Svetlana Moritz wäscht sich sorgfältig die Hände. Die sterile Seife riecht streng, und ihre Augen brennen, als ihr der warme Wasserdampf ins Gesicht steigt. In der Facharztausbildung hat ihr Chef behauptet, mit der Zeit würde sie sich daran gewöhnen, aber das trifft nicht zu. Das Scharfe, Chemische irritiert sie tagtäglich von Neuem. Wenigstens hat sie sich inzwischen damit abgefunden, dass sie sich nicht daran gewöhnen kann. Ein kleiner Trost. »Sei dankbar für die Sonne, solange sie scheint«, hat ihre Mutter immer gesagt, als sie sich in den letzten Sowjetjahren nichts als Kohl leisten konnten.
Die braune Doppeltür schwingt auf. Warme Luft strömt vom Flur herein. Svetlana spült die Seifenreste von den Händen und trocknet sich mit ein paar Papierhandtüchern ab, bevor sie aufblickt. Erst jetzt sieht sie, dass es zwei Besucher sind. Idun Lind und Calle Brandt.
Svetlana kennt die beiden und würde sogar fast behaupten, dass sie sie mag. Deshalb lässt sie sich auch zu dem nettesten Gesichtsausdruck hinreißen, den sie sich im beruflichen Zusammenhang erlaubt: ein vages, kaum erkennbares Lächeln.
»Idun und Calle … Willkommen in meiner bescheidenen Hütte.«
Sie hat einen russischen Akzent, den sie auch nie hat verheimlichen wollen. Sie ist stolz auf das, was sie ist, und auf das, was sie war. Ihr Heimatland trägt sie im Herzen, auch wenn ihr schmerzhaft bewusst ist, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren darf.
»Danke, Svetlana.«
Idun klingt zurückhaltend erwartungsvoll. Svetlana weiß, dass das bevorstehende Gespräch für die Arbeit der beiden wesentlich ist. Calle schweigt wie üblich.
Sie streckt sich nach dem Regalbrett über dem Waschbecken aus und zieht Handschuhe hervor: zwei Paar in Größe Medium und ein Paar in Größe Large. Die großen gibt sie Calle, Idun bekommt mittelgroße Handschuhe. Dann wendet sie sich dem Edelstahltisch in der Mitte des Raumes zu. Die beiden Ermittler folgen ihr. Die Rechtsmedizinerin legt beide Hände flach auf die kühle Oberfläche des Sektionstisches, und Idun und Calle stellen sich ihr gegenüber. Es ist die immer gleiche Prozedur: Svetlana auf der einen und die beiden auf der anderen Seite. Die Seiten unterscheiden sich in einem nicht unwichtigen Detail: Neben Idun und Calle steht ein Edelstahleimer auf dem Fußboden. Seit ihrem ersten Arbeitstag macht Svetlana Besuchern deutlich, dass sie an ihrem Arbeitsplatz kein Erbrochenes auf dem Boden sehen will. Wer kotzen muss, kotzt in den Eimer. Wer das nicht schafft, putzt.
Die Deckenlampe taucht den Tisch in klinisches Licht. Vor ihnen liegt – ebenfalls in kaltweißes Licht getaucht – Eva Vendel. Sie ist entkleidet worden und sehr blass. Über der bleichen Haut sieht die Schambehaarung tiefschwarz aus. Die Lippen sind blau, allerdings heller als der breite violette Streifen um ihren Hals.
Idun und Calle nehmen die Tote schweigend in Augenschein. Svetlana hingegen lässt die zwei Ermittler nicht aus den Augen. Das Schweigen hält auffällig lange an, und erst als Idun den Blick von Eva losreißt und zu Svetlana sieht, ergreift diese das Wort.
»Es liegen noch nicht alle Laboranalysen vor, sodass ich bislang nur ein vorläufiges Ergebnis für euch habe, aber dass das Opfer durch Fremdverschulden umgekommen ist, steht außer Zweifel. Allerdings habt ihr euch das vielleicht schon ausgerechnet?«
Weder Idun noch Calle antworten, genau wie Svetlana es am liebsten hat.
»Eva Vendel wurde erstickt. Erdrosselt, um genau zu sein, mit einem Seil, das ihr mit einigem Kraftaufwand um den Hals geschnürt wurde. Das Hämatom könnt ihr dort sehen.«
Sie zeigt auf den Hals, und ja, das schwarzviolette Band ist deutlich zu erkennen.
»Was von besonderem Interesse sein dürfte, ist der Umstand, dass sie erdrosselt wurde, bevor sie an der Decke aufgeknüpft wurde.«
Sie verspürt ein fast triumphales Ziehen im Bauch, als sowohl Idun als auch Calle wie erwartet zusammenzucken. Sie lässt einen Moment verstreichen. Sie hat schon immer gern andere überrascht. Ihre eigenen Gefühle hält sie im Zaum, doch sie liebt es, anderen Menschen Gefühle zu entlocken.
»Du willst damit sagen, sie war bereits tot, als sie aufgehängt wurde?«
Idun klingt genauso verdattert, wie sie aussieht. Svetlana verzieht den Mund, nickt theatralisch und zelebriert den Augenblick, indem sie auf Russisch antwortet.
»Da.«
Sie blickt hinab auf Eva Vendels Hals.
»Man kann es am kaum vorhandenen Winkel sehen, in dem das Seil um ihren Hals lag. Bei jemandem, der erhängt wird, verläuft das Seil an der Seite, wo es an der Decke befestigt wird, wesentlich steiler. In aller Regel ist dies im Nacken der Fall – da sieht es dann aus wie ein Pfeil, der über die Haut nach oben in die Richtung verläuft, in die das Seil gezogen wird. Aber hier? Nichts dergleichen. Das Hämatom verläuft in einem fast ebenmäßigen Kreis um den Hals.«
Idun und Calle beugen sich vor, um sich Eva Vendels Nacken anzusehen. Der Kopf ruht auf einer Art Kissen aus Kunststoff, sodass sie die Rückseite des Halses betrachten können. Genau wie Svetlana gesagt hat, verläuft die schwarzviolette Spur einmal gleichmäßig rundherum.
Erst als sie sich wieder aufgerichtet haben, fährt Svetlana fort.
»Wenn ihr euch jetzt die Vorderseite anseht, dann ist zu erkennen, dass sich das Hämatom über der Kehle verbreitert.«
Mit der Spitze eines Kugelschreibers beschreibt sie über dem Kehlkopf einen Kreis. Tatsächlich ist das Hämatom dort deutlich breiter – als würde der Streifen über der Haut einen Knoten aufweisen. Es sieht fast aus, als trüge Eva ein Kropfband mit Anhänger ein Stück über der Drosselgrube, wo das Hämatom eher einem verschmierten Fleck gleicht.
Calle neigt den Kopf zur Seite und sieht Svetlana an.
»Und was sagt uns das?«
Seine Stimme klingt heiser vor Aufregung. Erneut zieht Svetlana den Moment in die Länge.
»Für mich spricht das dafür, dass sie auf dem Rücken lag, als sie erdrosselt wurde. Der Täter hat ihr das Seil um den Hals gelegt und nach vorn zugezogen. Das Seil hat sich hier an der Vorderseite gekreuzt, genau über der Kehle. Die breite Verfärbung weist darauf hin, dass hauptsächlich dort Druck ausgeübt wurde – genau da, wo das Seil sich gekreuzt hat. An dieser Stelle wird es härter und breiter, weil zwei Stränge auf die Haut eingewirkt haben, mit zweifacher Kraft.«
Sie gönnt sich erneut eine Kunstpause.
»Außerdem weist das Opfer eine Vielzahl von Petechien auf – ihr wisst schon, die winzigen Einblutungen, die man unter anderem im Augenbereich sieht, aber auch in der Mundschleimhaut. Winzige Kapillarblutungen, die entstehen, wenn viel Druck auf den Kopf ausgeübt und die Blutzufuhr unterbrochen wird. Die Mundhöhle zeige ich euch später.«
Idun beugt sich nach vorn, um sich Eva Vendels Hals anzusehen. Sie macht ein paar langsame Schritte in Richtung Fußende, lässt aus nächster Nähe den Blick über Evas Gesicht, Hals, den Brustkorb, Bauch und Beine schweifen. Svetlana ahnt, dass Idun über etwas nachdenkt, und wartet geduldig.
Auf Höhe von Evas Bauch bleibt sie stehen.
»Und die schwarzen Metallpunkte auf den Händen?«
Sie richtet sich wieder gerade auf und massiert sich mit geballten Fäusten den unteren Rücken.
»Nägel. Zwei ordentlich dicke Nägel. Allerdings hat unser Opfer Glück im Unglück gehabt, wenn man so sagen will. Die Nägel sind ihr erst nach Eintritt des Todes durch die Hände geschlagen worden.«
Idun rümpft die Nase.
»Aber wenn die Nägel erst eingeschlagen wurden, als sie schon tot war, wie kann sie dann so stark geblutet haben? Was da über den Rock gelaufen ist, war eine ganze Menge. Blut gerinnt doch, sobald der Tod eingetreten ist?«
Svetlana schnaubt leise. Betont langsam stemmt sie die Hände in die Hüften. So sieht sie selbstgefällig aus, und Idun weiß, dass genau das auch die Absicht hinter der Geste ist.
»Ich muss es jetzt einfach sagen: Was für ein dummer Mythos!«
Wenn Idun die Rechtsmedizinerin nicht halbwegs sympathisch finden würde, hätte sie es ihr vielleicht krummgenommen. Doch weil sie ihr sympathisch ist, begnügt Idun sich mit einem überraschten: »Ach?«
Die russischstämmige Medizinerin schürzt die Lippen.
»Blut hört erst mehrere Sekunden nach Eintritt des Todes auf zu zirkulieren. Man kann also noch ordentlich weiterbluten, auch wenn das Herz nicht mehr schlägt. Bloß in Filmen hört es in derselben Sekunde auf, in der das Opfer stirbt.«
Calle pfeift leise durch die Zähne, und Idun dämmert, dass sie nicht die Einzige ist, der diese Information neu ist.
»Irgendwann setzt die Gerinnung dann natürlich ein – alles eine Frage der Zeit. Ich schätze, sie ist nur Sekunden nach Eintritt des Todes aufgehängt worden. Das Gleiche gilt für die Nägel. Deshalb konnte noch so viel Blut über den Rock laufen. Aber irgendwann war damit Schluss, klar.«
»Irgendwelche Anzeichen von Gewalt? Sexueller Natur? Oder von körperlicher Misshandlung vor Eintritt des Todes?«
Svetlana schüttelt den Kopf.
»Keine sexuelle Gewalt, und ich kann auch keine Hinweise auf eine andersgeartete Misshandlung finden. Was wirklich bemerkenswert ist. Das Opfer scheint sich in keiner Weise verteidigt zu haben. In Fällen von Strangulation kommt es sehr selten vor, dass keine Abwehrhandlung erfolgt. Denn glaubt mir, das ist eine sehr unschöne Art zu sterben.«
Sie klingt grimmig.
»Das Opfer lag auf dem Rücken, als es erdrosselt wurde, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Frau auch nur versucht hätte, sich zu befreien. Die meisten wehren sich auf die eine oder andere Weise, zumindest solange sie bei Bewusstsein sind. Nun liegen die Ergebnisse aus dem Labor noch nicht vor, deshalb wissen wir nicht, ob unser Opfer vorab betäubt wurde, aber ich habe nirgends den Einstich einer Spritze gefunden, insofern halte ich das für eher unwahrscheinlich. Es gab keine Tablettenrückstände im Magen, und auch die Schnelltests haben fürs Erste nichts ergeben. Warten wir trotzdem die finalen Ergebnisse ab. Erst dann können wir uns ganz sicher sein.«
Calle verschränkt die Arme vor der Brust.
»Komisch, dass sie sich nicht verteidigt hat.«
»Mhm, finde ich auch. Jemand, der keine Luft mehr bekommt, schlägt und tritt normalerweise wild um sich, beißt und kratzt – aber nichts dergleichen ist hier der Fall. Sie hat keine Kratzer auf den Fingerknöcheln, keine Hautschüppchen unter den Fingernägeln. Das hat mich überrascht und ist … wie sagt man … ungewöhnlich, auf jeden Fall.«
Idun runzelt die Stirn, während sie versucht zu verarbeiten, was die Rechtsmedizinerin ihnen soeben eröffnet hat.
»Sie hat sich gar nicht gewehrt? Kein bisschen?«
»Nein.«
»Könnte der Täter die Fingernägel sauber gemacht haben?«
Idun hört selbst, wie banal die Frage klingt, aber sie muss sie trotzdem stellen.
»Nein. Andere Spuren habe ich nämlich gefunden: Erde. Pflanzenfasern und Torf. Ich nehme an, dass sie ihren letzten Tag zum Teil im Garten verbracht hat, zumindest den Vortag. Die Nägel wurden jedenfalls von niemandem, der Spuren beseitigen wollte, sauber gemacht, so viel kann ich mit Gewissheit sagen. Sie hat sich ganz einfach nicht verteidigt. Und nein« – sie hebt beide Hände – »ihr braucht gar nicht erst zu fragen, ob der Mörder die Erde im Nachhinein unter die Nägel verbracht hat. Ich weiß, dass sich die Drehbuchautoren dieser beliebten Polizeiserie mal so was in der Art für eine Folge ausgedacht haben. Aber in Wahrheit ist so etwas relativ einfach festzustellen. Man kann Pflanzensporen gut datieren. Unser Opfer hat innerhalb der letzten zwölf bis achtundvierzig Stunden vor Eintritt des Todes im Garten gearbeitet. Die Frage, die ihr euch vielmehr stellen solltet, ist, warum sie sich nicht verteidigt hat.«
Kurz herrscht Schweigen.
»Dann wissen wir also«, fasst Idun zusammen, »dass Eva Vendel erdrosselt wurde. Sie stand aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unter Einfluss von Betäubungsmitteln, zumindest nicht unter Einfluss eines Medikaments, das injiziert oder in Form von Tabletten verabreicht worden wäre. Aber diesbezüglich warten wir auf die finalen Ergebnisse aus dem Labor. Sie lag auf dem Rücken, als sie gestorben ist, und hat sich gegen ihren Angreifer nicht gewehrt. Anschließend wurde sie aufgehängt, die Hände wurden mit zwei Nägeln fixiert, Letzteres kurz nach Eintritt des Todes.«
Svetlana wiegt den Kopf hin und her – eine merkwürdige Geste, besonders angesichts der selbstsicheren Erwiderung.
»Da.«
Idun und Calle nicken einhellig.
»Eins solltet ihr noch wissen.«
Der russische Akzent wird plötzlich stärker.
»Euer Opfer hatte keine Gebärmutter mehr.«
Idun kneift die Augen zusammen.
»Sie war … sterilisiert?«
»Es heißt Hysterektomie. Und es scheint eine Not-OP gewesen zu sein. Die Narbe verläuft senkrecht und ist richtig hässlich – das muss unter Zeitdruck passiert sein.«
»Unter Zeitdruck?«
Idun wirft einen neuerlichen Blick auf Eva Vendels flachen Bauch. Und richtig – dort verläuft eine blasse, aber immer noch sichtbare Narbe über die Haut.
»Ich habe ihre Krankenakte angefordert. Sie hat vor gut zwanzig Jahren eine Abtreibung vornehmen lassen. Der Arzt muss ein richtiger Pfuscher gewesen sein, weil bei der Ausschabung Teile des Embryos zurückblieben. Die Gebärmutter hat sich dann so schlimm entzündet, dass sie nicht mehr zu retten war. Sie ist von innen heraus verwest – ganz buchstäblich.«
Calle rümpft angeekelt die Nase. Idun indessen verspürt ein Ziehen im Hals.
»Dann war Eva schwanger, hat abgetrieben und hat kurz darauf die Gebärmutter entnommen bekommen? Weil der Arzt gepfuscht hat?«
Svetlana sagt zwar nichts, aber die Antwort liegt auf der Hand.
»Schickst du uns den Krankenbericht?«
»Hast du schon per E-Mail gekriegt.«
Eine Weile stehen sie schweigend beieinander, bis irgendwann allen klar ist, dass es fürs Erste nichts mehr zu besprechen gibt. Doch bevor sie gehen, kann Idun nicht umhin, Eva Vendels unschönes Ende zu kommentieren.
»Was für ein schrecklicher Tod. Auf dem Rücken liegend erstickt zu werden, ohne sich dagegen zu wehren, und dann in den eigenen vier Wänden aufgehängt und mit Nägeln durchbohrt zu werden. Die Arme.«
Statt einer Antwort atmet Svetlana hörbar ein und seufzt. Calle ist schon auf dem Weg nach draußen.