Gedankenverloren sitzt Tommy am Küchentisch. Mattias knufft ihm leicht die Schulter, und verwirrt blickt der Junge auf. Mattias hält ihm den Brotkorb hin.
»Magst du vielleicht ein Butterbrot? Vivianne hat das Brot gebacken.«
Tommy nimmt sich eine Scheibe und wirft der Frau, die ihm am Tisch gegenübersitzt, einen flüchtigen Blick zu. Vivianne, Ellenors und Mattias’ Tochter, lächelt ihn verschmitzt an. Sie ist hochschwanger und hat einen unfassbar großen Bauch, der aussieht, als könnte er jeden Augenblick platzen.
»Nimm dir gleich zwei Scheiben, wenn du magst. Papa darf auf Brot gern verzichten.«
Vivianne blickt vielsagend auf den dicken Bauch ihres Vaters hinab und zwinkert Tommy zu, der sich ein Kichern nicht verkneifen kann.
»Jetzt sei doch ein bisschen netter zu deinem alten Vater! So habt ihr nur umso mehr an mir, was ihr lieben könnt!«
Viviannes Kommentar scheint Mattias nicht im Geringsten zu ärgern. Tommy mag die Stimmung, die am Küchentisch herrscht. Sie ist wohlig entspannt.
Mit ihrem leichten Hinken dreht Ellenor sich vom Ofen weg. Sie stellt eine dampfende Auflaufform auf den Tisch und setzt sich zu Mattias. Dann faltet sie artig die Hände im Schoß. Mama streicht Ingrid über die Haare und sieht zu Mattias. Als er feierlich die Stimme erhebt, klingt er fast wie der Weihnachtsmann, der Geschenke verteilt.
»Danken wir unserem Herrn und Erlöser.«
Für die anderen am Tisch ist es wie ein Signal: Ellenor, Vivianne, Tommy, Mama und Ingrid neigen die Köpfe.
»Wir danken dir, Herr unser Gott«, fährt Mattias fort. »Wir danken dir für alles Gute, was du tust, und für die Gaben, die du uns bescherst. Wir danken dir für alle Prüfungen, für alle Wahrheiten und alles Böse, das uns erspart bleibt, indem du dich schützend vor uns stellst. Wir danken dir für deine Liebe. Dafür, dass du uns die Hände auflegst und uns vom Bösen erlöst. Wir danken dir für all jene, die wir lieben. Und wir danken dir, dass du uns befreist, jeden Tag, für alle Zeit. Amen.«
Tommy hält die Augen geschlossen. Sein Magen knurrt. Er möchte sich gern an Ellenors duftendem Auflauf bedienen, bleibt aber mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet er verstohlen die Augen und sieht sich vorsichtig um.
Auch Mattias hat die Augen geöffnet, rührt sich aber nicht. Und er macht keine Anstalten, sich Essen zu nehmen. Abermals verstreicht lange Zeit.
Irgendwann greift Mattias zu seinem Wasserglas und nimmt einen Schluck. Das leise Klopfen, mit dem er es wieder abstellt, ist für die anderen das Startsignal: Nach und nach schlagen sie die Augen wieder auf und entspannen die Hände.
Ellenor blinzelt ein paarmal, ehe sie Mattias’ Teller nimmt. Ihr Ehemann bekommt eine stattliche Portion Auflauf und nickt zum Dank, als er den Teller entgegennimmt.
»Also, meine Freunde. Habt ihr den Herrn im Herzen?«
Allen ist klar, dass die Frage in Wahrheit an Mama gerichtet ist. Tommy wartet gespannt auf ihre Antwort.
»Ich weiß es nicht recht.«
So wie er dreinblickt, will Mattias, dass sie ihre Antwort ausführt. Er sieht sie freundlich, aber durchdringend an.
Mama tastet sich langsam vor.
»Als Kind war Gott immer bei mir. Mein Vater war zutiefst gläubig. Aber in den Jahren, als ich mit meinem Mann verheiratet war, habe ich ihn ein bisschen aus den Augen verloren … also, Gott.«
Tommy findet, dass Mattias plötzlich komisch guckt. Dann jedoch antwortet Vivianne.
»Der Paradieshof ist der richtige Ort, um wieder zu Gott zu finden. Es ist sogar der richtige Ort für euch, Viola, um Befreiung zu ersuchen.«
In ihrer Stimme schwingt ein merkwürdiger Tonfall mit.
Mama scheint sich die Antwort sorgsam zurechtzulegen.
»Ich bin überaus dankbar, dass wir hierherkommen durften. Mir war nicht klar, dass es auf der Welt solche Güte gibt.«
Ellenor tätschelt ihr den Unterarm.
»Hier gibt es Fürsorglichkeit und Essen – sieben Tage in der Woche. Aber hier gibt es nun mal auch Gott, und auf dem Paradieshof ist er ein Teil unseres Alltags. Er ist für uns alle das Wichtigste überhaupt. Es tut mir weh zu hören, dass ihr nach all der Zeit noch immer nicht zu ihm gefunden habt. Und es tut weh zu hören, dass ihr immer noch nicht seinen Segen empfangen habt.«
Viola starrt auf Ellenors Hand hinab. Die Antwort ist nur ein Flüstern.
»Es sind doch erst ein paar Monate. Vielleicht brauche ich ein bisschen länger …«
Bekümmert sieht Ellenor sie an.
»Es ist jetzt fast ein Jahr, Viola. Ein ganzes Jahr.«
Mama nickt zögerlich.
»Ich versuche wirklich, zu ihm zu finden. Ich freue mich darauf.«
Tommy hört die Angst in Mamas Stimme. Er versteht gar nicht, wovor sie Angst hat. Er weiß, dass Mattias freitags regelmäßig Bibelgespräche mit Mama führt. Dann schließen sie sich in seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss ein. Tommy und Ingrid ist es verboten zu stören. Manchmal hören sie seltsame Geräusche aus dem Zimmer, Schluchzer von Mama, die sich mit Mattias’ Stimme vermischen, die zwar irgendwie da ist, aber keine Wörter vorzubringen scheint. Anfangs hat Tommy sich Sorgen gemacht, doch Ellenor hat ihm versichert, es sei alles in bester Ordnung.
»Wenn man sich Gott nähert, kommen einem manchmal die Tränen. Das ist ein Zeichen dafür, dass man alle Trauer und Sorgen, die man mit sich herumgetragen hat, endlich rauslassen kann. Wenn man zu Gott findet, müssen die Sorgen den Weg nach draußen finden, damit die Freude den Weg hineinfindet.«
Ellenor behauptet, Mattias helfe Mama, zu Gott zu finden. Das könne sie mit aller Gewissheit garantieren.
»Und auf diese Weise hilft er auch dir. Und Ingrid.«
Endlich nimmt Ellenor die Hand von Mamas Arm weg.
»Er freut sich darauf, dich zu treffen, und umso mehr, dich zu befreien.«
Immer dieses Gerede von Befreiung. Wovon soll Gott Mama denn befreien? Sie sind doch schon frei. Frei von Papas Schlägen und seiner Sauferei. Frei von Angst. Auf dem Paradieshof sind sie in Sicherheit, das hat sogar diese heisere Frau vom Sozialdienst gesagt. Tommy sieht Mama an, um es zu verstehen, aber sie weicht seinem Blick aus.
Schweigend nehmen sie ihre Mahlzeit ein. An der Wand tickt die Uhr. Ingrid bekommt Milch in den falschen Hals, Mama streicht ihr über den Rücken, als sie hustet, und niemand sagt mehr etwas, doch als Mattias sich die dritte Brotscheibe nimmt und dick mit Butter bestreicht, zwinkert Vivianne Tommy abermals verschwörerisch zu. Er gluckst leise vor sich hin, auch wenn es sich mittlerweile nicht mehr lustig anfühlt. Er will über Mattias’ Brote nicht lachen. Er will nur noch Mama umarmen, doch die sitzt stumm da, stochert mit der Gabel in ihrem Essen und starrt auf ihren Teller.
Mama ist mit den Gedanken ganz woanders. Sie sitzt auf ihrem Stuhl zwischen Tommy und Ingrid, aber anwesend ist sie nicht.