Boden 1975 

Das Licht ist grau, diesig, sieht schmutzig aus. Wie ein Schleier liegt es über dem Areal, und sogar das Gras wirkt gräulich. Der Himmel ist eine einzige unförmige, vernebelte Masse, die selbst abseits der Schleier kaum noch an Blau erinnert.

Viola friert. Die kalte Luft auf dem Friedhof zieht ihr um die Beine und unter den dünnen Mantel. Sie legt den gestrickten Schal enger um den Hals und späht abermals zum schmutzgrauen Himmel empor. Wenn sie so darüber nachdenkt, passt dieses gedämpfte Licht ganz gut zu einem Tag wie diesen. Ein Nebelkleid für ihr trauerndes Ich. Ein grauer Schleier über ihrem grauen Gemüt. Das Ganze fühlt sich irgendwie dramatisch an – als hätten Natur und Trauer sich in schwermütigem Einvernehmen zusammengetan.

Das einzig Bemerkenswerte ist, dass sie von allen hier die Einzige zu sein scheint, die tatsächlich trauert. Niemand sonst wirkt auch nur annähernd betrübt. Schon in der kleinen Kirche hat sie es bemerkt: Nur ihr liefen Tränen übers Gesicht, nur ihr hat sich der Hals zugeschnürt. Sie saß zwischen ihrer Mutter und ihrer großen Schwester Rita und fühlte sich wie ein Sonderling. Sie war die Einzige, die weinte, die Einzige, deren Schultern bebten.

Ihre Mutter saß da wie versteinert. Ihr Blick war zu Boden gerichtet und schien nicht ansatzweise wahrzunehmen, was um sie herum vor sich ging. Der Pfarrer predigte, las aus der Bibel, segnete Papa, auf dass er in Frieden ruhe, doch Mama schien es nicht zu hören, und selbst wenn, dann erweckte sie nicht den Eindruck, als würde sie hinhören. Sie zeigte keinerlei Regung, nicht mal, als der Pfarrer den Trauergottesdienst beendete und die wenigen Gäste aufforderte, in Frieden zu gehen. Mama stand bloß schwerfällig auf und wandte sich zum Ausgang. Den Sarg bedachte sie mit keinem Blick.

Bei Rita lag die Sache anders. Zunächst einmal wirkte sie ebenso wenig traurig wie Mama, aber wenigstens halbwegs geistesgegenwärtig – wenn auch irgendwie gleichgültig. Während der Pfarrer sprach, saß sie zurückgelehnt in der Kirchenbank, hatte den Arm über die schmerzhaft gerade Rückenlehne gelegt und sah den Pfarrer schräg von der Seite an. Ab und zu gähnte sie – immerhin lautlos –, aber sie riss den Mund dabei so weit auf, dass Viola ihr bis in den Rachen sehen konnte, samt Backenzähnen und Gaumensegel. Rita strahlte einfach nur Langeweile aus.

Der graue Nebel, der den Friedhof einhüllt, ist regelrecht einschläfernd. Neben Viola steht ihre Mutter. Sie trägt ihr schwarzes Kleid – das langärmelige, hochgeschlossene. Auch die Lederstiefel sind schwarz, vorn an den Zehen abgestoßen, das Haar hat sie sich zu einem Knoten gezwirbelt. Sie ist wie sonst auch ungeschminkt. Die Wangen sind blass und sehen aufgeschwemmt aus, der Blick ist glasig, die Lippen presst sie zusammen. Tatsächlich sieht sie irre traurig aus, auch wenn sie nicht weint. Und plötzlich ist Viola verwirrt. Wo war diese Traurigkeit in der Kirche?

Unter dem linken Auge schimmert die dünne Haut gräulich gelb. Viola weiß, dass die Färbung von einem verheilenden Hämatom herrührt. Verlegen wendet sie sich ab und sieht Rita an. In ihrer schwarzen Anzughose, dem weißen T-Shirt und dem offenen Sakko sieht sie eher aus, als hätte sie sich für eine Party angezogen, nicht für eine Beerdigung. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist Rita stark geschminkt: Die Augen sind kohlschwarz, die Lippen dunkelrot. Einen Mantel trägt sie nicht, trotzdem sieht sie nicht aus, als würde sie frieren.

Violas Schwester hat sich um Regeln nie geschert. Normalerweise liebt Viola sie heiß und innig, aber ausgerechnet heute fühlt es sich einfach nur anstrengend an. Weil dies hier für Rita kein Moment der Trauer ist. Was sie betrifft, ist der Tod ihres Vaters das Beste, was ihnen je widerfahren ist. Viola weiß das und kann es teils sogar nachvollziehen, aber dass Rita es allen unter die Nase reibt, ist eine andere Sache. Auch wenn »alle« heute nur wenige sind.

Der Pfarrer liest noch etwas aus seiner abgegriffenen Bibel und nimmt dann ein Schäufelchen von einem Ständer am Grab. Er wirft dreimal lockere Erde auf Papas braunen Sarg.

»Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. Gott, unser Herr, empfange unseren geliebten Jan-Ivar und lass ihn in dein Himmelreich eintreten.«

Viola weint.

Rita schnaubt.

Mama verzieht keine Miene.