Als Idun auf den Parkplatz einbiegt, späht sie hinauf zu dem Gebäude, einem Prachtbau in Gelb und Schwarz, der jahrzehntelang das Dienstgebäude hoher Offiziere war. Das Haus zeugt von der Geschichte Bodens als florierender Militärstützpunkt. Im nördlichen Teil der Stadt gibt es zahlreiche dieser gelben Gebäude mit großen Fenstern. Als abgerüstet und weite Teile des Militärs aus Boden abgezogen werden sollten, gerieten die Einwohner der Stadt zunächst in Panik: Erst fielen Arbeitsplätze weg, und wenig später zogen ganze Familien, die von der Arbeit für das Militär gelebt hatten, in andere gelbe Gebäude, nur eben diverse Breitengrade weiter südlich.
Idun zieht den Zündschlüssel ab und wirft einen Blick hinüber zu Calle. Er sieht hoch konzentriert aus. Es ist immer noch früh am Morgen, die Anspannung ist trotzdem da. Unterwegs haben sie erneut über Nadjas überraschendes Bekenntnis einer Liebesbeziehung zu Olle geredet. Seit sie Ermittler sind, haben sowohl Idun als auch Calle mit unterschiedlichsten Beziehungskonstellationen zu tun gehabt. Dass sich eine Stieftochter mit dem Ex der Stiefmutter einlässt, ist für beide zweifelsfrei eine neue Erfahrung.
Die Frage ist, was hinter dieser Beziehung steckt. Kann es tatsächlich so banal sein, dass sie sich ineinander verliebt haben, und nichts weiter? Oder handelt es sich um eine Art – wenn auch grotesken – Protest gegen die Verbindung, die Vidar und Eva eingegangen sind? Wollte Olle damit seine Ex-Frau abstrafen, oder ist er nur eine Randerscheinung, während es in Wahrheit um Nadjas Aversion gegen die neue Frau ihres Vaters geht? Oder ist dies hier Olles Art, Vidar abzustrafen? Nach dem Motto: »Vögelst du meine Frau, vögele ich deine Tochter«?
Im Vernehmungsraum hat Nadja angegeben, dass Vidar und Eva von der Beziehung keine Ahnung hätten, allerdings ist Idun klar, dass das nicht notwendigerweise wahr sein muss. Zum einen kann Nadja gelogen haben, zum anderen können Eva und Vidar durchaus von der Sache gewusst haben, ohne dass es Nadja klar ist.
Beide starren durch die Windschutzscheibe. Ein niedriger Zaun verläuft rund um das Schulgebäude. Dahinter bringen sichtlich müde Eltern gerade ihre Kinder in den Hort. Die Privatschule erwacht zu neuem Leben.
*
Majgull Rasmusson ist eine große, kräftige Frau. Sie trägt eine schrill bunte Brille und eine altbackene Frisur. Ihr Handschlag ist fest und der Blick durchaus freundlich, auch wenn ihr Gesicht einen harten Zug annimmt, als sie Idun und Calle mustert. Eva Vendels Kollegin hat etwas Misstrauisches an sich, als würde eine schlimme Befürchtung ihre Gesten verzögern.
Das Lehrerzimmer ist um kurz vor sieben noch immer verwaist. Bis Majgulls Kollegen eintrudeln, dauert es noch. Die einzige Ausnahme scheint die Person zu sein, die den Hort zwei Stockwerke tiefer aufschließt.
»Hier können wir uns ungestört unterhalten.«
Idun und Calle nehmen auf einem hart gepolsterten dunkelroten Sofa Platz. Einen Kaffee lehnen sie ab. Majgull setzt sich ihnen gegenüber auf einen Sessel. Sie lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander und verschränkt die Hände im Schoß. Sie sieht aus wie eine Therapeutin, die gleich eine Sitzung eröffnet.
»Sie möchten über Eva reden, nehme ich an.«
Calle nickt.
»Das ist richtig.«
Im Auto haben sie beschlossen, dass Calle die Führung übernehmen soll und Idun nur zuhört.
»Was können Sie uns über Eva erzählen? Wie war sie – wie war Ihr Verhältnis zu ihr?«
Majgull schlägt den Blick nieder. Die Unterlippe bebt, und es dauert kurz, ehe sie sich wieder gesammelt hat und antworten kann.
»Eva war in jeder Hinsicht fabelhaft. Ein Fels in der Brandung – als Lehrerin, Kollegin wie auch als Freundin.«
Man kann ihr ansehen, dass sie mit den Tränen kämpft.
»Die Schülerinnen und Schüler haben sie vergöttert. Im Klassenzimmer war sie eine Wucht, eine echte Inspiration, hat aber auch die nötigen Grenzen gesetzt. Letzteres ist heutzutage in der Grundschule wirklich wichtig.«
Idun schießt durch den Kopf, dass Grenzen zu setzen heutzutage überall wichtig ist.
»Wir haben seit Jahren zusammengearbeitet. Eva war immer gut gelaunt, hellwach und nicht einen Tag krank. Sie wird mir wahnsinnig fehlen.«
Majgull verstummt und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Idun denkt fieberhaft nach. Wenn das mal nicht allem widerspricht, was Caroline Hofverts erzählt hat. Gut gelaunt und hellwach statt deprimiert und selbstmordgefährdet.
»Ein einziges Mal habe ich sie niedergeschlagen erlebt: als ihr Vater erkrankt ist. Das war ein harter Schlag für sie: ihn im Heim unterzubringen und sein Haus auszuräumen – ihr Elternhaus obendrein.«
Majgull schweigt eine Weile, scheint nicht zu wissen, was sie noch sagen soll.
Calle hilft ihr auf die Sprünge.
»Haben Sie als Kolleginnen eng zusammengearbeitet?«
»Sehr eng. Wir waren eher Freundinnen als Kolleginnen. Eva weiß alles von mir. Oder … tja. Wusste.«
Der Tempuswechsel scheint zu viel für sie zu sein. Sie schlägt die Hand vor den Mund und erstickt ein lang gezogenes Schluchzen.
Auf dem Tisch vor ihnen steht eine hässliche Holzkiste, die irgendein Schüler gezimmert haben muss. In der Kiste liegen Servietten. Idun nimmt sich eine und hält sie Majgull hin, die sie dankbar entgegennimmt.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass sie weg sein soll.«
Sie schiebt die Brille nach oben und tupft ihre Wangen trocken. Idun versucht, tröstlich zu klingen.
»Es muss für Eva ganz wunderbar gewesen sein, eine gute Freundin als Kollegin gehabt zu haben. Wissen Sie, ob sie mit jemandem Schwierigkeiten hatte? Gab es irgendeinen akuten Konflikt?«
Der Themenwechsel ist nicht der geschmeidigste, aber erfüllt seinen Zweck. Calle wirft Idun einen dankbaren Blick zu.
»Das glaube ich nicht. Ich wüsste nicht, dass sie Feinde gehabt hätte. Ich meine, alle mochten sie …«
Neuerlich Schweigen. Die beiden Ermittler warten geduldig ab.
»Aber da wäre eine andere Sache, die ich Ihnen erzählen will. Wie sie an jenem Freitag nach der Mittagspause die Schule verlassen hat.«
Calle lehnt sich vor. Es ist eine minimale Bewegung, die Idun eher erahnt als sieht.
»Eva hatte keine Feinde. Da bin ich mir absolut sicher. Trotzdem ist sie dann ja … ermordet worden.«
Majgull scheint Schwierigkeiten zu haben, das Wort auszusprechen. Ihr Gesicht knittert, und sie muss erst tief Luft holen, um einen weiteren Weinkrampf zu verhindern.
»Wir verstehen, dass dies hier schwer für Sie ist. Lassen Sie sich Zeit.«
Calle klingt aufrichtig besorgt, und mit einem Mal sieht Majgull verwirrt aus.
»Sie wollten uns von Evas letztem Arbeitstag erzählen. Wie sie die Schule verließ …?«
»Ja, richtig. Eva war schon zur Bushaltestelle gelaufen, als ich ihren Schulschlüsselbund auf ihrem Schreibtisch entdeckt habe. Wir teilen uns das Büro. Ich bin also hier hergerannt und habe das Fenster aufgerissen, um ihr hinterherzurufen, aber es war so viel Verkehr, dass sie mich nicht gehört hat.«
Majgull starrt auf ihre verschränkten Hände hinab. Als sie den Blick hebt, ist er fest – und trotzdem sagt sie nichts. Calle versucht, die Lücke zu füllen.
»Und dann kam der Bus?«
Majgull schüttelt den Kopf.
»Das war ja das Komische. Ein Auto hat an der Bushaltestelle gehalten, und ich habe gesehen, wie das Fenster auf der Beifahrerseite aufging und Eva darauf zutrat. Sie hat mit dem Fahrer gesprochen – wer das war, habe ich nicht gesehen. Jedenfalls hat sie nach ein paar Sekunden die Tür aufgezogen und ist eingestiegen. Dann sind sie weitergefahren.«
Idun kneift die Augen zusammen.
»Und inwieweit war das komisch? Kann das nicht jemand gewesen sein, den Eva kannte?«
Majgull schüttelt langsam den Kopf.
»Das Komische war, dass der Fahrer ein Mann war. Ich habe ihn nicht erkennen können, aber es war ganz ohne jeden Zweifel ein Mann – und es war nicht Vidar, da bin ich mir absolut sicher.«
Calle nimmt die Hände hoch, als wollte er sagen: Und weiter?
Majgull hat die Aufforderung verstanden.
»Eva kannte keine Männer. Niemanden außer Vidar, ihren Vater und unsere männlichen Kollegen.«
»Und Sie sind sich ganz sicher, dass es kein Kollege war?«
»Zu einhundert Prozent. Sie waren ja alle hier.«
»Haben Sie gesehen, was es für ein Auto war?«
Majgull schüttelt grimmig den Kopf.
»Nur dass es schwarz war.«
»Kombi? Limousine?«
Darüber denkt Majgull nach. Sie hadert mit sich.
»Es war kein Kombi … eher so ein kleineres Auto …«
»Zwei- oder Viertürer?«
»Vier. Glaube ich.«
Idun nickt ihr aufmunternd zu.
»Haben Sie das Nummernschild erkennen können?«
Majgull sieht sie betrübt an.
»Nein, keinen einzigen Buchstaben.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass das Auto schwarz war?«
Majgull nickt zögerlich.
»Der Fahrer – was können Sie über ihn sagen?«
Majgull sieht aus, als würde sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen.
»Nur dass es ein Mann war. Ich habe nur die Silhouette gesehen. Er wirkte groß und breitschultrig, aber da bin ich nicht sicher … Die Sonne hat sich in der Scheibe gespiegelt, deshalb würde ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen, aber es war ein Mann, das war mehr oder weniger klar. Ein großer Mann, weil es aussah, als würde er fast gegen das Autodach stoßen. Aber es war ja auch ein kleines Auto. Jetzt, da Sie fragen, werde ich unsicher … Aber auf alle Fälle ist Eva eingestiegen, und dann sind sie weitergefahren.«
Majgull kratzt sich am Hals.
Calle holt tief Luft.
»Sie haben uns erzählt, dass Eva abgesehen von Vidar, ihrem Vater und den Kollegen keine weiteren Männer kannte.«
Majgull sieht ihn an. Idun ahnt bereits, was als Nächstes kommt. Und sie hat auch schon so eine Ahnung, wie die Antwort ausfallen wird.
»Woher wollen Sie denn wissen, dass Eva niemanden außer den genannten Personen kannte?«
Majgull reagiert mit einem Schnauben. Es klingt genauso verächtlich, wie es gemeint sein dürfte. In das verweinte Gesicht schleicht sich ein Hauch Wut.
»Weil dieser Idiot von einem Ehemann nicht zugelassen hat, dass sie mit anderen Männern Umgang hatte. Vidar Vendel ist vielleicht reich, schick angezogen und kann kochen – aber abgesehen davon ist er ein eifersüchtiger Mistkerl mit Kontrollwahn, mit dem er Eva fast erstickt hat.«
Und da haben sie es.
Idun hat es geahnt.
Calle lehnt sich auf dem Sofa zurück. Diesmal entgeht die Bewegung niemandem.
»Aber Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie keine Ahnung haben, wer Eva ermordet haben könnte? Ein eifersüchtiger Ehemann – wäre der nicht einen vagen Verdacht wert?«
Idun seufzt. Calle sollte es besser wissen, als einer Zeugin Worte in den Mund zu legen. Doch Majgull erweist sich als eine Person, die sich tiefergehend Gedanken macht, als man vielleicht erwarten könnte.
»Vidar hat einen Kontrollwahn. Und er ist eifersüchtig wie nur was. Aber umgebracht hat er Eva niemals, da bin ich mir absolut sicher.«
Calle versucht nicht mal, seine Skepsis zu verhehlen.
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
Majgull fängt seinen Blick auf. Inzwischen sind die Tränen getrocknet.
»Vidar kann ohne Eva nicht leben. Er kommt ohne sie nicht klar – wird zu einem schwammigen Fleck, zu nichts, zu einem Vakuum. Deshalb bin ich mir so sicher.«
Ein paar Sekunden verstreichen. Majgull blickt aus dem Fenster. Was sie als Letztes sagt, richtet sie eher an den Himmel denn an die Ermittler, die ihr gegenübersitzen.
»Ich hoffe nur, dass Eva es gut hat dort, wo sie jetzt ist. Hier auf Erden wird Vidar auf alle Fälle zugrunde gehen. Erst zugrunde und dann untergehen. Das hier überlebt er nicht, ohne dass Herz und Verstand bleibenden Schaden nehmen.«
Idun und Calle warten ab, ob sie sich noch mal vom Fenster losreißt, aber Majgull Rasmusson hat allem Anschein nach nichts mehr zu sagen.