Als Sara Selberg aufwacht, hat sie keine Ahnung, wo sie sich befindet. Das Letzte, woran sie sich erinnern kann, ist die Parkbank unten am Spazierweg und die Cola, die sie neben sich abgestellt hat. Ein Mann hat sich zu ihr auf die Bank gesetzt, allerdings auf Abstand, und gesagt hat er nichts. Sara hat ein Buch gelesen und an ihrer Cola genippt. Der Mann schien eine Zeit lang die Vögel draußen auf dem See zu beobachten, stand dann wieder auf und ging weiter. Sosehr Sara versucht, sich zu konzentrieren – an das, was danach war, kann sie sich nicht erinnern.
Und sie hat Kopfschmerzen. Ihr Mund ist wie ausgedörrt. Sie verspürt eine leichte Übelkeit, als sie versucht, sich aufzusetzen – sie scheint auf einem schmalen Bett zu liegen. Sie kneift die Augen zusammen und lässt den Blick über die Wandpaneele schweifen. Unter der Decke hängt eine Lampe, die den kleinen Raum in kaltes Licht taucht. Abgesehen vom Bett ist das Zimmer leer.
Mehr kann sie nicht feststellen, weil von draußen ein Geräusch zu ihr hereindringt. Es klingt wie Schritte auf einer Treppe. Das Knarzen kommt näher. Schlagartig gerät sie in Panik, und lautlos schiebt sie die Beine über die Bettkante, weil sie aufstehen will. Doch ihre Beine wollen sie nicht tragen. Langsam lässt sie sich auf den Boden gleiten. Ihr langer Rock liegt unter ihr in Akkordeonfalten. Der Boden fühlt sich kalt an. Sie bekommt eine Gänsehaut.
Die Schritte halten vor der Tür an. Sara entdeckt eine merkwürdig platzierte Luke auf halber Höhe. Noch ist die Luke geschlossen, und sie konzentriert sich ganz auf die Person, die dort draußen steht, weil ihr mit einem Mal dämmert, dass sie hier drinnen eingeschlossen worden sein muss.
Ein paar Sekunden lang passiert gar nichts. Die Zeit fühlt sich lang an, und sie hört nur ihren Herzschlag, der vom Brustkorb bis hoch in den Hals hämmert.
Dann geht die Luke auf. Sara sieht, wie sie zur Seite klappt und dahinter ein rotes Flanellhemd erscheint. Das Hemd bewegt sich nach unten, dann sieht sie einen Hals und dann Kinn, Mund und schließlich die Augen.
Und schlagartig hört das Hämmern ihres Herzens auf.
In ihr herrscht völlige Stille, und Panik ergreift schmerzhaft von ihr Besitz.
Sara glaubt, sie muss sterben.
Der Mann sieht sie forschend an. Es ist der Mann von der Parkbank. Sara ist sich nicht sicher, ob sie noch atmet. Schweiß rinnt ihr über den Rücken.
Der Mann sagt kein Wort. Sara ebenso wenig. Denn was sagt man schon, wenn man nicht ansatzweise begreift, was gerade vor sich geht?
Dann richtet er sich wieder auf, das Gesicht verschwindet, und wieder ist nur das Flanellhemd zu sehen. Die Luke geht zu, und Sara hört ein metallisches Klicken. Plötzlich hat sie quälenden Durst. Ihr Hals ist trocken, die Zunge fühlt sich geschwollen an, und sie will schlucken, schafft es aber nicht. Es ist kein Speichel zum Schlucken mehr übrig.
Die Tür geht auf.
Sara hat solche Angst, dass sie sich fast einnässt.
Der Raum gerät ins Wanken, das Licht verändert sich, die Wände werden wellig …
Sie ahnt, dass sie hyperventiliert. Schließt den Mund und versucht, durch die Nase zu atmen, nötigt sich, langsamer Luft zu holen; sie darf jetzt nicht ohnmächtig werden, sie muss bei Sinnen bleiben – wenn sie ohnmächtig wird, kann sie sich nicht verteidigen.
Der Mann betritt das Zimmer. Sie glaubt, dass er sich langsam bewegt, ist sich aber nicht sicher. Es sieht aus, als würde er etwas vor sich hertragen, auch wenn Sara nicht erkennen kann, was das ist – ein verwaschenes, unförmiges Bündel, das sich an den Rändern wölbt.
Der ganze Raum ist wie vernebelt, die Farben verschwimmen, und keine einzige Kontur ist mehr gerade. Sara will aufspringen, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht mehr. Am liebsten würde sie schreien, aber auch das gelingt ihr nicht. Ihr Hals fühlt sich an wie Sandpapier. Wenn sie nur etwas trinken könnte, wenn er sie nur laufen ließe, wenn sie nur überleben dürfte … Sie würde rennen bis in alle Ewigkeit und nie wieder stehen bleiben. Sich nie wieder umsehen.
Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie ahnt, dass sie drauf und dran ist, ohnmächtig zu werden. Jemand wimmert, und sie glaubt, dass sie es selbst ist, allerdings ist sie sich auch dabei nicht sicher. Sie hat einen metallischen Geschmack im Mund, irgendwas kommt auf sie zu, ihr Sichtfeld ist inzwischen winzig, die Ränder krümmen sich zusehends ein. Ihre Lippen brennen, und die Arme fühlen sich taub an. In den Fingern kribbelt es wie Kohlensäure.
Etwas Kantiges berührt ihre Lippen. Sara zuckt zusammen, als es um ihren Mund herum knistert – es hört sich an wie eine Papiertüte. Dann spürt sie eine stützende Hand im Nacken. Bringt er sie jetzt um? Geht so ihr Leben zu Ende – auf einem kalten Boden mit einer Papiertüte vor dem Gesicht?
Dann strömt die Angst nur so aus ihr heraus. Sie kann keinen Widerstand mehr leisten.
Mama.
Ich liebe dich.
Sekunden verstreichen. Werden zu Minuten, und langsam hört alles auf, sich zu drehen. Die Ränder sind immer noch verschwommen, aber endlich klart sich ihr Sichtfeld auf. Der Tunnel weitet sich, die Dunkelheit zieht sich zurück.
Sara atmet in die Papiertüte. Das Kribbeln in ihren Fingern lässt allmählich nach. Sie schließt die Augen und versucht, ruhig zu atmen, und als es ihr endlich gelingt, spürt sie, wie sich ihr Körper entspannt. Sie wird nicht sterben. Zumindest nicht jetzt sofort.
Sie blinzelt langsam. Der Schrecken hämmert noch immer in ihrer Brust. Aber sie lebt. Sie lebt noch. Und wer hält einem, den man umbringen will, erst noch eine Papiertüte vor den Mund?
Sie blickt auf, sieht ihm ins Gesicht. Er hat graue Augen. Freundliche Augen. Trotzdem liegt in dem Blick eine gewisse Härte.
Sara versucht zu schlucken, aber ihr Hals ist wie zugeschnürt. Sie hustet trocken, und es fühlt sich an, als müsste sie sich übergeben.
Er hält ihr eine Wasserflasche hin. Sie reißt sie ihm aus der Hand, dreht den Verschluss auf und nimmt gierige Schlucke. Das Wasser ist kalt, gut, sie schluckt hektisch, Wasser rinnt ihr übers Kinn. Die dünne Bluse wird nass, sie schließt die Augen und trinkt weiter so viel, wie sie nur kann.
Als sie nichts mehr in sich hineinbekommt, setzt sie die Flasche auf dem Boden ab. Sie atmet durch den Mund, holt tief Luft. Ihre Gedanken rasen, sie kann sie nicht sortieren.
Er überlässt ihr die Flasche. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie er zur Tür zurückweicht. Er geht und zieht die Tür hinter sich zu. Es klickt, als er den Schlüssel herumdreht. Auch die Luke klappt wieder zu.
Sie bleibt mit zu Boden gerichtetem Blick sitzen, atmet wieder durch die Nase und umklammert die Wasserflasche. Er hat ihr Wasser gegeben. Jemandem, den man umbringen will, gibt man doch kein Wasser? Das tut man doch nicht? Sie darf also noch ein bisschen leben. Sie darf doch bestimmt noch ein bisschen leben?
Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt sie den Blick. Sie weiß, dass die Tür verschlossen ist, sie hat gehört, wie er sie verriegelt hat. Trotzdem stellt sie die Flasche neben sich auf den Boden und stemmt sich mühsam hoch. Ihre Beine zittern. Die Muskeln tun weh, als sie sich auf die Tür zuschleppt. Sie legt die Hand an die Klinke und drückt sie nach unten.
Natürlich ist die Tür verschlossen.
Tränen steigen ihr in die Augen. Dann schlägt die Angst um in Wut. Sie wallt auf wie ein Feuer, in das man Benzin kippt. Sie ist rasend vor Wut, wirft sich gegen die Tür und schreit, so laut sie kann. Hämmert und tritt und heult und schreit.
»Lass mich raus, du Arschloch! Lass mich hier raus! «
Die Tür knackt bloß, gibt aber keinen Millimeter nach. Bebend vor Zorn wischt sie die Tränen weg. Wer ist dieser Mann? Warum tut er ihr so etwas an?
Erschöpft dreht sie sich um und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür. Langsam rutscht sie nach unten. Sie spürt, wie ihr Schulterblatt über die Luke gleitet.
Sie atmet schwer. Nach einer Weile legt sie sich auf den Boden. Er ist steinhart und immer noch kalt.
Gegenüber an der Wand entdeckt sie zwei weitere Wasserflaschen und eine Tüte mit Bananen. Die Flaschen sind beschlagen, hier und da läuft Kondenswasser daran hinab, sodass sich dünne Spuren auf der Oberfläche abzeichnen.
Sie sieht sie erst jetzt.
Dann bleibt ihr Blick an etwas auf dem Bett hängen. Irgendwas liegt dort, etwas, was dort zuvor nicht gelegen hat. Lilafarbener Stoff blitzt unter der Decke hervor. Sara blinzelt überrascht. Was hat er dort hingelegt? Ist das ein Kissen?
Sie winkelt die Beine an und versucht aufzustehen. Sie zittert am ganzen Leib, und ihre Hand tut höllisch weh. Sie entdeckt Blut an ihren Fingerknöcheln. Ein Tropfen ist über den Handrücken gelaufen und hat die Bluse verschmiert.
Die Beine wollen ihr nicht gehorchen, doch sie nötigt sie, stützt sich mit der Hand an der verschlossenen Tür ab, um nicht hinzufallen, und wünschte sich, es gäbe einen Tisch oder einen Stuhl, an dem sie sich festhalten könnte. Dann stemmt sie sich gegen die Tür und versucht zu fokussieren. Presst die Hände auf die Lider, drückt fest darauf; es tut weh, fühlt sich aber zugleich gut an. Kleine Lichtflecken tanzen vor ihren Augen. Weiter hinten hat sie immer noch Kopfschmerzen.
Dann sieht sie erneut zum Bett. Das lila Kissen rührt sich. Die Bewegung ist minimal, trotzdem hat Sara sie gesehen. Es gellt in ihrem Kopf, als ihr Herz plötzlich begreift, was die Augen bereits erkannt haben. Der Mann hat Wasser, Obst und ein lila Kissen gebracht. Ein lila Kissen mit Locken und kleinen, rundlichen Händchen.
Sara fühlt sich, als wäre aller Sauerstoff aus dem Zimmer entwichen. Zum ersten Mal, seit sie in dieser fremden Umgebung aufgewacht ist, hat sie mehr Angst um jemand anderen als um sich selbst.