Boden 1986 

Viola sitzt auf einer Parkbank am Spielplatz. Es ist die letzte Aprilwoche, bald schlagen die Bäume in hellgrüner Frühjahrspracht aus. Die letzten winterlichen Tage gehen in erste Frühlingstage über, aber noch liegen hier und da Schneereste an Stellen, wo viel Schatten ist. Es war ein langer, kalter Winter. Um Weihnachten herum ist das Thermometer auf unter minus dreißig Grad gefallen und blieb so für mehrere anstrengende Wochen, dann folgten zwei Monate, in denen alles vereist, kalt und dick verschneit war. Der nahende Frühling ist ohne den geringsten Zweifel von Herzen ersehnt.

Heute sind viele Mütter mit ihren Kindern auf den Spielplatz gekommen. Es ist früher Nachmittag, die älteren Kinder schaukeln und erklimmen das Klettergerüst oder spielen mit Eimer und Schaufel im Sand, die kleinsten schlafen im Kinderwagen, während die Mütter auf den Bänken sitzen, die über den Spielplatz verteilt stehen. Einige haben Thermoskannen dabei und bieten ringsum Kaffee und Milch aus kleinen Plastikfläschchen an.

Viola sitzt allein auf der Bank mit der morschen Rückenlehne. Es ist eine ihrer Lieblingsbänke, weil man hier die besten Chancen hat, von den anderen Spielplatzbesuchern in Frieden gelassen zu werden.

Ein Stück entfernt klettert Tommy gerade auf die Rutsche. Er ist inzwischen sechs und ein richtig mutiger Kerl. Er hat dichtes, dunkles Haar und einen intensiven Blick und sieht eindeutig aus wie Lars. Ihr geht das Herz auf, wenn sie den Jungen ansieht. Er ist eher still, nachdenklich und sehr wachsam. Er hört alles, sieht alles und grübelt viel über das Leben nach. Manchmal trifft Viola ihn in der Fensternische in der Küche an, wo er tief in Gedanken versunken ist. Vorsichtig fragt sie dann, was er gerade macht.

Fast immer lautet die Antwort: »Nachdenken.«

Ingrid, Tommys vierjährige kleine Schwester, sitzt ein paar Meter weiter. Viola nennt sie gern ihr »kleines Apfelmädchen«, was Tommy ungeheuer lustig findet. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hat Ingrid blonde Haare und blaue Augen und sieht aus wie eine Kopie von Viola. Als Charakter jedoch ist Ingrid fröhlich, ausgelassen, lacht gern und viel und stürzt sich neugierig auf alles und jeden. Violas Mutter hat einmal erwähnt, dass sie sie an die kleine Rita erinnert. Viola selbst kann sich an keine ausgelassene Rita erinnern. Aus ihrer Sicht war Rita als Kind überwiegend selbstbezogen und mürrisch.

Tommy johlt, als er die Rutsche hinunterschießt. Viola lächelt und hebt die Hand, um zu winken, doch die schmerzenden Rippen hindern sie daran. Es fühlt sich an, als würde ein Projektil ihren Brustkorb durchbohren und bis hoch in den Nacken ziehen. Fast wird ihr schwarz vor Augen. Sie stöhnt hörbar auf, reißt sich aber sofort zusammen, damit es niemand hört.

Vorsichtig nimmt sie die Hand wieder herunter und atmet gleichzeitig langsam aus. Am besten fühlt sie sich, wenn die Lunge völlig entleert ist, da ist der Brustkorb am wenigsten voll und der Druck auf die Rippen am erträglichsten. Zugleich weiß sie aus Erfahrung, dass sie nicht zu lange mit dem nächsten Atemzug warten darf. Es geht so schnell, dass der Körper nach Sauerstoff schreit, und wenn der darauffolgende Atemzug zu tief geht, sind die Schmerzen so schlimm, dass es kaum auszuhalten ist. Einmal ist ihr das beim Einkaufen passiert, da hat sie zu lange gewartet, nachdem sie ausgeatmet hatte. Als ihr Körper sie nötigte, tief einzuatmen, ging es zu schnell, und der Schmerz ist schier explodiert. Viola wurde ohnmächtig, stürzte ins Zeitungsregal und handelte sich einen bösen Schmiss an der Stirn ein. Das Personal rief den Notarzt, der sie ins Ärztehaus brachte, wo eine Krankenschwester die Wunde mit drei Stichen vernähte. All das führte dazu, dass Viola zu spät nach Hause kam und nicht mehr rechtzeitig mit dem Abendessen fertig war. Seinen Unmut darüber ließ Lars sie drei ewige Tage lang spüren und bescherte Viola überdies eine aufgeplatzte Lippe, einen ausgeschlagenen Zahn und ein blaues Auge, das noch wochenlang gelb-lila schimmerte. Seither passt Viola gut auf, dass sie nicht mehr tief Luft holt.

Ingrid läuft auf sie zu. Viola beugt sich nach unten und streicht ihrer Tochter sanft übers Haar. Die Kleine streckt die Hände aus, die sie um irgendetwas geschlossen hat.

»Mein kleines Apfelmädchen, was hast du denn Spannendes gefunden?«

Langsam nimmt Ingrid die Hände auseinander, damit Viola den Stein sehen kann. Sie mustert ihn interessiert und sieht dann Ingrid an.

»Was für ein bildschöner Stein! Was willst du denn mit dem machen?«

Ingrid antwortet nicht. Stattdessen betrachtet sie ihren Stein eingehend.

Tommy kommt ebenfalls über den Sand gelaufen. Er hat verschwitzte Haare und leuchtend rote Wangen.

»Hast du das gesehen, Mama? Hast du gesehen, wie schnell ich gerutscht bin?«

Er ist kurz davor hinzufallen, kann sich aber im letzten Moment an der Banklehne festhalten und bleibt auf den Beinen.

»Hast du gesehen, wie schnell ich war? Der Schnellste von allen! Ich bin ein Superheld!«

Viola muss lachen, was nicht mehr gar so sehr wehtut. Mit den Kindern zusammen zu sein ist das beste Schmerzmittel.

»Klar hab ich es gesehen. Schnell wie Schießmunition warst du, ein echter Superheld!«

Sie muss sich zusammenreißen, um sich nicht hinabzubeugen und ihn zu umarmen. Er steht ein Stück zu weit weg, als dass ihre Rippen es mitmachen würden, wenn sie sich so weit ausstreckt. Stattdessen erhebt sie die Hände zu einer zaghaften Siegesgeste.

»Was hast du denn da?«

Jetzt hat auch Tommy Ingrids Stein entdeckt. Ingrid merkt zunächst gar nicht, dass er mit ihr spricht.

»Was hast du da in der Hand?«

Tommy geht einen Schritt auf sie zu. Ingrid ist derart mit ihrem Stein beschäftigt, dass sie ihren Bruder immer noch nicht bemerkt hat. Viola muss vermitteln.

»Ingrid, Schätzchen, hast du gehört, dass Tommy dich etwas gefragt hat?«

Endlich merkt Ingrid auf. Verwirrt blickt sie hoch und sieht Tommy an. Sie kann das S noch nicht aussprechen, trotzdem weiß ihr großer Bruder natürlich, was sie meint.

»Ein Tein.«

Sie streckt die Hand aus, um ihm ihren fabelhaften Fund zu zeigen, doch Tommys Interesse lässt sofort nach.

»Der ist doch viel zu klein.«

Das ärgert sie.

»Gar nicht wahr.«

Tommy schnaubt, sagt aber nichts mehr. Viola kann ihm die Unzufriedenheit deutlich ansehen.

»Was meinst du denn damit, Liebling? Wofür ist Ingrids Stein viel zu klein?«

Tommy zuckt mit den Schultern.

»Ist einfach so.«

»Gar nicht!«

»Wohl!«

»Nein!«

Ingrid ist aufgebracht. Abwechselnd ballt und öffnet sie die Faust. Tommy sieht sie genervt an, und Viola versucht zu verstehen, was gerade vor sich geht.

»Wofür ist der Stein zu klein?«

Tommy drillt die Fußspitze in den Sand.

»Erzähl Mama, was los ist. Ingrid mag ihren Stein sehr – sie findet ihn schön und ist traurig, wenn du zu ihr sagst, dass er zu klein ist. Wofür ist er zu klein?«

Ingrid verzieht schon den Mund. Verärgert sieht Tommy erst seine Schwester und dann seine Mutter an.

»Er ist zu klein, um damit zu schlagen.«

Viola ist konsterniert. Ein wenig zu schnell richtet sie sich auf, die Schmerzen im Brustkorb lodern mit Wucht auf, und sie beißt die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Auf ihrer Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie Tommy sie anstarrt. Sie nötigt sich zu einem Lächeln.

»Aber Liebling, du weißt doch, dass man sich nicht schlagen darf. Wen willst du denn mit einem Stein schlagen?«

Ihr sechsjähriger Sohn blinzelt. Als er antwortet, spricht er so leise, dass sie zunächst nicht sicher ist, ob sie es richtig verstanden hat. Doch als sie die Entschlossenheit in seinem Blick sieht, ist ihr klar, dass er es wirklich gesagt hat.

»Papa. Ich will Papa schlagen.«