Boden 1988 

Viola stellt zwei Kaffeetassen und das Milchkännchen bereit, ehe sie zurück zum Herd eilt. Ihre Hände sind schon klebrig vom Schweiß. Es geht ihr schlecht, am liebsten würde sie sich hinlegen. Die Frau am Küchentisch sieht nett aus. Sie hat einen freundlichen, kein bisschen kritischen oder ermahnenden Blick, und sie klang ehrlich erfreut, als sie zu einer Tasse Kaffee Ja gesagt hat. Trotzdem fühlt sich Viola bedroht. Allein die Anwesenheit dieser Frau fühlt sich nach Kontrolle an. Und realistisch betrachtet, ist sie auch genau deshalb gekommen – um zu kontrollieren, ob Viola als Mutter funktioniert. Genau das sagt die Berufsbezeichnung der Frau, die sich zwar vorgestellt hat, als sie kam, deren Namen Viola jedoch sofort wieder vergessen hat.

Der Kaffeekessel pfeift. Viola dreht die Herdplatte ab, nimmt die Kanne und geht zurück zum Tisch. Vorsichtig befüllt sie die Tasse der Kontrolleurin, macht sie gut halb voll, damit noch Milch hineinpasst, sofern sie Milch will. Die Frau bedankt sich mit einem freundlichen Lächeln. Viola lächelt nicht zurück. Stattdessen gießt sie sich selbst Kaffee ein, stellt die Kanne auf den gehäkelten Topflappen und setzt sich. Eigentlich trinkt sie ihren Kaffee nie schwarz, aber ihre Hände zittern zu sehr, um nach dem Milchkännchen zu greifen. Die Kontrolleurin würde nur sehen, wie nervös Viola ist, und das will sie unter keinen Umständen.

»Ich dachte mir, wir fangen mit einigen Fragen an. Wenn das für Sie in Ordnung wäre?«

Die Frau hat eine komische Stimme, tief und kratzig, sie klingt irgendwie heiser und kaputt. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie sie aussieht. Sie hat ein schmales Gesicht, das Haar ist schulterlang und glatt gekämmt. Die Fingernägel sind blassrosa lackiert, was zu dem dünnen Schal passt, den sie sich locker um den Hals geknotet hat. Es ist fast, als würde die kratzige Stimme sich an ihrer Persönlichkeit reiben, als würde sie in Wahrheit zu jemand anderem gehören.

Viola antwortet nicht auf die Frage. Sie will überhaupt keine Fragen beantworten und auch selbst keine stellen. Sie nimmt einen Schluck Kaffee. Ohne Milch schmeckt er fürchterlich bitter, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen, als sie schluckt. Die Kontrolleurin lächelt schon wieder. Auch sie nimmt einen Schluck und stellt dann vorsichtig die Tasse auf den Unterteller.

»Viola.«

Die heisere Stimme scheint an ihrer Kehle zu reißen.

»Ich bin nicht hier, weil ich Ihnen Böses will.«

Viola schluckt lautlos.

»Ich will nur Ihr Bestes. Das Beste für Sie und für Ihre Kinder. Ich frage mich, wie es Ihnen geht, und wenn es so sein sollte, dass es Verbesserungspotenzial gäbe, möchte ich Ihnen gern dazu verhelfen. Es ist mein Job zu helfen.«

Sie sieht aufrichtig aus, trotzdem schrillen bei Viola die Alarmglocken.

Sie starrt in ihre Tasse, ehe sie antwortet.

»Wir brauchen keine Hilfe. Es ist alles gut.«

Überrascht stellt sie fest, dass sie wie Rita klingt. Barsch und kurz angebunden. Rita fehlt ihr so sehr. Sie nimmt einen Schluck Kaffee.

Die Frau sieht sie eindringlich an.

»Vielleicht ein bisschen Milch?«

Sie nimmt das Milchkännchen hoch. Viola zögert.

»Ich kann es ja mal probieren. Wäre vielleicht gut.«

Die Frau gießt Milch in Violas Tasse. Eigentlich ist es zu wenig, aber jede noch so kleine Veränderung im Farbton kann nur besser sein als das bittere Schwarz.

Die Kontrolleurin sieht sich um.

»Ihre Küche ist wirklich gemütlich. Haben Sie sie eingerichtet?«

Verwirrt blickt Viola sich um. Es ist fast, als sähe sie ihre eigene Küche zum ersten Mal.

»Danke.«

Die Frau sieht ihr wieder in die Augen, und der Blick fühlt sich durchdringend an. Viola fühlt sich durchsichtig wie Plastikfolie.

»Wir machen es folgendermaßen. Ich stelle Ihnen ein paar Fragen, und Sie antworten mir, so gut es geht. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich bin auf Ihrer Seite.«

Wenn sie nur normal sprechen könnte …

Viola nickt und gibt sich alle Mühe, ihr Unwohlsein zu verhehlen.

Die Frau zieht einen Block aus der Handtasche. Sie schlägt das Deckblatt um, sodass die erste Seite sichtbar wird. Der Block ist jungfräulich.

»Sie leben hier zusammen mit Ihrem Ehemann, Lars, ist das richtig?«

Viola nickt.

»Und wie lange sind Sie schon verheiratet?«

»Im Herbst sind es neun Jahre.«

Die Frau schreibt es sich auf.

»Wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben?«

Viola hat Bauchschmerzen.

»Unsere Ehe?«

»Mhm. Wie geht es Ihnen, als Paar?«

Die Frage ist unangenehm. Sie geht direkt zur Sache, ist zu klar, zu deutlich, um sie misszuverstehen.

Viola legt die Hände in den Schoß. Sie zittern so sehr, dass der Hosenstoff über den Schenkeln vibriert.

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Ihr Mund ist wie ausgedörrt, und die Zunge scheint anzuschwellen.

»Ich frage mich, ob Sie sich zu Hause geborgen fühlen.«

Die heisere Stimme stellt die Frage so ruhig, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Für Viola jedoch ist es die komplizierteste Frage, die sie je gehört hat. Denn wie lügt man glaubwürdig in einer Sache, die nicht einmal in ihren Augen je wahr wäre?

Sie sieht aus dem Fenster. Ein Vogelschwarm hebt vom Rasen ab und verschwindet außer Sicht. Viola wünschte sich, sie könnte den Vögeln hinterherfliegen.

»Es geht uns gut.«

Die Lüge brennt im Mund. Viola will einfach nur noch, dass die Kontrolleurin geht. Doch die bleibt stumm sitzen. Die heisere Stimme hat noch mehr Fragen.

»Wir haben gewisse Hinweise bekommen, zwei anonyme Anzeigen, aber auch eine aus Tommys Schule. Seine Klassenlehrerin macht sich große Sorgen.«

Viola blinzelt.

»Warum sollte Tommys Lehrerin sich Sorgen über meine Ehe machen?«

Die Frau sieht Viola in die Augen. In ihren Blick hat sich Ernsthaftigkeit geschlichen.

»Weil es bei Tommy Anzeichen für Misshandlung gibt.«

Sie bringt kein Wort heraus. Was immer sie sagen könnte, wird erstickt. Sie weiß nicht, was sie erwidern soll, weiß nicht, wohin mit sich. Also sitzt sie stumm da. Sie sitzen beide stumm da.

Hinter Viola klopft es.

Überrascht dreht sie sich um. Es zieht am Becken. Sie weiß, es ist der riesige blaue Fleck auf ihrer Kehrseite, der wehtut. Ingrid steht in der Tür. Sie sieht beunruhigt aus. Viola kommt sich vor wie in einem Traum, der Raum bewegt sich, alles wird zäh und langsam.

»Hej, Liebling!«

Ihre Stimme kommt wie aus weiter Ferne. Am liebsten würde sie Ingrid zurück auf ihr Zimmer schicken. Violas geliebtes Apfelmädchen … Dieses Gespräch ist nicht für ihre Ohren bestimmt.

Doch Ingrid bleibt stehen. Sie scheint kurz zu stutzen, kommt dann aber näher und krabbelt auf Violas Schoß. Die Frau lächelt.

»Du musst Ingrid sein. Wie schön, dich kennenzulernen.«

Ingrid sieht sie misstrauisch an. Die Frau lächelt immer noch.

»Wie alt bist du denn?«

Ingrid hält die Hand hoch und spreizt die Finger.

»Fünf Jahre alt! Nicht schlecht!«

Jetzt breitet sich ein Lächeln auf Ingrids Gesicht aus.

»Mein Bruder ist schon sieben!«

Die Frau schnappt theatralisch nach Luft.

»Was? Ihr seid beide schon so groß?«

Ingrid lacht vergnügt. Viola spürt instinktiv, dass sie ihre Tochter von hier wegbringen muss.

»Ingrid, Schätzchen, lauf in dein Zimmer und spiel mit den Puppen, ich komme gleich nach. Wenn du lieb bist und spielen gehst, dann backen wir später zusammen einen Kuchen.«

Die Augen des Mädchens funkeln. Ohne ein weiteres Wort rutscht sie von Violas Schoß und läuft zur Treppe. Die Kontrolleurin folgt ihr mit dem Blick.

»Was für eine süße Tochter Sie haben!«

Viola sagt dazu nichts. Die Frau nimmt den letzten Schluck Kaffee und stellt lautlos die Tasse ab.

»Ich will Ihnen wirklich helfen. Ihnen und Ihren Kindern. Und auch Lars. Wenn wir vom Jugendamt gleich drei Mitteilungen von besorgten Erwachsenen kriegen, müssen wir aktiv werden. Ich bin auf Ihrer Seite, aber es würde mir wesentlich leichter fallen, wenn Sie mir Ihrerseits helfen würden – Sie verstehen, worauf ich hinauswill?«

Viola nickt stumm, obwohl sie gar nichts versteht.

»Ist Lars oft wütend auf Sie?«

Viola sehnt sich nach Rita. Es ist jetzt gut elf Jahre her, seit sie sich zuletzt gesehen haben. Oder miteinander gesprochen haben.

»Manchmal ist er wütend.«

Die Frau schreibt sich etwas auf.

»Wie wird er dann, wenn er wütend ist?«

Viola zaudert.

»Er wird … wütend.«

Sie weiß nicht, was von ihr erwartet wird. Denn wie bitte schön beschreibt man einen Zorn, der allen die Luft zum Atmen nimmt?

»Was tut er, wenn er wütend wird? Schreit er?«

Viola fühlt sich unerträglich einsam.

»Manchmal.«

»Schreien Sie dann zurück?«

»Niemals.«

Die Frau sieht Viola aufmerksam an.

»Warum nicht?«

Viola muss alle Kraft zusammennehmen, um antworten zu können.

»Weil ich nicht schreien mag.«

Wieder schreibt die Frau sich etwas auf. Viola wünschte sich, der Block würde in Flammen aufgehen und auf dem Tisch verbrennen.

»Wird er gewalttätig?«

Viola blinzelt.

»Sie meinen … verbal?«

Die Frau verzieht keine Miene.

»Ich meine, ob er Sie körperlich angeht. Verpasst er Ihnen Klapse oder Schläge? Zieht an Ihren Haaren? Spuckt Sie an?«

Viola will am liebsten losheulen, weiß nicht, wohin mit sich – was, wenn sie die Wahrheit sagt? Und was, wenn sie lügt?

Die Kontrolleurin schlägt den Block wieder zu, legt den Stift obenauf und beugt sich über den Tisch. Als sie erneut spricht, klingt sie viel leiser als zuvor. Fast als wollte sie flüstern.

»Es ist folgendermaßen, Viola. Ich kann Ihnen und den Kindern helfen, ob Sie mit mir reden wollen oder nicht. Und wenn es so ist, dass Sie hier zu Hause körperlicher Gewalt ausgesetzt sind, dann werde ich versuchen, Ihnen zu helfen, ganz egal, ob Ihnen das recht ist. Wenn Lars Sie oder die Kinder schlägt, dann ist das nicht Ihre Schuld. Es ist nie Ihre Schuld. Aber Sie als Mutter müssen mir helfen, wenn es wirklich so ist, dass der Vater die Kinder schlecht behandelt. Sie dürfen es ihm nicht auch noch erleichtern, dass Lars Sie alle schlägt. Sie müssen mir helfen, damit ich Ihnen helfen kann. Ihnen, Ingrid und Tommy.«

Viola geht es ganz schrecklich. Ihr kommen die Tränen, und diesmal kann sie sie nicht mehr zurückhalten. Es ist, als wäre ein Fluss in ihr über die Ufer getreten, ein aufgestauter Damm gebrochen, als würde es mit unaufhaltsamer Kraft aus ihr hinausströmen.

Wortlos öffnet die Frau ihre Handtasche, zieht ein Päckchen Taschentücher heraus und schiebt es über den Tisch. Dankbar nimmt Viola es entgegen. Es dauert eine Weile, ehe sie sich wieder so weit beruhigt hat, dass sie sprechen kann.

»Er schlägt uns nicht. Es macht mich unfassbar traurig, dass Sie mich so etwas fragen. Deshalb musste ich weinen.«

Ein Teil von ihr wünschte sich, sie hätte den Mut, die Wahrheit zu sagen, aber sie ist innerlich einfach nur erschöpft. Wegen allem. Am liebsten würde sie sich hinlegen und schlafen. Auf den Boden, unter den Tisch – ganz egal, wohin. Einfach nur die Augen zumachen, schlafen, für eine Weile weg sein.

Hinter ihr klopft es. Diesmal dreht Viola sich so schnell um, dass die Schmerzen mit voller Wucht auflodern. Unter der Haut fängt es an zu pulsieren. Erneut steht Ingrid in der Tür. Mit großen Augen sieht sie Viola an. Sie hat sich den Daumen in den Mund geschoben und lutscht hektisch daran.

Viola spürt, wie in ihr etwas zerbricht.

Ihr geliebtes Apfelmädchen hat nicht mehr Daumen gelutscht, seit es drei Jahre alt war.