tür. Sie ist scharfsichtig wie ein Falke und wacht über – und überwacht auch mal – den Rest des Teams. Außerdem ist sie Iduns Lieblingskollegin. Für ihren Job brennt sie ebenso sehr wie für Recht und Gesetz und Gesetzeshüter, hält sich dabei jedoch nicht immer sklavisch an die Vorschriften in der leicht schwerfälligen Behörde. Und obwohl Siv keine polizeiliche Ausbildung hat, ist sie eindeutig diejenige, die von ihnen allen am besten Bescheid weiß.

Konzentriert sitzt sie Idun gegenüber, schlägt einen der schwarzen Hefter auf und ergreift wie selbstverständlich das Wort. Niemand, nicht einmal der Chef, scheint es im Geringsten komisch zu finden, dass die einzige Zivilistin, die an der Besprechung teilnimmt, die Führung übernimmt.

Siv räuspert sich und setzt die Brille auf, die sie sich in die Stirn geschoben hatte. Ihre kurzen Haare stehen in Richtung Zimmerdecke ab.

»Ich habe euch das bisschen kopiert, was wir bislang über den Fall wissen. Liegt alles in diesen Heftern – bitte, einer für jeden von euch. Wir haben einen knappen und ziemlich groben Zeitablauf, die Personendaten von Eva Vendel und Ehemann Vidar – identischer Familienname. Es liegt auch ein erster Überblick über die Spurenlage bei. Malmen hat alles, was er hatte, zusammengestellt. Bislang keine Auffälligkeiten, nur eine Menge Fingerabdrücke im ganzen Haus. Leider haben wir in unserer Datenbank keinen Treffer erzielt. Es fehlen Blutspuren, und Malmen zufolge lässt sich dieser Umstand nur dadurch erklären, dass der Täter gründlich hinter sich hergeputzt hat. Und weil das Opfer überdies am helllichten Tag im Haus erhängt wurde, heißt das für uns: Wir gehen derzeit davon aus, dass das Wohnhaus der Tatort ist. Allerdings ist das nicht in Stein gemeißelt. Die Lampe, die an der Decke hing, ist verschwunden, und unverhoffte DNA-Spuren gibt es zurzeit ebenso wenig, aber die Techniker suchen weiter. Außerdem warten wir noch auf den Obduktionsbericht. Auch wenn die Moritz ganz gern ein ordentliches Tempo vorlegt, dauert es sicherlich einige Tage. Immerhin ist heute Samstag.«

Siv beugt sich vor und sieht über den Rand ihrer Brille zu Anders. Ihr Schweigen ist das wortlose Signal an ihn, dass er übernehmen soll.

Der Leiter der Mordkommission räuspert sich lautstark.

»Tja, dann … Wir wissen also bislang, dass es sich bei der Toten um Eva Vendel handelt, wohnhaft in demselben Einfamilienhaus, in dem sie tot aufgefunden wurde. Verheiratet mit Vidar Vendel, Stiefmutter von Nadja, Vidars leiblicher Tochter, die … inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt ist.«

Für Letzteres muss er erst durch sein Exemplar von Sivs schwarzen Heftern blättern. Er fährt sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und nickt Siv zu, was sie sofort richtig versteht.

»So ist es. Eva Vendel selbst – geborene Stenberg – wurde achtundvierzig Jahre alt. Sie war, wie gesagt, mit Vidar verheiratet. Keine eigenen Kinder. Seit zwölf Jahren Patchworkmama von Nadja, der leiblichen Tochter ihres Ehemanns, die heute fünfundzwanzig geworden ist. Nadja studiert Jura an der Uni in Luleå. Die Mutter starb an Krebs, als Nadja zehn Jahre alt war. Eva wiederum hat sich vor zehn Jahren von ihrem Ex scheiden lassen, der in Piteå wohnt – ein gewisser Jan-Olov Bergdahl, vierundfünfzig. Der hat ebenfalls wieder geheiratet, keine Kinder. Er dürfte natürlich von Interesse sein, auch wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte haben, dass er mit dem Mord zu tun haben könnte. Er ist ein paarmal geblitzt worden, ansonsten nicht vorbestraft.«

Als Siv kurz Luft holt, entsteht eine Pause. Idun nutzt die Gelegenheit, um eine Zwischenfrage zu stellen.

»Dann hat sich Eva vor zehn Jahren scheiden lassen, war aber zwölf Jahre lang Nadjas Stiefmutter? Das heißt, sie war noch mit diesem Jan-Olov verheiratet, als sie schon mit Vidar zusammen war. Ist das korrekt?«

Siv sieht Idun konzentriert an und nickt fast militärisch knapp.

»Das ist korrekt. Ich bin selbst sofort hellhörig geworden und habe es deshalb gleich doppelt überprüft. Zwei Jahre bevor die Scheidung von Jan-Olov rechtskräftig war, ist Eva mit Vidar zusammengezogen, auch wenn es komisch klingt, aber was weiß denn ich? Heutzutage kann man anscheinend mit einem verheiratet sein und mit dem anderen zusammenwohnen. Für den modernen Beziehungsmenschen ist jede Konstellation möglich.«

Ihr Tonfall lässt eindeutig darauf schließen, dass sie gegen weniger klassische Liebesbeziehungen gewisse Vorbehalte hat. Die eher konservative Einstellung der Kollegin ist Idun herzlich egal, und immerhin hat auch sie selbst bei der Sache gestutzt: Mit dem neuen Partner zusammenzuziehen, sich aber erst zwei Jahre später vom alten scheiden zu lassen – ist das nicht wirklich ein bisschen seltsam?

»Evas Vater ist noch am Leben«, fährt Siv unterdessen fort. »Åke Stenberg, ebenfalls wohnhaft in Piteå, allerdings in einem Seniorenheim. Keine Ahnung, in welcher Verfassung er ist – er ist immerhin stolze sechsundneunzig. Hoffen wir mal, dass er rüstig genug ist, dass wir ihn befragen können.«

Calle reißt die Arme hoch. Anders, der mit hektischen Bewegungen offenbar nicht umgehen kann, zuckt heftig zusammen.

»Also, ich weiß nicht, ob ihm das zu wünschen ist … Für den Alten ist es doch bestimmt am besten, wenn er so dement ist, dass er sich an eine Tochter nicht mehr erinnert. Wie verdammt lustig ist es denn bitte zu hören, dass sie ermordet und aufgehängt wurde wie die Jesusversion am Fleischerhaken? Und auch selbst jeden Moment damit rechnen zu müssen, ins Gras zu beißen?«

Es ist nicht zu überhören, dass Calle empört ist, was eher die Regel als eine Ausnahme ist. Siv bedenkt ihn mit einem stoischen Blick. Idun hingegen ist überrascht, dass der unbeherrschte Ausbruch des Kollegen für eine gewisse Fürsorge spricht. Nach all den Jahren in ihrem Beruf weiß sie nur zu gut, dass mit das Schlimmste, was einem passieren kann, der Tod des eigenen Kindes ist. Sein Kind obendrein durch Mord zu verlieren macht es, sofern das überhaupt möglich ist, nur noch viel schlimmer. Calle hat nicht ganz unrecht, auch wenn er es nicht sehr charmant formuliert hat.

Siv nimmt den Faden wieder auf.

»Eva war Lehrerin an einer Privatschule in Boden. Ich habe noch nicht herausfinden können, wo sie früher gearbeitet hat, aber die aktuelle Stelle hatte sie seit fünfzehn Jahren. Keine Geschwister, besaß die Hälfte des gemeinsamen Hauses, keine weiteren Immobilien. That’s it für den Moment.«

Sie schlägt den Hefter zu und legt ihn demonstrativ vor sich auf den Tisch. Alles, was Siv derzeit über Eva Vendel weiß, wissen die anderen am Tisch jetzt auch.

Anders richtet sich gerade auf.

»Idun leitet die Voruntersuchung, aber wie immer arbeiten wir im Team.«

Idun und Calle nicken.

»Zuallererst müssen wir uns ein Bild von Eva Vendel als Person machen und in Erfahrung bringen, was sie in den Stunden vor ihrem Tod getan hat. Dabei könnte alles wichtig sein: Wo war sie? Warum? Und mit wem? Dann wäre natürlich auch interessant, ob sie eventuell mit jemandem Streit hatte – ihr wisst schon: die berühmten potenziellen Feinde.«

Ihr Vorgesetzter grinst so breit, dass Idun schon glaubt, ihm müssten jeden Moment die Zähne ausfallen. Niemand grinst zurück.

Calle verschränkt die Hände im Nacken. Seine muskulösen Arme bilden zwei spitze Winkel. Mit dem tätowierten Ellbogen streift er fast Iduns Gesicht.

»Mit Blick auf die Statistik war der Ehemann der Übeltäter.«

Niemand sagt etwas. Alle am Tisch wissen, dass Calle recht hat.

»Idun und Calle, ihr fahrt zurück zum Haus der Vendels und seht euch dort noch mal um. Die Spurensicherung ist inzwischen fertig, oder, Siv?«

»Japp. Allerdings ist das Haus für weitere Untersuchungen versiegelt.«

»Gut. Dann sehen wir doch mal, was die Obduktion ergibt. Bis dahin geht ihr bitte das direkte Umfeld durch: den Ehemann, klar. Und die Stieftochter. Bringt in Erfahrung, wie sie zu Eva stand. Ihr sprecht mit dem gesamten Umfeld – in erster Linie mit Vidar und Nadja, aber auch mit Nachbarn und Bekannten. Man weiß nie, ob nicht irgendwer etwas gesehen oder gehört hat und wo ein denkbares Motiv lauert.«

Er nimmt einen Schluck Kaffee. Nach seiner Grimasse zu urteilen ist der Kaffee kalt geworden und schmeckt nicht mehr.

»Also dann«, sagt er, als er wieder halbwegs normal dreinblickt, »legen wir los.«