Sara ist verzweifelt. Mit einer Mutter, die die Gemeinde mit eiserner Hand führt, hat es für sie zweifelsohne Momente im Leben gegeben, in denen sie sich gewünscht hätte, sie wäre eine andere. Oder zumindest Momente, in denen sie woanders sein wollte. Doch jetzt ist ihr klar, dass nichts von dem, was sie früher erlebt hat, sich mit ihrer aktuellen Lage messen kann. Das hier ist das Schlimmste überhaupt.
Das Mädchen ist erst seit ein paar Minuten bei Bewusstsein. Nach der ersten Verwirrung fokussierten die Augen, dann nahm die Angst überhand. Panisch setzte sie sich im Bett auf, der Blick flackerte durch das Zimmer, zu Sara, wieder durchs Zimmer – und dann kamen die Tränen, die ihr nur eine Sekunde später über die runden Wangen kullerten.
Sara weiß nicht, was sie tun soll. Sie hat oft Kinder um sich, aber gegen ihren Willen mit einem wildfremden Kind eingesperrt zu sein ist eine völlig absurde Situation.
Vorsichtig geht sie am Bett in die Hocke. Das Mädchen sitzt wie versteinert da und starrt sie verängstigt an. Die Unterlippe zittert. Die kleinen Hände umklammern krampfhaft die molligen Unterarme.
»Hej. Ich heiße Sara.«
Sie spricht, so sanft sie nur kann. Das Mädchen rührt sich noch immer nicht.
»Und wie heißt du?«
Es zieht in den Waden. Bedächtig lässt Sara sich auf dem Boden nieder, sodass sie die Beine zur Seite ausstrecken kann.
»Ich weiß nicht, warum wir zwei in diesem Zimmer sind. Ich würde gern von hier weggehen, aber das funktioniert nicht, weil die Tür abgeschlossen ist. Weißt du, wer dich hierhergebracht hat?«
Sie muss sich mächtig zusammenreißen, um Ruhe zu bewahren. Das Mädchen blinzelt ein paarmal. Sara glaubt fest daran, dass es ihr zuhört.
Die Antwort kommt geschluchzt.
»Ich hab geschlafen.«
Sara versucht, möglichst beherrscht zu nicken, doch sie zittert so heftig, dass es fast wie krampfhaftes Zucken aussieht. Das Mädchen sagt nichts mehr.
»Willst du mir nicht erzählen, wie du heißt?«
Sie versucht, ganz ruhig zu sprechen, um der Kleinen nicht noch mehr Angst einzujagen.
»Meine Oma sagt, dass ich nich’ mit Fremden sprechen soll.«
Sara seufzt. Das Mädchen scheint auf der Hut zu sein. Das ist doch ein gutes Zeichen?
»Klingt, als hättest du eine sehr kluge Oma. Ist sie nett?«
Das Mädchen nickt. Mit den kleinen Händchen wischt sie sich über die Wangen. Ihr Körper wird immer noch von Schluchzern geschüttelt, wie sie Kinder ausstoßen, die gerade geweint haben.
Sara muss ihrerseits die Tränen zurückhalten. Wie sonst soll sie das hier lösen? Was hat der Mann mit den grauen Augen mit ihnen vor?
Das Mädchen reckt den Hals, um über Saras Schulter zu sehen, und schaut sich hilfesuchend um.
»Können wir durch die Tür gehen?«
Sara schüttelt langsam den Kopf.
»Nein, leider nicht. Die Tür ist abgeschlossen, und ich habe keinen Schlüssel.«
»Hast du den verloren?«
Das Mädchen sieht sie offen an, und in seine Stimme hat sich ein Hauch Mitleid geschlichen, als hätte es so etwas schon mal erlebt. Ihr schnürt sich die Kehle zusammen. Was Kinder doch alles verstehen und wofür sie Mitgefühl aufbringen.
Erneut schüttelt sie den Kopf.
»Nein, ich habe den Schlüssel nicht verloren. Die Tür ist von außen abgeschlossen, und ich kann sie von hier aus nicht öffnen. Ich wünschte mir, ich könnte es, aber ich kann nicht.«
Das Mädchen sagt nichts weiter. Sara, die ebenso wenig weiß, was sie noch sagen soll, bleibt schweigend auf dem kalten Boden sitzen. Das Mädchen zupft an ihrem Pulloversaum, und Sara sieht, dass die Kleine hellrosa lackierte Fingernägel hat. Der Nagellack ist akkurat aufgetragen.
»Darf ich fragen, wie du heißt?«
Sie lässt die Fingernägel nicht aus den Augen und hofft, dass das Mädchen die Frage so auffasst, als wäre sie rein beiläufig gestellt.
»Ellen«, antwortet sie und lässt von ihrem Pullover ab.
»Du hast schöne Fingernägel, Ellen.«
Ellen nickt, sagt aber nichts.
»Wie alt bist du? Vier?«
Ellen schüttelt den Kopf und hebt die kleine Hand. Sie spreizt alle fünf Finger ab.
»Du bist fünf?«
Ellen nickt.
Sara kann sich nur schwer konzentrieren. Wie lange sollen sie hierbleiben? Wie lange ist sie überhaupt schon hier? Wie viel Uhr ist es? Ist es Tag oder Nacht?
»Meine Mama hat die angemalt. Mama Anna.«
Ellens Unterlippe fängt an, heftig zu zittern.
»Ich will zu meiner Mama!«
Und dann fließen erneut Tränen. Und auch Sara kann nicht länger an sich halten, auch sie fängt auf dem Boden neben dem Bett an zu weinen.
Vorsichtig streckt sie die Hand aus und streicht Ellen über das Bein. Sie will ihr sagen, dass sie sie verstehen kann, dass auch sie sich wünscht, Mama Anna wäre da. Doch ihr Hals ist so zugeschnürt, dass sie nichts herausbringt, sie ist nicht einmal mehr dazu imstande, sich hinreichend zusammenzureißen, um das Mädchen zu trösten.
Gemeinsam sitzen sie in dem verschlossenen Zimmer und weinen. Keine der beiden weiß, warum sie hier sind. Und beide sehnen sich nach ihrer Mutter.