Er geht nach dem zweiten Klingeln dran.
»Hej, Idun, wie gut, dass du anrufst. Ich habe gerade die Laborergebnisse zu Stenbergs Brief gekriegt.«
Idun zieht die Tür zu ihrem Büro hinter sich zu.
»Schieß los.«
Sie hört ein störendes Geräusch, dann scheint Malmen ein paar Schritte zu machen und eine Tür ins Schloss zu schieben, und das Geräusch verstummt.
»Der Text an sich ist ein Bibelzitat. Aber was die Deutung angeht, ist deine Schwester wahrscheinlich die bessere Ansprechpartnerin.«
»Ich will sie gleich anrufen, wenn wir fertig sind. Wie ich Siv kenne, hat sie den Brief eingescannt und mir schon geschickt.«
Noch während sie spricht, klappt sie ihren Laptop auf. Während der hochfährt, setzen sie ihr Telefonat fort.
»Irgendwelche Hinweise aus der Technik?«
Malmen räuspert sich.
»Der Brief wurde auf einem handelsüblichen Tintenstrahldrucker ausgedruckt. Keine Auffälligkeiten, was leider heißt, dass wir auch keinerlei Anhaltspunkte haben. Der Umschlag an sich stammt aus einer Großpackung, wie man sie in jedem Kaufhaus bekommt. Fingerabdrücke haben wir keine gefunden, die DNA-Analyse läuft aber noch. Allerdings habe ich so meine Zweifel, dass wir etwas von Wert finden, weil jemand, der versucht, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, den Umschlag wohl eher nicht mit der Zunge anleckt.«
Idun murmelt etwas Unverständliches.
»Umso spannender ist aber, dass wir auf dem Umschlag Rückstände von Baumaterial gefunden haben – Holz- und sogar Stahlstaub. Von beidem nicht viel, aber immerhin genug, um es zur Kenntnis zu nehmen. Und nun ist der Umschlag ja auch nicht den normalen Postweg gegangen, insofern können wir davon ausgehen, dass er von derselben Person eingeworfen wurde, die den Brief auch verfasst hat.«
Idun kratzt sich am Hals.
»Baumaterial? Von einer Baustelle, oder was meinst du?«
»Schwer zu sagen, aber darauf dürfte es hinauslaufen.«
Nebenbei tippt Idun Usernamen und Passwort ein.
»Sonst noch etwas?«
»Fürs Erste nicht. Wenn die DNA-Analyse vorliegt, melde ich mich noch mal bei dir, aber ich mache mir wie gesagt keine großen Hoffnungen.«
Sie beenden das Gespräch. Idun loggt sich in ihr E-Mail-Programm ein. Zuoberst findet sie eine E-Mail von Siv. Sie klickt den Anhang an, und auf dem Bildschirm erscheint der Scan des Bibelzitats, das an Åke Stenberg geschickt wurde. Genau wie Malmen gesagt hat, wurde es auf einem Computer geschrieben.
Der Herr ist mein Licht und mein Befreier, vor wem sollte ich mich fürchten?
Der Herr ist meines Lebens Zuflucht, vor wem sollte ich erschrecken?
Idun liest die Zeilen viermal durch, ehe sie zu ihrem Handy greift und Mikas Nummer wählt. Ihre Schwester geht erst nach dem fünften Klingeln dran.
»Idun? Es ist gerade ungünstig, ich stecke mit beiden Händen in einem Hefeteig. Morgen ist auf der Arbeit Kaffeeklatsch. Kann ich dich später am Abend zurückrufen?«
»Lieber nicht … Es geht um diese Mordermittlung. Da ist ein Bibeltext aufgetaucht, bei dem ich Hilfe brauche.«
Ein paar Sekunden herrscht Stille.
»Klar. Da müssen die Hefeschnecken natürlich warten. Bleib kurz dran, ich muss mir nur schnell die Hände waschen.«
Idun hört, wie Mika den Wasserhahn aufdreht. Als sie wieder dran ist, klingt sie hoch konzentriert.
»Was ist es denn für ein Bibeltext? Und in welchem Zusammenhang taucht er in eurer Ermittlung auf?«
Idun starrt ihren Bildschirm an.
»Es ist ein Zitat. Glauben wir zumindest. Über den Zusammenhang darf ich leider nichts erzählen.«
Mika brummt in den Hörer.
»Verstehe. Ich wollte nicht neugierig sein. Lies mir die Stelle vor, und dann sag mir, was genau du wissen willst.«
Mit einem Mal ist Idun zutiefst dankbar für eine Schwester, die Religionswissenschaftlerin ist. Mika hat gerade erst drei Jahre zuvor ihren Doktor der Theologie gemacht und ist eindeutig die beste Ratgeberin.
»›Der Herr ist mein Licht und mein Befreier, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Zuflucht, vor wem sollte ich erschrecken?‹«
Mika schweigt. Idun gibt ihr Zeit zu überlegen.
»Okay«, sagt Mika schließlich. »Das ist ein Psalm aus dem Alten Testament.«
»Und was sagt dir die Stelle?«
»Sie sagt mir, dass Gott mein Licht ist, dass er mir das Leben schenkt. Und dass ich nichts zu befürchten habe, solange Gott mein Licht bleiben darf. Allerdings ist sich die Theologie nicht ganz einig darüber, ob Gott nur in jemandes Leben ist, wenn man aktiv an ihn glaubt. Es gibt Stimmen, die sagen, dass er auch da ist, wenn nicht, und andere, die davon ausgehen, dass er einem den Rücken kehrt, sobald man sich von ihm abwendet. Über diese Frage sind zig Abhandlungen geschrieben worden.«
Idun macht sich auf dem Block, der neben ihrem Laptop liegt, Notizen.
»Okay, dann sind sich die Theologen also uneins. Was noch?«
»Sie wären sich alle einig darüber, dass dein Zitat nicht korrekt ist.«
Idun hält mit dem Stift in der Hand inne.
»Nicht korrekt?«
»Yes . Das mit dem ›Herrn‹ und dem ›Befreier‹ – das stimmt so nicht. Im ursprünglichen Wortlaut heißt es nicht ›Befreier‹, sondern ›Heil‹: ›Der Herr ist mein Licht und mein Heil‹, nicht ›mein Befreier‹.«
Idun legt die Stirn in tiefe Falten.
»Das ist ja seltsam.«
Mika hustet.
»Eigentlich nicht. Es kann doch sein, dass der Verfasser die Stelle einfach nicht gut kannte.«
»Oder aber die Formulierung ist Absicht.«
Mika pfeift durch die Zähne.
»Du meinst, eine Art versteckte Botschaft? Will die Frau Polizistin darauf hinaus?«
Idun atmet hörbar durch die Nase ein. Doch sie kommt nicht zu Wort, bevor Mika auch schon fortfährt.
»Sorry. Ich weiß, dass du darüber nicht reden darfst. Ich frage auch nicht nach, weil ich schnüffeln will, ich bin einfach nur … neugierig.«
Sie müssen beide lachen.
»Danke für deine Hilfe. Eine bibelkundige Schwester ist wirklich Gold wert!«
Mika gluckst.
»Keine Ursache. Komm heute Abend vorbei, wenn du magst. Ich weiß schon, du isst keine Kaffeestückchen, aber du kriegst einen Tee, während ich meine Hefeschnecken probeverkoste. Es geht schließlich nichts über Qualitätskontrolle, bevor man den Kollegen irgendetwas vorsetzt.«
Nachdem sie aufgelegt haben, sitzt Idun eine Zeit lang vor ihrem Rechner. Wenn dieses falsche Wort Absicht war, dann besteht durchaus die Möglichkeit, dass es eine Botschaft an Evas Vater ist. Aber warum an ihn? Warum »Befreier« statt »Heil«? Wer bitte schön soll da befreit werden? Und wovon?