Boden 1988 

Gun Eberdahl lehnt sich gegen die Küchenspüle. Der Bademantel ist über ihrem fülligen Leib locker geknotet, und das Haar steht ihr zu Berge, weil sie eben erst aufgestanden ist. Sie ist vor Müdigkeit noch ganz träge. Wieder war die Nacht viel zu kurz.

Auf der Küchenuhr ist es Viertel nach vier – unchristlich früh. Das oktoberbraune Gras hinter den schmutzigen Scheiben ist mit eisigem Raureif überzogen. Ab jetzt dürfte jederzeit der erste Schnee fallen.

Draußen frischt der Wind auf. Gun zieht den Bademantel enger und seufzt. Die Küche ist ausgekühlt. Nur widerwillig geht sie hinaus in den Flur und schlüpft in ihre Stiefel. Dann schiebt sie die Haustür auf. Kalte Luft schlägt ihr entgegen, und sie erschaudert, als sie über die Veranda huscht. Der Wind ist schneidig kalt, trägt Regen vor sich her, der sich anfühlt, als würde er von unten kommen. Obwohl ihr Bademantel knöchellang ist, werden ihre Beine nass. Als Gun auf den Holzschuppen zuläuft, platschen die Stiefel über die Erde. Sie muss achtgeben, dass sie nicht ausrutscht.

Sie zieht die windschiefe Tür zum Schuppen auf, macht einen langen Schritt über die Schwelle und kneift die Augen zusammen. Dann zieht sie die Tür hinter sich zu.

Es dauert einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und sie den Holzstapel vor sich sieht. Fröstelnd tappst sie darauf zu. Doch dann ist mitten im nächsten Schritt Schluss, sie stolpert nach vorn, kann nirgends mehr Halt finden, ihr entschlüpft ein erstickter Schrei, und sie kracht ungebremst gegen den Holzhaufen. Ein schmal zugehauenes Birkenscheit trifft sie über dem Auge, es tut sofort höllisch weh, und aus dem erstickten Schrei wird ein lautes Jaulen, das im selben Moment abbricht, als ihr schwerer Körper auf dem Boden aufschlägt.

Unwirtlich zieht es unter der Tür hindurch. Gefühlt minutenlang liegt sie auf dem gestampften Boden, bevor sie sich hochstemmen kann. Vorsichtig befühlt sie ihre Stirn und stöhnt laut auf, als die Finger die Platzwunde berühren. Blut sickert in den Augenwinkel, und sie versucht, das Schlimmste mit dem Bademantelärmel aufzutupfen. Sie zittert vor Kälte und vor Schreck, während sie endlich in die Hocke kommt, sich dann mit aller Kraft aufrappelt und die Beine durchdrückt. Sie presst die Hand an die Brust, um die Atmung wieder zu beruhigen. Das kann fürs Herz doch nicht gut sein, derart zu keuchen!

Erst jetzt fällt ihr wieder ein, dass sie über etwas gestolpert ist. Mit weichen Knien dreht sie sich langsam um, und bei dem Anblick erstarrt sie. Für den Bruchteil einer Sekunde spürt sie nicht mal mehr die Schmerzen in der Stirn. Sie spürt nicht, dass sie die Hand von der Wunde nimmt und das Blut erneut fließt.

Auf dem Boden liegt der Junge der Nachbarin, Tommy. Ein mageres Kerlchen von nicht mal zehn Jahren mit schmutzigen Klamotten und struppigem Haar. Er trägt einen Schlafanzug, der früher mal blau war, jetzt aber braun ist von Erde und Lehm. Zusammengekauert liegt er in Guns Holzschuppen auf dem gestampften Lehmboden auf der Seite und hat die Arme um die angezogenen Beine geschlungen.

Im ersten Moment könnte sie nicht einmal sagen, ob er noch lebt, doch dann sieht sie, wie sich der Brustkorb unter einem flachen Atemzug hebt. Es ist ein grässlicher Anblick. Auf der Stirn, direkt unter dem Haaransatz klafft eine hässliche Wunde, unverheilt, mit schwarzen Wundrändern. Gun hat von Medizin keine Ahnung, aber dass diese Wunde genäht werden muss, ist ihr klar.

Langsam geht sie wieder in die Hocke. Ihr tut alles weh. Der feuchte Wind zieht schmerzhaft um ihre nackten Beine. Behutsam streicht sie dem Jungen über den Kopf, gibt acht, dass sie die Wunde nicht berührt. Die Sorge kommt stoßweise, und ihr schwirrt der Kopf. Herzchen, was hat du durchgemacht?

Im selben Moment wird Tommy wach. Nicht mit einem Ruck, sondern eher, als hätte er lautlos Luft geholt. Weil er auf der Seite liegt, kann Gun nur ein Auge sehen, und das Lid flattert ein paarmal, bevor er es aufschlagen kann. Seine Atmung beschleunigt sich, und Gun wartet ab, während er versucht, in der dunklen Hütte das sichtbare Auge zu fokussieren.

Langsam, als hätte er schlimme Schmerzen im Hals, dreht er das Gesicht in Guns Richtung.

Als er es geschafft hat, sieht er sie mit abwesendem Blick an.

Gun schnappt ihrerseits nach Luft und weicht instinktiv zurück, schlägt die Hand vor den Mund und spürt, dass ihr gleich die Tränen kommen. Das andere Auge des Jungen ist so zugeschwollen, dass er es nicht einmal öffnen könnte, wenn er wollte. Drum herum der größte blaue Fleck, den Gun je gesehen hat. Das andere Auge sieht glasig aus. Verzögert und anscheinend ohne Erfolg versucht der Kleine, sie anzusehen.

Gun zittert am ganzen Leib. Sie hat es schon lange geahnt, und nun hat sie Gewissheit. Sie weiß, dass sie etwas unternehmen muss. Sie, Gun, muss jetzt etwas tun. So kann das nicht mehr weitergehen.

Dass die Tränen jetzt fließen, spürt sie nicht mal. Eigene Gefühle nimmt sie nicht mehr wahr. Sie hat nur noch einen einzigen Gedanken: dass sie versuchen muss, diesem grün und blau geprügelten Jungen zu helfen, der auf dem Boden in ihrem Holzschuppen liegt. Ihr ist übel. Am liebsten würde sie einfach weiter wegsehen, aber das geht nicht mehr. Es geht schon zu lange so, und jetzt nichts zu unternehmen wäre unchristlich.

Gun hat auch früher schon schlimme Sachen mitbekommen und weggesehen, das kann sie nicht verhehlen. Aber sie hat nie zuvor in ihrem Leben ein derart schlimm zugerichtetes Kind gesehen.