Idun fährt an den Straßenrand und stellt den Motor ab. Dann beugt sie sich vor zur Windschutzscheibe, um das Haus des Ehepaars Vendel besser sehen zu können. Strahlend gelb und mit großen Fenstern thront es inmitten des weitläufigen Rasens. In der Augustsonne sieht die Fassade fast selbstleuchtend aus. Eine akkurat gestutzte Hecke säumt das Grundstück, und das Tüpfelchen auf dem i sind die kugelrunden Büsche entlang der Auffahrt.

Vor der Hecke stehen in einem Halbkreis ein paar Grabkerzen. Daneben liegen Blumen und Trauerkarten. Zwei Frauen sind vor dem improvisierten Mahnmal stehen geblieben, neigen die Köpfe und scheinen sich gedämpft zu unterhalten.

Calle sieht an Idun vorbei durchs Seitenfenster. Er ist nonstop auf der Jagd nach Verdächtigen, schießt es ihr durch den Kopf – und prompt hat er einen erspäht.

»Da steht jemand.«

Idun folgt Calles Fingerzeig, und er hat recht: Ein gutes Stück hinter den Frauen auf der anderen Straßenseite steht ein Mann und hält sich die Hand über die Augen, damit ihn die Sonne nicht blendet. Er versucht eindeutig, hoch zum Haus der Vendels zu sehen.

Calle steigt zuerst aus. So wie er sich bewegt, weiß Idun genau, dass er nur noch auf den Mann auf dem Gehweg fokussiert ist. Sie flucht in sich hinein und löst den Sicherheitsgurt. Binnen weniger Sekunden ist sie ebenfalls ausgestiegen und hat Calle eingeholt, kurz bevor er bei dem Mann angekommen ist, aber dass er ihn anspricht, kann sie nicht mehr verhindern.

»Calle Brandt, guten Tag. Darf ich fragen, was Sie hier machen?«

Aus dem Augenwinkel sieht Idun, dass die zwei Frauen den barschen Polizisten interessiert beobachten. Sie ballt die Faust in der Tasche.

Der Mann auf dem Gehweg sieht sie überrascht an. Er ist groß, steht kerzengerade da, und für sein Alter – Idun tippt auf Ende vierzig – sieht er athletisch aus. Ein feinmaschiges Netz aus Fältchen überzieht sein Gesicht. Rund um die Augen sind es besonders viele. Jemand, der viel lacht, denkt sich Idun.

Der Mann sieht Calle offen an.

»Guten Tag. Ich heiße Samuel. Kann ich etwas für Sie tun?«

Idun könnte nicht sagen, ob es der aufrichtig freundliche Tonfall oder etwas anderes ist, was Calle derart aus der Fassung bringt. Sie packt die Gelegenheit beim Schopfe.

»Ich heiße Idun Lind, und das hier ist mein Kollege Calle Brandt. Wir sind von der Polizei.«

Sie zeigt flüchtig auf Calle und gibt sich alle Mühe, entspannt zu klingen. Die beiden Frauen bei den Grablichtern haben sich inzwischen zu dem Trio umgedreht und hören ungeniert zu.

»Suchen Sie hier was Bestimmtes?«

Calle klingt schnippisch. Der Mann, der sich ihnen als Samuel vorgestellt hat, lächelt weiterhin freundlich.

»Nicht so richtig … Ich missioniere in der Gegend, aber jetzt bin ich gerade an dieser Straße vorbeigekommen und wollte für die Vendels eine Kerze anzünden.«

Calle kneift leicht die Augen zusammen.

»Dann ist eine der Kerzen von Ihnen?«

Samuel zuckt mit den Schultern. Er lächelt immer noch.

»Ich habe es mir anders überlegt – es ist einfach zu warm, da entsteht schnell mal ein Feuer, und das will ich natürlich nicht riskieren. Was da passiert ist, ist so unfassbar – die Hinterbliebenen haben mein Mitgefühl. Gott segne die Familie.«

Er sieht ehrlich betrübt aus.

»Sie missionieren?«

Samuel späht zu den Frauen neben den Grablichtern.

»Ich bin Zeuge Jehovas. Ein Bruder und ich missionieren in diesem Wohngebiet. Wir sind zutiefst betroffen von dem, was passiert ist, und wollen den Bewohnern gern anbieten, gemeinsam Texte über Trauer und Trost zu lesen.«

Die Frauen kommen auf sie zugeschlendert und gehen direkt hinter Idun und Calle vorbei. Eine von ihnen nickt zum Gruß. Samuel lächelt und grüßt zurück. Idun sieht ihnen nach, bis sie hinter der nächsten Hecke verschwinden. Die beiden waren für die Sommerhitze ziemlich warm angezogen.

Calle neigt den Kopf leicht zur Seite und sieht Samuel misstrauisch an.

»Jehova, sagen Sie … Haben Sie und Ihr Kumpel vielleicht auch gestern zu Gott und Jesus missioniert?«

Idun unterdrückt einen Seufzer. Gleichzeitig lässt sie Samuel nicht aus den Augen. Wenn er am Tag des Mordes in der Gegend war, besteht immerhin die Möglichkeit, dass er eine interessante Beobachtung gemacht hat.

Samuel scheint über Calles schroffen Ton hinwegzuhören, zumindest erweckt er nicht den Anschein, es ihm übel zu nehmen. Stattdessen sieht er erneut betrübt zum Haus der Vendels.

»Ja, das haben wir tatsächlich.«

Ein Flämmchen Hoffnung flackert in Idun auf, doch dann spricht der Mann weiter.

»Allerdings nicht hier im Viertel. Wir sind eine große Gemeinde, sind aber auch für ein ziemlich großes Einzugsgebiet verantwortlich. Üblicherweise vergehen zwischen Besuchen in ein und demselben Viertel mehrere Monate, daher kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Zuletzt war ich im Frühling in dieser Straße. Mitte Mai, wenn ich nicht völlig falschliege.«

Idun achtet genau darauf, wie er spricht. Er klingt aufrichtig.

»Waren Sie auch bei Familie Vendel?«

Wieder das betrübte Lächeln.

»Früher, ja. Mit der Dame des Hauses haben wir uns mehrmals unterhalten. Aber das letzte Mal ist schon ein gutes halbes Jahr her.«

Seine Stimme ist tief und selbstsicher. Möglicherweise gibt es dieses Unterdrückungsregime, von dem man immer hört, gar nicht überall.

»Als wir sie zuletzt besucht haben – das muss irgendwann kurz nach Weihnachten gewesen sein –, hat ihr Mann zu uns gesagt, wir wären nicht mehr willkommen.«

Er sagt es, ohne mit der Wimper zu zucken. Idun ahnt, dass er es gewohnt ist, abgewiesen zu werden.

»Er war ziemlich deutlich. Und weil seine Frau ein Stück hinter ihm stand und gelächelt hat, haben wir angenommen, dass sie sich in der Sache einig waren. Für einige reichen ein paar Gespräche über Jehova aus, und sie sind glücklich. Zumindest sehen wir es gern so.«

»Missionieren Sie immer zu zweit?«

Samuel nickt.

»Aber heute sind Sie allein.«

Er nickt abermals.

»Ich habe heute frei, aber ich musste einfach vorbeikommen. Was da passiert ist, ist einfach nur schrecklich. Zeitgleich mit mir kam eine Familie mit Kindern. Wir haben uns eine Weile über das Unfassbare unterhalten.«

»Die Familie kannten Sie aber nicht?«

»Nein. Leider.«

Idun bedankt sich für das Gespräch und überreicht ihm ihre Visitenkarte.

»Wenn Ihnen oder einem anderen Gemeindemitglied noch etwas einfällt, wären wir dankbar, wenn Sie sich melden könnten. Ganz egal, was – ob es Ihnen wichtig erscheint oder auch nicht.«

Samuel nimmt ihre Karte entgegen und betrachtet sie nachdenklich, ehe er sie in seine Jackentasche schiebt.

»Wie können wir Sie erreichen, wenn wir weitere Fragen hätten?«

»Im Königreichssaal in Boden. Ich arbeite dort im Wachdienst und bin so gut wie täglich da.«

»Eine Meldeadresse haben Sie nicht?«

Calle klingt unüberhörbar skeptisch.

»Nein. Habe ich nicht.«

Er sagt es, als wäre es das Normalste der Welt. Idun erkundigt sich nach der Anschrift der Gemeinde und macht sich eine Notiz.

Sie und Calle bleiben auf dem Gehweg stehen, als der große Mann die Straße hangabwärts schlendert. Zu den Zeugen zu gehören muss schwierig sein, denkt Idun. Sie hat so eine Ahnung, wie unbeliebt sie gemeinhin sind, wenn sie mit ihren gefühlt unendlichen Geschichten von Gott umherziehen. Ihre jüngere Schwester Mika ist Religionswissenschaftlerin und hat einmal von der Organisation erzählt, von den Anforderungen an die Mitglieder und von den Strukturen der Unterdrückung. Dass sie in der restlichen Gesellschaft mehr oder weniger unerwünscht sind, macht das Leben für sie bestimmt nicht leichter.

Sie reißt den Blick von Samuel los und dreht sich zu Calle um.

»Also. Gehen wir erst ins Haus, oder reden wir mit den Nachbarn?«

Calle spuckt seinen Kautabak aus.

»Wir nehmen die Nachbarn. Ich rede lieber, als dass ich bloß glotze.«