Nach Nadja Vendels Vernehmung, die zwei Stunden gedauert hat, sitzen Idun und Calle in Iduns Büro – sofern man es sitzen nennen kann. Calle liegt halb auf dem Besucherstuhl. Er wirkt abgekämpft und verbissen. Idun hat sich schwer auf den Schreibtischstuhl fallen lassen. Sie hat ihn nach hinten gelehnt, so weit es geht, und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Die Schuhe sehen über der hellen Tischplatte derb aus. Beide würden jetzt gern einen Kaffee trinken, bringen es aber nicht fertig, welchen zu holen.
»Es ist verdammt noch mal nicht zu fassen, was man hier alles zu hören kriegt.«
Idun nickt matt, was Calle jedoch nicht sieht, weil er zur Decke emporstarrt.
»Und das Schlimmste ist, dass ich ihr glaube.«
Beide haben damit gerechnet, dass sie auf Nadja ordentlich Druck ausüben müssten. Die sturköpfige Jurastudentin war in grauer Hose mit Bügelfalten, einer dünnen Seidenbluse, die vermutlich mehr gekostet hat als Iduns gesamte Garderobe zusammengenommen, und in einem schicken Blazer mit Goldknöpfen bei ihnen erschienen.
Wie sich aber zeigen sollte, war Druck gar nicht nötig: Gelassen und bereitwillig gab sie die Beziehung zu Olle zu. Diese bestehe seit drei Jahren und werde vermutlich auch über diesen Vorfall hinaus weiterbestehen.
Olle, den Nadja über die Jahre immer mal wieder langsam vor ihrem Elternhaus habe vorbeifahren sehen, sei irgendwann ihr Geliebter geworden. Er sei ihr schon als junges Mädchen aufgefallen. Der sonderbare und allem Anschein nach neugierige Mann, der ständig neue Autos fuhr, habe ihr Grundstück regelrecht observiert. Anfangs habe sie sich eingeredet, er wäre eine Art Leibwächter – ein Leibwächter, den Nadjas verstorbene Mutter ausgesandt habe, damit er über die Tochter wache, indem er bei ihr vorbeifuhr und sicherstellte, dass es Nadja gut ging. Später hatte sie ihn schließlich als schnüffelnden Sonderling abgetan, so einen, der durch die Gegend fuhr und seine Zeit damit verbrachte, sich anzusehen, wie andere lebten. Dass er einst mit Eva verheiratet gewesen war und sich die Ex einfach nicht aus dem Kopf schlagen konnte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
Eines eisigen Wintermorgens, über Nacht war Schnee gefallen, hatte Nadja es eilig, zur Uni zu fahren. Sie war – untypisch für sie – spät dran und fuhr viel zu schnell aus der Auffahrt, ohne erst nach links und rechts zu sehen. Das Auto, das im selben Moment auf sie zuraste, hupte noch und konnte ihr nur um Haaresbreite ausweichen. Sie stieg voll auf die Bremse und sah mit Herzrasen hinüber zu dem Fahrer.
Zu Olle.
Und im selben Moment passierte etwas mit ihr.
Sie merkte sich das Kennzeichen. Ein einziges Telefonat mit der Leasingfirma und eine zweifelhafte Lügengeschichte später kannte sie seine Anschrift. Ohne zu wissen, wer Olle überhaupt war und in welcher Verbindung er zu Eva stand, fuhr Nadja zu seiner Adresse. Lovis war auf Dienstreise, und Olle sah Nadja, die vor seiner Haustür stand, mit loderndem Blick an.
Die Beziehung hält jetzt bereits zwei Jahre. Sooft sie es schaffen – manchmal sogar mehrmals pro Woche –, treffen sie sich auf ein Stelldichein im Bett. Sie gehen nie auswärts essen, nie ins Kino oder unternehmen irgendetwas anderes. Ihre Beziehung beruht auf der Zeit, die sie im Bett verbringen, auf Nudeln mit Shrimps, die sie ebenfalls im Bett essen, oder zwei Gläsern Wein und langen Gesprächen, wenn sie aneinandergekuschelt unter der Decke liegen. Olle holt sie immer in dem Wagen, den er aktuell fährt, von der Uni ab, aus der Stadt oder auch von ihren Eltern in Sävast – Letzteres natürlich immer nur, wenn Vidar und Eva nicht da sind.
In der Nacht auf Freitag übernachtete Nadja bei ihrem Vater und Eva. Ihr stand die erste Prüfung des Semesters bevor, und bei sich zu Hause hatte sie sich nicht aufs Lernen konzentrieren können, weil aus dem benachbarten Wohnblock ständig Lärm zu hören war. Am Morgen sagte Eva irgendwas Nerviges, und ein kurzer Wortwechsel führte zu einem Streit; wie üblich ergriff Nadjas Vater Partei für Eva, was Nadja wahnsinnig machte. In ihrer Wut rief sie Olle an. Um die Mittagszeit, kurz nachdem Vidar aufgebrochen war, weil er kurz bei der Arbeit vorbeischauen musste, holte Olle Nadja vor dem Haus ab und fuhr sie nach Luleå. Dort verbrachten sie ein paar Stunden in Nadjas Wohnung, ehe Nadja zur Uni fuhr, um rechtzeitig zur Prüfung dort zu sein. Olle wiederum fuhr zur Arbeit, nachdem er ihr versichert hatte, nach Feierabend wiederzukommen.
Als Nadja von der Uni heimkam, war Olle bereits wieder da. Nackt stand er am Herd und briet Pilze und Schalotten. Auf dem Tisch stand warmer Pastasalat mit Erdbeeren.
Sie aßen im Bett und hatten anschließend mehrere Stunden lang Sex. Erst in den frühen Morgenstunden fuhr Olle nach Hause, Nadja zufolge um kurz nach halb vier Uhr nachts. Sie selbst stellte ihr Handy wieder an und hatte acht verpasste Anrufe von ihrem Vater.
Nadja hat Eva nie gemocht. Allerdings war ihr augenblicklich klar, dass deren Tod ihr eigenes Leben verändern würde. Außerdem würde ihr Vater jetzt bestimmt trauern und heulen und grübeln, und für so etwas hat Nadja in ihrem Leben keine Zeit. Kein bisschen Zeit.
*
Dass Olle Nadja mehrmals vom Haus der Vendels abgeholt hat, ist wohl auch die Erklärung dafür, warum Caroline so oft verschiedene Fahrzeuge in der Einfahrt gesehen hat. Die neugierige Nachbarin ist davon ausgegangen, dass Eva Affären gehabt haben muss, und das gleich mit mehreren Männern, weil immerzu andere Autos vorfuhren. Dass es in Wahrheit Nadja war, die mit Evas Ex-Mann geschlafen hat, hat sich nicht mal die fantasiebegabte Caroline Hofverts vorstellen können.
Idun empfindet zusehends Verächtlichkeit. Was in Nadjas Leben hat dazu geführt, dass sie zu einer so empathielosen Frau herangewachsen ist? Nadjas und Olles Alibis sind so gut wie wasserdicht, sofern die beiden den Mord an Eva nicht gemeinsam geplant und verübt haben. Doch sowohl Idun als auch Calle halten es für wenig wahrscheinlich, dass sie ein hinreichend starkes Motiv dafür gehabt hätten. Gefühlsarmut und einen Stiefelternteil nicht zu mögen reicht aus Sicht beider Ermittler nicht aus, um als Mordmotiv zu dienen. Ebenso wenig, wie eine zehn Jahre zurückliegende Scheidung Grund genug für ein derart schweres Verbrechen wäre – nicht einmal, wenn die eine Seite schon zwei Jahre vor der Scheidung eine neue Beziehung eingegangen ist. Da ist schon mehr nötig.
»Ich glaube nicht, dass die beiden für Eva Vendels Tod verantwortlich sind.«
Auch Idun klingt abgekämpft. Sie gähnt hinter vorgehaltener Hand, ehe sie weiterspricht.
»Nadja mag empathiegestört sein, aber ich glaube nicht, dass sie ihre Stiefmutter hätte ermorden können. Und warum sollte Olle die Stiefmutter seiner Liebhaberin umbringen, mit der er vor mehr als zehn Jahren verheiratet war? Das passt für mich nicht zusammen. Ich kann nicht glauben, dass das die Lösung sein soll.«
Calle sieht sie müde an.
»Ich sehe es ganz ähnlich. Aber geglaubt wird drüben in der Kirche …«
Idun schließt die Augen.
Da hat Calle natürlich recht.