Cecilia Daniels parkt ihren Volvo V90 am Straßenrand und zieht den Zündschlüssel ab. Ein paar Hundert Meter weiter vorn ist auf der Straße mächtig was los: Die Umgebung ist weiträumig abgesperrt worden, Polizisten schlagen Holzpflöcke in die Grünstreifen, um die sie blau-weißes Absperrband wickeln.

Der Wagen piept, als sie die Tür aufschiebt. Obwohl sie im siebten Monat schwanger ist, bewegt sie sich geschmeidig. Ihr Bauch ist verhältnismäßig klein, die Hebamme sagt, dass das teils daran liegt, wie durchtrainiert Cecilia ist, teils aber auch daran, dass das Baby sehr klein ist; genau deshalb muss Cecilia auch einmal in der Woche zur Vorsorgekontrolle in die Entbindungsstation. Die Hebamme hält das für unerlässlich, weil das Wachstum im Verhältnis zu den Normwerten unterdurchschnittlich ist. Cecilia selbst macht sich keine Sorgen. Sowohl sie selbst als auch ihre vier Brüder waren bei der Geburt unterdurchschnittlich groß. Heutzutage sind sie alle fünf normal große Erwachsene. Zwei ihrer Brüder sind sogar Bodybuilder auf Profiniveau.

Calle Brandt steht ein Stück entfernt mit einem Kollegen zusammen. Als er Cecilia entdeckt, leuchtet sein Gesicht auf, und er kommt auf sie zu.

»Cecilia, verdammte Hacke!«

Sie lacht und geht ihm entgegen, breitet die Arme aus und gibt sich Mühe zu lächeln. Was hier passiert ist, liegt ihr schwer im Magen.

Calle umarmt sie und drückt sie fest an sich. Sie verschwindet regelrecht unter seinem roten Bart.

»Calle Brandt persönlich – wie schön, dich zu sehen!«

Sie ist sich nicht sicher, ob er sie überhaupt hören kann oder ob ihre Begrüßung an seiner Halsbeuge verhallt. Calle umarmt sie lange und schiebt sie dann von sich weg, hält sie mit ausgestreckten Armen an den Schultern fest und sieht ihr erst ins Gesicht, dann auf den Babybauch.

»Scheiße aber auch, bist du dick geworden! Herrlich! Ich freue mich für euch!«

Cecilia legt beide Hände an ihren Bauch.

»Danke. Wir freuen uns auch riesig!«

Calle nickt fröhlich.

»Kinna muss außer sich sein. Ich weiß ja, wie lange sie sich das gewünscht hat.«

Cecilia schluckt lautlos. Der ehrliche Enthusiasmus ihres Kollegen angesichts ihres Familienglücks ist wirklich rührend. So überschwänglich zu sein sieht Calle gar nicht ähnlich. Es fühlt sich ungewohnt und sehr nett an.

»Oh ja, sie ist wirklich überglücklich.«

Ihre Stimme zittert, auch wenn Cecilia nicht recht sagen könnte, warum. Der Moment hält ein, zwei Sekunden an. Dann wenden sie sich wieder dem Ernst der Lage zu.

»Du bist mit Lajka hier, oder?«

Cecilia nickt.

»Gehen wir es an. Eigentlich bin ich schon nicht mehr im Dienst, aber in so einer Situation kann ich doch nicht zu Hause bleiben.«

Calle sieht sie ernst an.

»Idun ist auch da, sie spricht gerade mit dem Einsatzleiter.«

Er nickt in Richtung eines Grüppchens aus Polizisten, die sich vor der Kita versammelt haben. Darunter entdeckt Cecilia auch Idun.

»Idun und ich warten darauf, wie der Marschbefehl lautet, und fahren gleich wieder zurück, um mit den Eltern des Mädchens zu reden. Ist Lajka im Auto?«

Er dreht sich zu Cecilias Fahrzeug um.

»Japp. Allerdings soll sie dort warten. Ich will mir erst anhören, was der Einsatzleiter zu sagen hat. So ist es besser.«

»Peppe leitet den Einsatz.«

Patrik Pettersson. Cecilia kennt ihn seit ihrer Hundeführerausbildung. Er hat einige der Kurse geleitet, in denen es um die Zusammenarbeit von Streifenpolizei und Hundeführern ging. Sie kann sich noch daran erinnern, dass er kompromisslos, streng und gerecht war – eine Kombination, die ihr sehr zusagt.

»Peppe, sagst du? Dann läuft das heute Nachmittag glatt.«

Gemeinsam schlendern sie auf die Kollegen zu, die vor dem Kitagebäude stehen.

*

»Alle mal herhören!«, sagt Peppe laut. Obwohl er nicht schreit, ist seine Stimme an diesem warmen Spätsommertag weithin zu hören. Der Kreis um den Einsatzleiter besteht aus gut vierzig Kollegen im Außendienst. Die Einzige, die ausschließlich im Revier arbeitet, ist Siv. Sie steht am Rand der Gruppe und sieht Peppe durch die Brille auf ihrer Nase an. Ein Stück weiter steht Idun. Sie sieht hoch konzentriert aus.

Cecilia Daniels ist die einzige Hundeführerin vor Ort. Allerdings hat sie von ihrem Chef gehört, dass drei weitere angefordert wurden. Einer fährt von Umeå hoch, zwei weitere haben sich von Kiruna aus auf den Weg gemacht. Letztere hatten an einer größeren Gebirgsübung des Militärs teilgenommen, haben dort aber ihre Sachen gepackt, um sich an der Suche nach der fünfjährigen Ellen zu beteiligen. Sie dürften erst in ein paar Stunden ankommen; Kiruna liegt immerhin gute dreihundert Kilometer entfernt. Damit kommen sie in etwa zeitgleich mit dem Hundeführer aus Umeå.

Peppe lässt seinen Blick durch die Runde schweifen.

»Wir suchen nach Ellen Bohm. Sie ist fünf Jahre alt und vor rund vierzig Minuten aus der Kindertagesstätte verschwunden. Mehrere Kollegen sind schon unterwegs, wir schließen uns in ein paar Minuten an. Wir gehen davon aus, dass Ellen gegen ihren Willen verschleppt wurde. Bei dem Vorfall wurde ein Mann gesichtet – der eine Erzieherin niedergeschlagen hat.«

Die Stimmung in der Gruppe ist angespannt. Alle sind nur mehr darauf fokussiert, was der Einsatzleiter zu sagen hat.

»Es gibt bestimmte Gründe, warum wir Ellen umgehend finden müssen. Sie hat nämlich Diabetes.«

Niemand sagt etwas. Die Stille ist ohrenbetäubend laut.

»Bei ihrem Verschwinden hat Ellen eine rosa Hose und einen lilafarbenen Pullover mit einem rosa Herz auf der Brust getragen. Sie hat langes, lockiges blondes Haar, das sie zum Zeitpunkt der Entführung zu einem hoch angesetzten Pferdeschwanz gebunden hatte.«

Tanja Larsson von der Polizei Boden hebt die Hand. Mit einem Nicken erteilt ihr Peppe das Wort.

»Versteh mich nicht falsch – aber die ›Gründe‹, von denen du sprichst … Das ist der Diabetes, richtig? Oder gibt es weitere Gründe für eine, sagen wir, noch akutere Lage?«

Tanja hat eine tiefe Stimme, fast wie die eines Mannes. Als Peppe antwortet, spricht er eine halbe Oktave tiefer. Unwillkürlich fragt sich Cecilia, ob er das bewusst macht.

»Ellens Krankheit spielt bei der Einschätzung der Lage natürlich eine wesentliche Rolle, allerdings wissen wir auch, dass sie eine sogenannte Insulinpumpe hat. Wir warten noch auf die Info einer Diabetesschwester aus Sunderby, die die Akte des Mädchens durchsieht und uns mitteilen will, welche Pumpe das genau ist. Außerdem wissen wir noch nicht, wann diese Pumpe zuletzt aufgefüllt wurde und wie viel Insulin somit noch übrig ist. Siv kümmert sich darum, sie rechnet jeden Moment mit einer Antwort.«

Peppe wirft Siv einen flüchtigen Blick zu und spricht weiter.

»Sobald wir wissen, wie lange das Insulin reicht, haben wir einen Zeitrahmen, auf den wir reagieren müssen – was aber natürlich in keiner Weise beeinflusst, in welcher Stärke wir fortfahren. Der Fall hat oberste Priorität, und alle verfügbaren Einheiten nehmen an der Suche teil. Wir bekommen Verstärkung aus den umliegenden Kommunen, eine Einheit aus Västerbotten ist in einem Bus unterwegs, und wir sprechen bereits mit weiteren Einheiten. Zwei Hubschrauber sind auch schon gestartet, weitere dürften sich anschließen, genau wie Militär und Reservisten sowie Missing People. Die Kita ist für die spurentechnische Untersuchung abgeriegelt worden, sodass wir unsere Einsatzzentrale in der benachbarten Schule einrichten. Ich halte direkten Kontakt zum Revier, das die Suche koordiniert. Ihr berichtet an mich, und ich wiederum berichte an Idun Lind und Calle Brandt – die oberste Einsatzleitung liegt bei ihrer Abteilung.«

Er verstummt und scheint kurz nachzudenken.

»Und um Tanjas Frage zu beantworten: Der Täter ist offenbar gewaltbereit. Er hat die Erzieherin, die Ellen befreien wollte, brutal attackiert. Das muss nicht notwendigerweise mehr bedeuten, als dass er in diesem Moment unter Strom stand und sich verteidigen wollte. Wir wissen nicht, ob er verwirrt ist, aus einem Impuls heraus gehandelt hat oder ob die Entführung geplant war. Das muss die Ermittlung erst zeigen. Aber wir gehen davon aus, dass er auf der Flucht ist und Ellen entweder mitgenommen oder sie irgendwo auf der Strecke zurückgelassen hat. Und wir gehen davon aus, dass wir das Mädchen lebend wiederfinden.«

Cecilia hebt die Hand.

Peppe starrt erst ihren Bauch an, ehe sein Blick zu ihrem Gesicht wandert.

»Daniels?«

»Wie weiträumig ist abgesperrt worden?«

Peppes Handy piept. Er zieht es hervor und überfliegt eine Nachricht, ehe er sich wieder an Cecilia wendet.

»Wir haben ein relativ großes Gebiet abgeriegelt, weil wir nicht wissen, ob der Mann zu Fuß oder in einem Fahrzeug geflüchtet ist. Es deutet derzeit nichts darauf hin, dass er ein Fluchtfahrzeug hatte, aber sicher sind wir uns da nicht.«

Cecilia hört ihm angespannt zu.

»Der innere Absperrungsbereich erstreckt sich von Heden bis Buddbyn, dann Erikslund bis raus nach Häggan – was wahrscheinlich übertrieben ist, aber so ist es nun mal. Außerdem haben wir zwei Sperren in Richtung Luleå und eine in Richtung Bodforsen-Ufer errichtet. Ein Team steht an der Straße, die am Aldersjön vorbeiführt. Dort gehen mehrere Waldwege ab, die als Fluchtwege infrage kommen könnten.«

Cecilia drückt den Rücken durch. Es zieht in der Leiste.

»Lajka und ich gehen in Richtung Sävast Zentrum, nehme ich an?«

Peppe hustet.

»Fürs Erste, ja. Wir warten wie gesagt noch auf weitere Hundeführer, und direkt zu Anfang müssen wir hier die nächste Umgebung absuchen. Wir brauchen Spuren und hoffen natürlich, dem Täter so auf die Fährte zu kommen.«

»Gibt es eine Täterbeschreibung?«

Idun hat die Frage laut gestellt, obwohl sie die Antwort schon kennt. Peppe räuspert sich. Er weiß, dass Idun nur um der Kollegen willen gefragt hat.

»Er wurde beschrieben als eins neunzig groß, sportlich, mit einem künstlichen Gesicht und dunklen Haaren aus Stoff.«

Obwohl niemand etwas sagt, ist die Verwirrung schier greifbar.

»Ich ahne, was ihr jetzt denkt. Die Beschreibung ist auch für uns nicht ganz klar. Die Erzieherin, die den Täter beschrieben hat, stand schwer unter Schock. Sie hat einen heftigen Schlag gegen die Schläfe bekommen. Sobald wir sie von Neuem befragen können, gebe ich ihre Beschreibung an euch weiter.«

Ein paar Sekunden verstreichen, ehe der Einsatzleiter sein Briefing beendet.

»Das war’s. Ihr wisst, was ihr zu tun habt.«

Cecilia hält auf ihren Wagen zu, um Lajka zu holen. Die beiden arbeiten jetzt seit vier Jahren zusammen und sind ein eingespieltes Team. Es ist, als würden sie vollkommen wortlos miteinander kommunizieren. Nicht selten denkt Cecilia über ihre nächsten Schritte bei einer Suche nach und hat Lajka noch gar kein Kommando gegeben, trotzdem weiß die Hündin auf unerklärliche Weise, was als Nächstes zu tun ist. Es ist so, als könnte Lajka Cecilias Gedanken lesen.

Sie hat ihr Auto erreicht, und im selben Moment, da sie den Kofferraum öffnet, schaltet sich die Klimaanlage ab. Lajka steht in der Box auf, wedelt und sieht Cecilia unverwandt an, als diese die vordere Klappe aufmacht. Die Hündin wartet nur auf das Kommando, dass sie rausdarf, und als es so weit ist, springt sie nach draußen und setzt sich sofort neben ihre Hundeführerin.

Cecilia greift zur Leine und geht leicht schwerfällig in die Hocke. Sie sieht der Hündin in die feucht-dunklen Augen. Die schwarze Hundeschnauze nimmt bereits Witterung auf.

»So, meine Liebe, jetzt machen wir uns auf die Suche nach Ellen, okay?«

Die Hündin hört auf zu schnuppern. Stattdessen starrt sie Cecilia unverwandt an, die weiß, dass der ausschließliche Fokus des Tiers von nun an auf sie gerichtet ist. Dass sie beide zusammenarbeiten, ist wichtiger als alles andere. Und wenn jemand eine verschleppte Fünfjährige finden kann, dann Cecilia und Lajka.

Erneut zieht es in den Leisten, als Cecilia sich wieder aufrichtet. Der Bauch kommt ihr plötzlich schwer vor, auch wenn sich der restliche Körper stabil anfühlt.

»Komm, Schätzchen.«

Synchron setzen sie sich in Bewegung. Aus einigem Abstand sieht sie, wie Idun Lind und Calle Brandt in ein Auto einsteigen. Mit quietschenden Reifen biegen sie auf den Sävastleden in Richtung Boden ab. Cecilia schluckt trocken. Hoffentlich finden sie Ellen.