Der Kallax Airport ist ein graues Gebäude mit dreckigen Fenstern inmitten einer Riesenmenge Asphalt. Irgendein kleinmütiger Optimist hat versucht, den Anblick durch Petunien in großen Kübeln an den Eingängen aufzuhübschen, aber die armen Blumen sind in den kühlen Herbstnächten bereits eingeknickt.
Rita steht vor dem Eingang und raucht. Als sie ausatmet, bilden sich zwei wabernde Ringe, die gen Himmel schweben und sich in der diesigen Luft auflösen. Viola steht neben ihr. Schweigend wartet sie darauf, dass Rita fertig geraucht hat, auch wenn ihr lieber wäre, wenn die Zigarette nie zu Ende ginge. Lieber würde sie für den Rest ihres Lebens hier draußen stehen, als zu tun, was sie gleich tun wird.
Irgendwann ist Rita so weit.
»Scheiße, ist das kalt!«
Sie zieht sich den Kragen bis unters Kinn und stampft missmutig auf der Stelle. Viola weiß nicht, was sie erwidern soll. Der Kloß in ihrem Hals wird sekündlich größer. Er ist da, seit sie Papa beerdigt haben, und jetzt schwillt er abermals an, dass es fast wehtut. Sie weiß, dass es die Trauer ist, nur weiß sie nicht, wie sie die je wieder loswird, und weder Mama noch Rita wollen davon etwas hören. Sie wollen nicht hören, wie Viola um einen Vater weint, den niemand sonst zu betrauern scheint. Es ist schon bemerkenswert. Gewisse Menschen scheinen einfach nicht imstande zu sein zu vergeben.
Rita hustet und dreht sich um – so abrupt, dass Viola zusammenzuckt. Dann betritt Rita so schnell das Gebäude, dass Viola sich erst verwirrt umsieht, ehe sie ihr hinterherläuft. Ihre Beine eilen wie von selbst durch den großen Eingang, während in ihrem Kopf eine Stimme schreit, dass sie stehen bleiben soll. Das Herz hämmert in ihrer Brust, und ihr Hals tut so weh, als würde er jeden Moment bersten.
Rita steuert den Check-in an. Eine Frau mit gelblichem Haar und einer riesigen Menge Make-up im Gesicht sitzt hinter dem Schalter. Sie strahlt wie die Sonne, als Rita auf sie zutritt. Wenn sie es sich nur anders überlegen könnte … Wenn sie nur bleiben würde …
»Hallooo!«
Die geschminkte Frau klingt, als würde sie nach langer Zeit eine alte Freundin wiedersehen. Rita sieht sie verächtlich an.
»Sie verreisen?«
Die Frau blinzelt Rita munter an, die ihrerseits vielsagend auf ihre Reisetasche hinabstarrt. Dass sie die Frage schwachsinnig findet, kann man ihr ansehen, doch die Frau am Schalter scheint gegen Feindseligkeit immun zu sein.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was wir da haben … Ein Gepäckstück, richtig?«
Sie klingt immer noch quietschvergnügt.
»Ja.«
Die Frau lächelt so breit, dass sich der rote Lippenstift aufhellt.
»Dann legen Sie die Tasche bitte aufs Band, damit ich das Schätzchen mit Namen und Flugnummer versehen kann.«
Rita stellt ihre Tasche auf das Gepäckband. Mit beiden Händen – die Fingernägel sind dunkelrot lackiert – legt die Frau einen breiten Klebestreifen um die Trageschlaufen. Anschließend drückt sie auf eine Taste, das Band setzt sich in Bewegung, und die Tasche verschwindet.
»Guten Flug!«
Sie klimpert fröhlich mit den Wimpern. Statt zu antworten, dreht Rita sich zu den Gates um und geht. Viola lächelt verlegen und nickt der geschminkten Frau zu, ehe sie Rita abermals hinterherläuft.
»Jetzt warte doch mal!«
Sie hört selbst, wie verzweifelt sie klingt, und ist gleichermaßen beschämt und traurig. Und allmählich steigt Panik in ihr auf.
Rita wird langsamer, aber erst als Viola zu ihr aufgeschlossen hat und sie am Arm berührt, bleibt sie wirklich stehen. Ihr Blick ist hart. Da ist keinerlei Freundlichkeit zu spüren, keine Traurigkeit, keine Wut. Das alles ist so grässlich, dass Viola heulen könnte, trotzdem reißt sie sich zusammen. Die beiden Schwestern stehen einander schweigend gegenüber. Um sie herum sind Menschen auf dem Weg irgendwohin oder zurück nach Hause. Viola weiß nicht, was sie noch sagen soll, während Rita ihrerseits überhaupt nichts zu sagen hat.
»Musst du wirklich weg?«, wispert Viola.
Rita schweigt.
»Ich will nicht, dass du fliegst.«
Ihr kommen die Tränen. Betreten blinzelt Viola sie weg. Rita starrt sie an, und dann ganz plötzlich und ohne Vorwarnung verändert sich etwas in ihrem Blick. Sie holt tief Luft; es klingt fast wie ein umgekehrter Seufzer.
»Ich will weg. Und das solltest du auch wollen.«
Viola schüttelt den Kopf.
»Wenn du jetzt fliegst – wen hab ich dann noch?«
Trotzig reckt Rita das Kinn vor. Sie sieht vollkommen leidenschaftslos aus.
»Genau das ist doch das Problem, Viola. Du glaubst, dass du außer dir selbst irgendwen anderen bräuchtest – aber du brauchst niemanden.«
Viola rührt sich nicht.
»Du brauchst mich nicht«, fährt Rita fort, »du brauchst Mama nicht und erst recht nicht Papa. Du kommst wunderbar allein klar.«
Ganz unerwartet – und für sie gänzlich ungewohnt – lodert Wut in Viola auf.
»Du bist doch nur sauer auf Papa! Und auf Mama! Ich verstehe das ja, trotzdem müssen wir doch zusammenhalten! Wir sind doch eine Familie! Und jetzt haben wir Papas Haus und alles geerbt – wir beide. Können wir nicht versuchen, das gemütlich zu machen? Nur für uns zwei?«
Erneut kommen ihr Tränen. Diesmal blinzelt sie sie nicht weg, sondern lässt ihnen freien Lauf.
Rita seufzt.
»Ich bin sauer. Und zwar zu Recht. Sie waren als Eltern komplette Versager. All das, was Papa uns zugemutet hat – die Schläge, die Drohungen, der Hohn. Das verzeihe ich ihm nie, und ich verzeihe Mama nicht, dass sie zu alldem den Mund gehalten hat.«
Viola hört ihr zu, wenn auch unfreiwillig.
»Denn weißt du was, Viola? Ein Vater sollte seine Kinder nicht schlagen. Und wenn, dann sollte die Mutter sofort ihre Sachen packen. Mama hätte ihn im selben Moment verlassen müssen, als er zum ersten Mal zugeschlagen hat. Stattdessen hat sie sich entschlossen zu bleiben. Und ich habe nicht vor, ihr das zu verzeihen. Niemals.«
Sie hält kurz inne.
»Und von dem Haus will ich nichts mehr wissen. Das kannst du behalten oder anzünden – mir total egal.«
Inzwischen kann Viola die Schluchzer nicht mehr kontrollieren. Leute mit Reisegepäck gehen an ihr vorbei und sehen sie neugierig an. Aber Viola sind diese Leute egal. Sollen sie doch glotzen. Rita, ihre liebste Rita, will sie allein lassen. Es zerreißt ihr das Herz. Viola kriegt keine Luft mehr, weiß nicht mehr, wohin mit sich.
Rita steht ihr stumm gegenüber. Es dauert eine Weile, ehe Viola sich wieder beruhigt hat. Als sie das Wort ergreift, spricht sie so leise, dass niemand es hören kann – weil sie sich dafür schämt, weil sie sich mit jeder Faser im Leib dafür schämt.
»Ich weiß, dass er ein Schläger war. Aber das war doch nicht Mamas Schuld!«
Sie sieht, wie Ritas Nasenring vor Zorn zittert.
»Sag, dass es anders war, bitte …«
Viola klingt nur mehr verzweifelt.
Rita schluckt trocken. Dann macht sie einen kleinen Schritt auf sie zu, sodass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt sind.
Ihre Stimme trieft vor Verachtung.
»Da werden wir nie einer Meinung sein. Die Mutter, die bleibt, wenn das eigene Kind grün und blau geprügelt wird, ist genauso verantwortlich wie der Vater, der zuschlägt. So ist es nun mal. Erinnere dich eines Tages daran. Wenn du mal eigene Kinder hast, mit einem Mann, der sie schlägt, dann musst du ihn verlassen. Hörst du? Sonst bist du selbst nämlich genauso übel. Du und ich, wir wissen beide, dass Mamas Schweigen ein genauso großer Verrat an uns war wie die Schläge an sich.«
Dann dreht sie sich um und geht. Ihre Absätze klappern über den harten Bodenbelag.
Viola kann sich nicht von der Stelle rühren. Sie will Rita nachlaufen, will sie festhalten und umarmen und schreien, dass sie bleiben soll. Trotzdem steht sie wie angewurzelt da. Die Scham brennt in ihrer Brust. Tränen der Trauer laufen ihr übers Gesicht.
Weil Rita natürlich recht hat. Papa war ein Schläger, und Mama hat nichts dagegen getan. Aber das würde Viola niemals laut aussprechen.
Vielleicht hätte Viola sich anders verhalten, wenn sie gewusst hätte, dass dies ihre letzte Begegnung mit Rita war. Aber in diesem Moment weiß sie das noch nicht. Deshalb steht sie bloß stumm da, während Rita durch das Gate verschwindet.