Mittwoch, 2. September

Jenny Ek streckt sich nach der Schaukel aus, kurz bevor sie den höchsten Punkt erreicht hat. Als sie sie anschubst, quietscht Ellen vergnügt. Sie hält sich wacker an den gummibezogenen Ketten fest und strahlt über das ganze Gesicht. Unwillkürlich muss Jenny lachen. Die Fünfjährige sieht überglücklich aus, wie sie dort auf der Schaukel sitzt und lacht.

Auch wenn es schon nach drei Uhr ist, steht die Sonne immer noch hoch am Himmel. Und es ist warm draußen. Jenny hat ihre dünne Sommerjacke ausgezogen und sie auf die Bank unter der großen Birke gelegt. Das Mittagessen haben die Kinder draußen eingenommen, und rund um Jennys Jacke liegen Krümel und Bananenschalen. Auf dem Tisch stehen sechs Plastikbecher, vier davon mit Milch für die Kinder, aus zweien haben Jenny und Lennart Kaffee getrunken. Normalerweise sind fünf Kinder in der Gruppe, aber Yasmin hat kurz vor dem Essen Bauchschmerzen bekommen und wurde von ihrem Vater abgeholt.

Ellen rutscht von der Schaukel und sieht zu Jenny hoch.

»Ich habe Durst.«

Jenny lächelt.

»Lauf rein und nimm dir Wasser. An den Wasserhahn im Waschraum kommst du doch ran?«

Jenny richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Kolleginnen aus der Kleinkindergruppe, die gerade mit den Zweijährigen nach draußen kommen. Ihre Räumlichkeiten liegen im hinteren Teil des u-förmigen Gebäudes, und Jenny schmunzelt, als die Kinder durch die Tür watscheln. Es sieht aus wie eine kleine Lemmingprozession aus Zweijährigen.

Die drei Erzieherinnen bildeten die Nachhut, und eine davon – Helen Svensson – winkt Jenny fröhlich zu. Sie haben ihre Ausbildung zusammen gemacht und dann gleichzeitig in der Blåbäcken-Kita angefangen. Sie sind zwar nicht miteinander befreundet, aber gute Kolleginnen.

Als Jenny sich wieder umdreht, sieht sie noch, wie Ellen durch die Tür zum Garderobenraum geht. Das Mädchen hält etwas Blaues in der Hand, und Jenny schirmt sich mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab, um zu sehen, was es ist. Als ihr dämmert, dass es sich um den Becher handelt, aus dem Ellen beim Mittagessen Milch getrunken hat, muss sie unwillkürlich lächeln. Ellen will zum Wassertrinken denselben Becher benutzen. Offenbar hat sie gut aufgepasst, als Jenny und Lennart mit den Kindern über Nachhaltigkeit gesprochen haben. Weniger Geschirr zu spülen ist eine der Umweltschutzideen, die die Gemeinde Boden bereits ihren Vorschulkindern beibringen möchte, und ein bisschen was haben die Kleinen sich anscheinend gemerkt.

Vier Zweijährige laufen an Jenny vorbei und zeigen zur Rutsche, auf die gerade ein paar ältere Kinder klettern. Als die Zweijährigen stehen bleiben, beugt Jenny sich zu ihnen hinunter und fragt, ob sie in der Mittagspause gut geschlafen haben. Der eine wirkt schüchtern und schiebt sich den sandigen Daumen in den Mund. Zwei weitere nicken bedächtig, während der vierte, ein Junge, auf etwas hinter Jennys Rücken konzentriert zu sein scheint. Sie dreht sich um, kann aber nichts Besonderes erkennen. Die rote Fassade badet im Sonnenlicht, und das Tor im Zaun ist geschlossen. Draußen auf der Straße ist auch niemand. Irgendwo bellt ein Hund.

Sie sieht erneut den Jungen an. Er steht wie versteinert da und starrt immer noch auf einen Punkt hinter Jenny. Sie wirft noch einen Blick über die Schulter – und sieht, wie im Spielzimmer ein Schatten am Fenster vorüberhuscht. Sie reckt den Hals, kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können, kann aber nicht mal erkennen, ob drinnen noch Licht brennt oder nicht. Die Sonne spiegelt sich in den Fenstern, die Reflexion blitzt metallisch. War das überhaupt ein Schatten?

Sie dreht sich wieder zu dem Jungen um, der jetzt ein Blatt vom Boden aufhebt. Jenny versucht, mit den Kolleginnen auf dem Rasen Blickkontakt aufzunehmen, bei Helen klappt es, sie zeigt auf die jüngeren Kinder und mit der anderen Hand in Richtung der Innenräume. Helen nickt und setzt sich in Bewegung. Die Zweijährigen bei Jenny sind inzwischen ganz auf das Laub am Boden konzentriert.

Sie geht auf das Gebäude zu. Sand und Kies knirschen unter ihren Sohlen. Als sie die Tür erreicht, streift sie sich die Schuhe an der borstigen Fußmatte ab.

Sie betritt den schmalen Eingangsbereich. Vor ihren Augen tanzen Lichtpunkte. Sie blinzelt sie weg und geht weiter in Richtung der Räumlichkeiten. Auf dem Weg kommt sie an den zwei großen Trockenschränken vorbei, die im Winter annähernd den ganzen Tag lang dumpf brummen.

Auf Socken geht sie weiter den Flur entlang und sieht sich nach Ellen um, die nirgends zu sehen ist. Jenny beugt sich vor, um unter das Sofa zu spähen, wo die Kinder sich gern mal verstecken.

»Ellen?«

Unter dem Sofa sieht sie nur Staubflusen und zwei Duplo-Bausteine.

»Ellen?«

Sie sagt es eher ruhig, als dass sie laut ruft, weil sie das Mädchen nicht erschrecken will, falls es irgendwo seinen Gedanken nachhängt.

Dann hört sie ein leises Schaben aus einem der Räume, allerdings könnte sie nicht sagen, aus welchem es kommt. Sie ruft erneut nach Ellen, diesmal ein wenig nachdrücklicher. Wieder bekommt sie keine Antwort.

Sie geht an der Küche vorbei und sieht, dass Lennart nach dem Mittagessen die Butter nicht weggeräumt hat. Sie kommt in das große Spielzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen, sodass das Licht im Raum gedämpft ist. Jenny stutzt. Sie hätte schwören können, dass sie die Vorhänge aufgezogen hat, als Ellen aufgewacht ist.

Wieder hört sie das Schaben. Es scheint aus dem Bastelzimmer zu kommen. Sie geht um die Ecke, wo die Sitzkissen liegen. Das hier ist der beliebteste Platz in der ganzen Einrichtung. Zwischen den Kissen entdeckt sie einen einzelnen vergessenen Strumpf.

Vor der Tür zum Bastelzimmer tritt sie fast auf ein Spielzeugauto am Boden. Das Schaben wird lauter, und jetzt ist sie sicher, dass es aus dem Zimmer kommt. Sie legt die Hand an die Klinke und ist überrascht, als sie plötzlich ein Flattern im Bauch verspürt.

Sie stößt die Tür auf. Warme Luft von draußen schlägt ihr entgegen. Das Zimmer sieht aus wie immer. Ellen ist nirgends zu sehen.

Allerdings steht eins der Fenster sperrangelweit offen. Der Vorhang bläht sich in der Brise, und am unteren Saum hat sich ein Stöckchen im Stoff verfangen, das hörbar über den gelben Linoleumboden schleift, sobald der Vorhang sich bewegt.

Jenny tritt an das Fenster und sieht nach draußen. Die Straße ist menschenleer, aus Richtung des benachbarten Wohnblocks hört sie einen Hund kläffen – vermutlich denselben, den sie schon zuvor auf dem Spielplatz gehört hat.

Rechts liegt der Schulhof. Dort spielen ein paar Kinder, springen Seil, und ihr Lachen weht durch die warme Spätsommerluft zu ihr herüber.

Jenny streckt die Hand aus und greift zum Fenstergriff, will das Fenster zuziehen und dann die anderen Räume nach Ellen absuchen. Vielleicht sitzt sie auf der Toilette und träumt vor sich hin?

Was dann passiert, ist eine Sache von weniger als einer Minute, auch wenn es Jenny im Nachhinein vorkommt, als wäre eine Ewigkeit vergangen.

Ein paar Tage später wird ihr ein Psychologe erklären, dass dies eine Strategie des Gehirns ist, um Traumata und Stresssituationen zu bewältigen: Die Zeitwahrnehmung verändert sich, damit das Gehirn die Möglichkeit hat, Eindrücke, die es unter Schock gesammelt hat, neu zu sortieren.

Ein Geräusch unterhalb des Fensters weckt ihre Aufmerksamkeit. Und was sie dort unten entdeckt, jagt ihr derart Angst ein, dass alles andere schlagartig totenstill wird. Ein paar Sekunden lang hält die Welt den Atem an, ehe es in ihrem Kopf nur mehr ohrenbetäubend schrillt.

Auf der Erde liegt Ellen.

Im Arm eines fremden Mannes.

Sein Gesicht sieht sonderbar aus. Er hat den seltsamen Blick auf Jenny gerichtet – es ist fast, als wären die Augen und auch der Mund verformt und falsch platziert. Außerdem haben sie eine merkwürdige Farbe, als läge das Gesicht im Schatten, obwohl an der Stelle die Sonne hinscheint.

Jenny bekommt keine Luft mehr. Sie versucht einzuatmen – ohne Erfolg. Der Mann starrt sie an. In seinem Gesicht gibt es keinerlei Symmetrie, alles ist schief und schwarz verschmiert. Trotzdem sieht Jenny, dass er ihr unverwandt in die Augen starrt.

Ellen sieht aus, als würde sie schlafen – und instinktiv weiß Jenny, dass sie bewusstlos ist. Der Mann mit dem grotesken Gesicht hat ihr etwas angetan.

Ein paar eiskalte Sekunden verstreichen, ehe zeitverzögert der erste Schreck nachlässt. Endlich bekommt Jenny wieder Luft – und sie schreit los. Ihr Schrei kommt tief aus dem Bauch, und sie brüllt so laut, dass es wehtut, während sie sich am Fensterrahmen hochzieht. Ihr kommt es vor, als wäre die Zeit zäh wie Sirup, gleichzeitig passiert gerade alles auf einmal.

Blitzartig springt der Mann auf. Er bewegt sich geschmeidig, und noch ehe Jenny reagieren kann, steht er ihr Auge in Auge gegenüber. Jäh verstummt sie, starrt nur mehr in diese merkwürdigen Augen. Die Haut ist grauschwarz, das Haar liegt platt am Kopf auf, besteht nicht aus Strähnen, eher aus einer Art Stoff, und Jenny schießt durch den Kopf, dass es künstlich aussieht, fast wie bei einer Figur, die die Kinder basteln …

Sie holt abermals Luft und brüllt dem Mann ins Gesicht. Er zuckt zusammen, und im nächsten Moment trifft Jenny ein harter Schlag direkt über dem Mund.

Damit hat sie nicht gerechnet und stürzt rückwärts. Mit dem Rücken kracht sie auf einen Tisch, und alle Luft weicht aus ihrer Lunge. Dumpf schlägt sie auf dem Fußboden auf. Ihr Rücken tut sofort höllisch weh, und sie schnappt nach Luft, als der Schmerz ihr bis hoch in den Nacken schießt. Ihre Ohren schrillen.

Binnen zwei Sekunden schlägt die Angst um in rasende Wut. Sie springt wieder auf, stürzt auf das Fenster zu. Sie weiß nicht, woher sie die Kraft nimmt, aber sie ist jetzt so wütend und hat solche Panik, dass sie einen Tunnelblick hat. Das Einzige, was sie noch vor sich sieht, ist Ellen, die leblos in den Armen des Mannes hängt, der wiederum breitbeinig im Gras vor dem Fenster steht.

Als Jenny die Hände an den Fensterrahmen legt, um nach draußen zu springen, macht der Mann zwei Schritte rückwärts. Der Puls donnert in ihren Ohren, sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, weiß nur noch, dass dieser Mann Ellen mitnehmen will – und als ihr das dämmert, ist mit einem Mal alles glasklar.

Brüllend hievt Jenny sich durch das Fenster. Ihr läuft Blut aus der Nase, es spritzt auf den weißen Fensterrahmen und auf ihren Pulli, aber das merkt sie nicht mal. Sie denkt nur noch daran, dass sie ihm Ellen entreißen muss.

Der Mann weicht noch ein paar Schritte zurück. Die Fünfjährige hängt immer noch schlaff in seinen Armen. Und mit zwei langen Schritten ist Jenny bei ihnen. Sie schreit so laut, dass ihr Hals brennt, während sie sich wie entfesselt auf ihn stürzt. Der Mann mit dem künstlichen Gesicht weicht behände zur Seite aus, doch Jenny erwischt Ellens Jacke. In einer einzigen kraftvollen Bewegung reißt sie die Kleine aus seinem Arm und stürzt zu Boden. Der Rasen dämpft den Aufprall, Ellen landet auf Jenny und bleibt einfach schlapp liegen.

Jenny rollt sich zur Seite ab und kommt auf die Beine. Sie zieht Ellen mit hoch, und ihre Armmuskeln kreischen vor Anstrengung.

Sie ist immer noch in ihrem Tunnel, daher sieht sie nicht, wie von der Seite etwas auf sie zuschießt. Sie bekommt nur noch mit, dass der Mann etwas Grauschwarzes in der Hand hält.

Im nächsten Moment trifft sie der Schlag an der Schläfe. Als der Stein sie am Kopf trifft, knirscht es in ihrem Nacken. Es klingt fast, als würde jemand Chips in der Faust zermalmen. Das Sonnenlicht verändert sich, während sich gleichzeitig ein leiernder Ton in ihrem Kopf breitmacht.

Unmittelbar bevor sie zu Boden geht, spürt Jenny noch, wie ihr schlecht wird. Vage erahnt sie noch den widerwärtigen Geschmack der Magensäure, bevor ihre Augen zugehen und die Welt in Schwarz getaucht wird.