Tommy sitzt immer noch im Auto. Verdattert sieht er aus dem Fenster. Mit drei Stockwerken und Satteldach ist das Haus auf dem Hügel das größte, das er je gesehen hat.
Die Sonne schiebt sich über die Baumkronen. Über einen lang gezogenen Schotterweg ist das Auto das letzte Stück auf das Grundstück gerollt, ehe sie im Hof des Hauses gehalten haben. Und jetzt sitzen sie stumm und abwartend auf dem Rücksitz, es ist stickig, als hätte die Fahrt hierher allen Sauerstoff verbraucht.
Mama hat immer noch die Hände im Schoß verschränkt, allerdings kann Tommy sehen, dass ihr Blick an dem Haus emporwandert. Der Fahrer beobachtet sie im Rückspiegel, als sie schließlich aussteigen. Stumm stehen sie Seite an Seite im Hof, während hinter ihnen das Auto knirschend über den Kies auf der Zufahrt rollt und wieder davonfährt.
Ingrid klammert sich an Tommy fest. Ihre kleine Hand fühlt sich warm an. Wenn es jemanden gibt, dem Tommy nur Sicherheit und Geborgenheit vermitteln will, dann ist das Ingrid. Ihm schwirrt selbst zwar der Kopf, aber das will er seiner kleinen Schwester nicht zeigen.
Unschlüssig stehen sie da, bis die Haustür vor ihnen aufgeht. Ein Mann und eine Frau treten auf die Veranda. Sie sehen älter aus als Mama, aber jünger als Opa. Mit hämmerndem Herzen sieht Tommy zu, wie sie die Verandatreppe herunter- und mit zielstrebigen Schritten auf das verunsicherte Trio zukommen.
Der Mann hat einen viel zu großen Pullover an. Er ist hochgewachsen, breit gebaut und hat einen dicken Bauch. Die Frau ist schmaler, aber nur ein paar Zentimeter kleiner als der Mann. Sie trägt ein knöchellanges dunkelblaues Baumwollkleid mit langen Ärmeln und altmodischem Kragen. Sie sieht streng aus, auch wenn sie ihnen entgegenlächelt.
Das Paar bleibt direkt vor ihnen stehen. Der Mann hat graue Haare. Um die Augen sind Lachfältchen zu erkennen, die bis über die Wangen reichen. Keiner sagt etwas. Das Ganze fühlt sich merkwürdig an. Tommy weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Sein Blick bleibt an den Händen des Mannes hängen. So große Hände hat er noch nie gesehen.
»Willkommen auf dem Paradieshof!«
Der Mann hat eine tiefe, sonore Stimme.
»Ich heiße Mattias Selberg, und das hier ist meine Frau Ellenor.«
Der Mann, der sich soeben vorgestellt hat, lächelt und gibt Viola die Hand. Es ist kein normaler Handschlag – er umschließt ihre Hände beidhändig, fast als wollte er sie wärmen. Es sieht fürsorglich aus und komisch.
»Ihr seid sicher angespannt. Vielleicht auch müde.«
Die Frau namens Ellenor macht einen Schritt auf sie zu. Sie legt ihrem Mann die rechte Hand auf die Schulter.
»Ich habe Frühstück gemacht.«
Tommy spürt, wie sich Ingrids Griff um seine Hand verstärkt.
»Frisch gebackenes Brot und gekochte Eier. Wir halten hier Hühner, und sie sind wirklich gut. Also – die Eier.«
Sie zwinkert Ingrid zu, deren Gesicht sich sofort aufhellt. Ellenor ahnt, dass sie den richtigen Ton angeschlagen hat, und streckt die Hand in Richtung des Mädchens aus, die jedoch näher an Tommy heranrückt. Ohne ihr Lächeln zu verändern, zieht Ellenor die ausgestreckte Hand zurück und lässt sie stattdessen auf dem Kleiderstoff ruhen.
Dann antwortete Mama.
»Ein Frühstück wäre wirklich toll.«
Ellenor nickt freundlich. Mattias macht kehrt. Wie auf ein Kommando gehen alle fünf auf das Haus zu.
Der Hof ist riesig, fast wie ein Herrenhaus. Ingrid und Tommy machen große Augen. Es gibt einen Stall und mehrere kleinere Außengebäude, alle gesäumt von alten, knorrigen Apfelbäumen mit massenhaft Fallobst darunter, das vom Frost beschädigt ist. Ein Stück entfernt entdecken sie den Hühnerstall. Davor laufen gackernde Hühner auf und ab und picken etwas vom Boden. Noch etwas weiter stehen Pferde in einem Pferch und knabbern Heu. Jetzt kann Ingrid ihre Aufregung nicht mehr verhehlen: Sie quietscht vor Freude, als sie die Pferde sieht. Ellenor muss angesichts von Ingrids Begeisterung lachen.
Die Hauseingangstür ist massiv und braun. In der Mitte hängt eine goldfarbene Platte, die fast so groß ist wie Zeichenpapier, das in der Mitte gefaltet wurde. Darauf steht etwas – ein Satz in eingravierten, schnörkeligen Buchstaben. Tommy ist zu müde, um lesen zu können, was dort steht. Seine Lider fühlen sich wie Sandpapier an.
Mattias öffnet die Tür und winkt alle hinein. Vorsichtig schiebt Mama Tommy und Ingrid vor sich her. Als Tommy über die Schwelle tritt, schließt er die Augen. Es fühlt sich an, als würde das riesige Haus sie verschlucken.
Er macht die Augen erst wieder auf, als ihm der warme Duft von frisch gebackenem Brot entgegenschlägt.
Kurze Zeit später ist Tommy satt – erstmals seit langer Zeit. Das Gefühl ist betäubend. Ermattet sitzt er an dem groben Esstisch.
Die Küche ist riesig. An zwei Wänden entlang verlaufen Arbeitsflächen über den dazugehörenden Unterschränken. In der Ecke befindet sich ein eingebauter Vorratsschrank, der so groß ist, dass problemlos drei erwachsene Männer hineinpassen würden.
Auf dem Stuhl neben Tommy sitzt Mama mit Ingrid auf dem Schoß. Tommys kleine Schwester sieht aus, als würde sie jeden Augenblick einschlafen. Mama streicht ihr übers Haar und pustet ihr sanft über die Stirn.
Gegenüber sitzen Mattias und Ellenor. Beide haben ihre Eierbrote aufgegessen und sehen die kleine Familie wohlwollend an. Tommy fühlt sich merkwürdig glücklich; in der Küche herrscht eine wohlige Stimmung, als wäre der Raum an sich randvoll mit Fürsorglichkeit.
Dann spricht Mattias aus, was Tommy gedacht hat.
»Auf dem Paradieshof seid ihr sicher. Hier kann euch nichts passieren.«
Mit einem Nicken pflichtet ihm Ellenor bei. Tommy findet, dass das viel zu gut klingt, um wahr zu sein. Mama atmet tief ein, doch Tommy kann sehen, wie ihr Tränen in die Augen steigen, ehe sie sie eilig wegblinzelt.
»Gott wacht über den Paradieshof.«
Mama streicht weiter über Ingrids Haar. Dann räuspert sie sich leise.
»Wir sind unendlich dankbar, dass ihr uns bei euch aufnehmt. Wir haben eine sehr … schwere Zeit hinter uns.«
Abermals Tränen. Ellenor streckt sich über den Tisch und tätschelt Mamas Unterarm.
»Glaubst du an Gott?«
Die Frage klingt freundlich. Trotzdem scheint Mama sich zu winden.
»Ich weiß nicht recht, woran ich noch glauben soll … Eher hab ich den Glauben an alles verloren. Aber dass wir hier sein dürfen, lässt die Hoffnung wieder aufflammen. Ich würde gern an etwas glauben … an das Gute.«
Sie kann die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie strömen ihr nur so übers Gesicht. Tommys Bauch zieht sich zusammen, und er drückt sich an Mama, so eng es nur geht. Ingrid grummelt im Schlaf, als er sie versehentlich mit dem Ellbogen anstößt.
Ellenor erwidert nichts darauf, doch Mattias sieht Mama an.
»Liebe Viola, du musst dir wirklich keine Sorgen mehr machen. Niemand hier erwartet von euch, dass ihr gläubig seid. Auf dem Paradieshof sind alle willkommen: Gott und wir von der Gemeinde empfangen euch mit weit offenen Armen, ganz gleich, woran ihr derzeit glaubt.«
Mama wischt sich mit dem Ärmel die Tränen weg. Tommy bleibt dicht bei ihr.
»Wenn man aber zum Glauben finden will, dann ist der Paradieshof der richtige Ort. Hier findet ihr Sicherheit und die Vergebung aller Sünden. Und einen Weg zu unserem Herrn.«
Tommy versteht das mit der Vergebung nicht, will aber auch nicht fragen.
Ellenor sieht Mama fürsorglich an.
»Und jetzt ruht euch erst einmal aus. Wir zeigen euch euer Zimmer. Am Nachmittag machen wir dann eine kleine Führung, und heute Abend lernt ihr die Gemeinde kennen. Es freuen sich schon alle auf euch.«
Sie steht auf und geht zur Tür. Das Kleid streicht ihr mit jedem Schritt um die Beine. Es reicht fast bis zum Boden, trotzdem kann Tommy sehen, dass sie leicht hinkt.
Sie folgen Ellenor zu einer Tür hinter der Treppe. Mama trägt Ingrid, obwohl Tommy weiß, dass ihr Ingrid eigentlich zu schwer ist.
Das Zimmer ist nicht groß, aber hell möbliert. Das kleine Fenster geht hinaus zum Stall. Es gibt zwei Betten mit gehäkelten Überwürfen und einen kleinen Kleiderschrank. Vor dem hinteren Bett bleibt Ellenor stehen.
»Ich denke mal, Ingrid kann auf einer Matratze am Boden schlafen. Mattias soll eine von oben holen.«
Mama schüttelt den Kopf.
»Ingrid schläft bei mir. Wir passen in ein Bett, und Tommy nimmt das andere.«
Ellenor wirft Mama einen forschenden Blick zu, nickt dann aber nur. Sie setzt sich auf die Bettkante und streicht mit der Hand über den Bettüberwurf.
»Den hat meine Tochter Vivianne gehäkelt. Handarbeiten liegen ihr.«
Mama nickt kraftlos.
»Sie sind beide sehr schön.«
Mama klingt todmüde. Tommy ist alarmiert.
Auch Ellenor scheint es ihr anzuhören.
»Erholt euch jetzt. Hier, leg Ingrid auf die Decke, und du legst dich daneben. Ich wecke euch in ein paar Stunden.«
Mama tut wie geheißen. Vorsichtig legt sie Ingrid aufs Bett und krabbelt neben sie. Es sieht aus, als würde sie im selben Moment einschlafen.
Ellenor dreht sich zu Tommy um.
»Leg du dich auch ein bisschen hin. Ihr braucht alle drei Ruhe.«
Tommy, der vor Müdigkeit fast besinnungslos ist, protestiert nicht. Schwer lässt er sich auf das freie Bett fallen und spürt, wie sich sein Körper schlagartig entspannt.
»Bitte, machen Sie das Licht nicht aus«, fleht er noch leise.
Als Ellenor antwortet, klingt sie fast amüsiert.
»Hast du etwa Angst im Dunkeln?«
Tommy schüttelt den Kopf.
»Nein. Aber Ingrid.«
Mehr sagt er nicht. Erzählt nicht von jenem Abend, als Papa Ingrid bestraft hat, indem er sie für die ganze Nacht im rabenschwarzen Keller eingesperrt hat. Auch Tommy selbst hat in jener Nacht kein Auge zugetan. Schreckensstarr lag er in seinem Bett im ersten Stock und lauschte Ingrids herzzerreißenden Schluchzern.
Ellenor lässt die Lampe am Fenster brennen. Trotzdem wird es um ihn herum dunkel: Tommy versinkt in einem erholsamen Halbschlaf und hört Ellenor nur mehr wie aus weiter Ferne. Die Stimme klingt schleppend, als würde eine Kassette zu langsam abgespielt. Er meint zu hören, wie sie etwas sagt wie »höchstes Gebot«, aber er ist sich nicht sicher. Und es ist ihm egal. Er will nur schlafen.