Mittwoch, 26. August

Idun sitzt mit dem Laptop am Küchentisch. Es ist jetzt halb sieben. Sie hat den Obduktionsbericht zweimal gelesen, ohne auf irgendein nennenswertes Detail zu stoßen – abgesehen von den Fakten, die Svetlana ihnen tags zuvor bereits dargelegt hat. Das Ganze schlägt Idun aufs Gemüt. Sie hat gehofft, etwas Aufsehenerregendes zu entdecken, was ihnen zumindest eine neue Richtung gewiesen hätte.

Sie seufzt. Sie sollte eine Pause einlegen und eine Runde mit dem Staubsauger drehen. Die Wohnung hätte es bitter nötig, überall Chaos, die ordentliche Mika würde in Ohnmacht fallen, wenn sie das hier zu Gesicht bekäme.

Zwei dumpfe Klopfer reißen sie aus den Gedanken. Sie spitzt die Ohren. Kam das von der Tür? Sie lehnt sich zurück und lauscht in Richtung Flur. Tatsächlich ist das Klopfen an der Wohnungstür so eindeutig besser zu hören.

Sie zieht sich den Morgenmantel enger um den Leib und geht hinaus in den Flur. Dort zieht sie die Sicherheitskette ab, schließt auf und öffnet die Tür. Aus dem Treppenhaus weht kühle Luft herein, die sich an den Knöcheln unangenehm anfühlt.

Vor ihr steht eine Frau, die Idun noch nie gesehen hat – sie ist kaum älter als sie selbst, eine hübsche, niedliche Erscheinung. Sie hat sich die blonden Locken im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihn sich locker über die Schulter gelegt. Freundliches Gesicht, klarblaue Augen und ein Mund, der so nett lächelt, dass Idun das Lächeln instinktiv erwidert.

»Hej?«

Es klingt wie eine Frage.

Die Frau sieht Idun aus ihren kornblumenblauen Augen an.

»Hej.«

Das Schweigen zieht sich in die Länge. Idun tritt von einem Fuß auf den anderen, lächelt noch immer, aber allmählich schleicht sich ein Runzeln auf ihre Stirn, was die Frau anscheinend bemerkt.

»Ja, also … Entschuldigung, dass ich so früh störe, aber ich habe gerade bei meinem Morgenspaziergang gesehen, dass bei dir Licht brennt, und … ich wollte mich gern bei dir vorstellen.«

Sie streckt Idun die Hand entgegen. Sie ist trocken und kühl, als die beiden sich die Hand schütteln.

»Ich bin die neue Nachbarin. Die so viel gehämmert und Lärm gemacht hat, dass du davon bestimmt schon verrückt geworden bist.«

Sie hebt zu einem perlenden Lachen an, das durchs Treppenhaus hallt. Allein das bringt auch Idun zum Lachen.

»Mal ernsthaft … Ich verstehe schon, dass ich dich damit wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben habe. Bitte entschuldige!«

Sie starrt betreten den Boden an. Schlagartig ist Idun verlegen.

»Nein, also … Macht doch nichts. So schlimm war es doch gar nicht.«

Die Lüge ist einfach nur durchsichtig. Am liebsten würde Idun es zurücknehmen. Als die neue Nachbarin sie wieder ansieht, merkt Idun ihr an, dass sie es ihr ihrerseits anmerkt. Ihr steht der Zweifel deutlich, wenn auch leicht amüsiert ins Gesicht geschrieben.

»Also, es war nicht wahnsinnig schlimm, hat vielleicht ein klein bisschen gestört … keine Ahnung …«

Sie hört selbst, wie albern sie klingt.

»Jetzt machst du auf nette Nachbarin – was ich sehr zu schätzen weiß!«

Sie hält beide Hände hoch, um zu signalisieren, dass sie es ehrlich meint.

»Aber als Wiedergutmachung würde ich dich gern zum Essen einladen. Und ein Nein wird nicht akzeptiert. Du bestimmst, wann – außer gleich heute. Und ich hoffe, du bist nicht gegen Fisch allergisch, weil ich dann nämlich nicht wüsste, was ich kochen sollte.«

Wieder dieses Lachen. Das perlende.

Erst will Idun aus reiner Gewohnheit ablehnen. Neue Bekanntschaften zu schließen gehört nicht zu ihren Stärken, und Small Talk mit Leuten, die sie kaum kennt, liegt ihr nicht. Die einzige Ausnahme ist ihre Arbeit. Da kann sie mit wem immer reden, wann immer und über jedwedes Thema, ohne dass es ihr im Geringsten schwerfiele – was ein großes Plus ist, weil sie in ihrem Beruf als Ermittlerin ständig mit Leuten reden muss. Aber komisch ist es schon, wie groß der Unterschied zwischen Beruf- und Privatleben sein kann.

Spontan will Idun so etwas sagen wie: Ist doch nicht nötig. So sehr hat der Lärm nicht gestört, sie könnten ja auch so freundschaftlich miteinander umgehen. Doch dann sieht sie in diese schelmisch blauen Augen und ahnt echte Ehrlichkeit, und gleichzeitig fallen ihr Mikas Tiraden ein, dass sie ein anderes Leben leben soll, nicht ausschließlich nur für den Job. Und zu ihrer eigenen Überraschung ist da auch eine unverhoffte Neugier.

»Ein Abendessen wäre total nett.«

Sie weicht dem Blick der Frau aus, bis ihr einfällt, was sie noch sagen kann.

»Es ist nur so, dass ich ziemlich viel arbeite, und ich weiß nie genau, wann Feierabend ist. Aber wie wäre es am … Montag?«

Die Frau strahlt sie an. Der lockige Pferdeschwanz tanzt ihr über die Schulter, als sie begeistert nickt.

»Montag ist perfekt! Ich bringe das Essen mit und komme rüber. Bei mir ist totales Chaos, weil ich immer noch mitten in der Renovierung stecke.«

Sie lacht erneut, und diesmal hat sich ihr Hals leicht gerötet.

»Es gibt Fischgratin. Ein Rezept von mir. Wenn es nicht schmeckt, machst du einfach gute Miene zum bösen Spiel und tust so, als ob. Oder bestellst dir Pizza, sobald ich wieder weg bin. Normalerweise bleibe ich auch nicht bis spät in der Nacht.«

Und dann hallt das Treppenhaus abermals von ihrem perlenden Lachen wider. Idun gefällt es.

»Sagen wir, um sieben? Das wird supernett! Und wie schön, dass ich mich nach den letzten Tagen endlich bei dir entschuldigen konnte.«

Dann dreht sie sich um und geht auf ihre Wohnungstür zu. Weil sie Wand an Wand wohnen, sind es nur ein paar Schritte. Sie legt die Hand an die Klinke und dreht sich noch einmal zu Idun um.

»Marie.«

Idun sieht sie verwirrt an, woraufhin das Lachen ein letztes Mal ertönt.

»So heiße ich. Marie.«

Sie zwinkert Idun zu, die nicht mehr antworten kann, ehe die neue Nachbarin auch schon durch ihre Tür geschlüpft und verschwunden ist.