Bredåker 1994 

Tommy steht auf Zehenspitzen auf einem Stuhl im Gemeindesaal. Wie viele andere Vierzehnjährige ist auch er schlaksig geworden und hat Arme und Beine nur schlecht unter Kontrolle. Die Ballons, die er unter der Zimmerdecke befestigen will, wehen in alle Richtungen. Genervt mahlt er mit den Zähnen und streckt sich, so weit er kann. Mit der Fingerspitze erreicht er gerade so den Haken an der Decke, versucht, die Ballonschnur darüberzuschieben, aber ein ums andere Mal misslingt es ihm. Die Schulter tut von der Anstrengung weh, und er ist drauf und dran aufzugeben, als er mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Schlinge plötzlich doch noch an die richtige Stelle bugsiert.

»Schau an!«

Er zuckt zusammen. Neben dem Stuhl stehen Vivianne und ihre vierjährige Tochter Sara. Vivianne lächelt zu Tommy empor.

»Sieht gut aus.«

Sie streckt ihm die Hand entgegen, um ihm von seinem Stuhl zu helfen. Wortlos sieht er darüber hinweg und springt lautlos hinunter. Ohne eine Miene zu verziehen, lässt Vivianne ihre Hand sinken.

»Das wird eine schöne Feier für deine Mutter. Dass sie ausgerechnet heute Geburtstag hat! Und dass ihr jetzt schon fast fünf Jahre hier seid! Ist das nicht fantastisch?«

Sie verschränkt die Hände hinter dem Rücken. Tommy zupft einen losen Faden aus seinem Pullover. Geduldig wartet Vivianne darauf, dass er antwortet. Als er nichts sagt, kommt sie einen Schritt näher.

»Gott hat euch hergeführt. Dafür solltest du ihm ein bisschen mehr Dankbarkeit erweisen.«

Tommy starrt zu Boden. Er weiß, dass die Gemeinde es nicht gutheißt, dass er noch immer nicht zu Gott gefunden hat. Seit fast drei Jahren besucht er nun jeden Gottesdienst, spricht Tischgebete und verkneift sich das Fluchen. Aber er hat sich nach wie vor nicht taufen lassen, obwohl Mattias ihn wiederholt dazu ermuntert hat.

Tommy bleibt schweigend stehen. Die Ballons schaukeln über ihm hin und her.

Doch Vivianne reicht sein Schweigen nicht.

»Du solltest es deiner Schwester gleichtun. Sie hat den rechten Weg eingeschlagen. Elf Jahre – und unserem Herrn schon so nah! Elf Jahre, und schon Teil von Gottes Familie. Gerade du, der du genau weißt, was Bosheit bedeutet, solltest doch wohl Verstand genug haben, um die Liebe zu wählen?«

Er fragt sich, was für eine Art Bosheit Vivianne meint, sagt aber nichts. Er weiß nur zu gut, dass Stille die Antwort ist, die Vivianne am meisten missfällt.

Es dauert nur ein paar Sekunden, bis sie erneut einen Schritt auf ihn zumacht. Sara tapst ihr hinterher und krallt sich in den langen Rock ihrer Mutter. Vivianne kommt mit dem Gesicht ganz nah an Tommy heran.

»Dir sollte man mal eine Lektion erteilen.« Und dann die feindselige Fortsetzung: »Eine richtig spürbare Lektion.«

Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und geht. Tommy sieht ihr hinterher, der lange Rock weht um ihre Beine, und Sara muss sich sputen, um mit ihr Schritt zu halten.

Im nächsten Moment zuckt Tommy wieder zusammen, als direkt hinter ihm Ingrid das Wort ergreift. Er hat sie nicht kommen gehört.

»Du solltest Gott entgegentreten, Tommy. Nichts wird je besser, solange du Gott nicht entgegentrittst.«

Lange sieht er die Person an, die er von allen auf der Welt am meisten liebt. Ihm schnürt sich vor Sorge die Kehle zu. Ingrid ist jetzt elf Jahre alt und hat sich verändert. Sie hat diesen dauerhaft abwesenden Blick – seit sie von den zwei sogenannten Tauftagen wiederkam.

Anfangs hat Tommy geglaubt, dass sie vielleicht krank werden würde, aber als dann mehrere Tage vergangen waren und der Blick immer noch nicht wieder der alte war, dämmerte ihm, dass etwas passiert sein musste. In den darauffolgenden Wochen gab er sich alle Mühe, sie dazu zu überreden, ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Doch Ingrid weigerte sich zu antworten. Erst nachdem die Taufe im Gemeindesaal vollzogen war, wo Mattias ihr Wasser über den Kopf träufelte, schien sich Ingrid ein wenig zu entspannen. Was sich in fünf langen Tagen des Schweigens äußerte. Gedankenversunken lag sie auf ihrem Bett in ihrem Familienzimmer. In der Nacht, als sie wohl glaubte, die anderen würden schlafen, sah Tommy, dass sie am Daumen lutschte, was sie nicht mehr getan hatte, seit sie ganz klein war; zuletzt hatte sie am Daumen gelutscht, kurz bevor ihr Vater sie grün und blau geschlagen hatte, weil sie mit diesen »obszönen Kindereien« aufhören sollte. Weder Ingrid noch Tommy hatten gewusst, was »obszön« bedeutete, aber in Anbetracht des blauen Auges und eines monatelang nicht heilenden Arms war zumindest klar, dass es nichts Gutes heißen konnte. Und Papas Strafe zeigte Wirkung: Ingrid hörte mit dem Daumenlutschen auf.

Jetzt steht sie neben Tommy. Er will nichts lieber, als ihre Hand zu nehmen, wie er es früher gemacht hat. Doch das geht jetzt nicht mehr. Das Leben auf dem Paradieshof dreht sich darum, Trost bei Gott zu finden, nicht beieinander. Tommy ist sich nicht sicher, ob seine Schwester tatsächlich zu Gott gefunden hat oder ob sie nur so tut. Vielleicht ist das ihre Art, in dieser Welt zu überleben, in die sie hineingeraten sind. Er selbst kann Gottes Nähe nur allzu gut spüren – weil sie ihm nichts weiter als erstickend vorkommt. Wenn er diese Befreiung durch den Herrn empfinge, von der alle reden, würde er schlichtweg eingehen. Ein Schwur zu Gott, und sein Leben wäre zu Ende.

Tommy sieht sich um. Alle im Raum scheinen mit den Vorbereitungen für Violas Geburtstag beschäftigt zu sein. Als er sich vergewissert hat, dass niemand guckt, streckt er die Hand aus und streift Ingrids Finger. Er sagt kein Wort. Und auch Ingrid bleibt still, doch in ihrem Gesicht flackert kaum merklich etwas auf, was sofort wieder erlischt.

Schau einer an.

Dann kann seine kleine Schwester ja doch seine Zuwendung spüren.

Wenn Ingrid nicht wäre, hätte Tommy den Paradieshof längst verlassen. Keine Minute länger wäre er in dieser gottverlassenen Hölle geblieben.

Aber Ingrid zurückzulassen ist keine Alternative.

Lieber geht er hier ein.