Das Fahrzeug gerät mächtig ins Schlingern, als Calle mit hoher Geschwindigkeit um die Kurve fährt. Idun stemmt die Hand gegen das Wagendach und die Füße in den Boden, um die Kurvenlage auszugleichen. Unwillkürlich hält sie die Luft an und atmet erst wieder aus, als es ihr fast die Lunge zerreißt.
Sie biegen auf die 97 in Richtung Boden ab. Im selben Moment, da der Wagen wieder gerade auf der Straße liegt, tritt Calle das Gaspedal durch. Idun schaltet Blaulicht und Sirene an. Der Tacho steht bei fast zweihundert Sachen, und das blaue Licht wirft glitzernde Schatten über den dunklen Asphalt.
Das Funkgerät knackt. Dann ist Sivs ernste Stimme zu hören.
»Vidar ist bei Nadja. Er ist an sein Handy gegangen, als ich ihn angerufen habe – und Nadja hat bestätigt, dass sie bei ihr in der Wohnung sind. Eine Streife ist auf dem Weg.«
Ein paar Sekunden lang herrscht Stille.
»Laut GPS seid ihr bei der Geschwindigkeit, in der ihr unterwegs seid, in sechs Minuten vor Ort.«
Weder Idun noch Calle sagen etwas. Beide wissen, dass Siv es einfach nur loswerden wollte und keine Reaktion erwartet.
»Ihr solltet auf die Verstärkung warten. Und das meine ich ernst. Aber die ist mindestens fünfzehn Minuten entfernt.«
Auch diesmal antworten die beiden nicht.
Vor ihnen taucht die Abfahrt in Richtung Sävast auf, und Idun spürt die Anspannung am ganzen Leib. Calle hält das Lenkrad umklammert. Wieder ein Knacken aus dem Funkgerät.
»Na dann. Verstärkung ist, wie gesagt, unterwegs. Ich habe sämtliche Einheiten alarmiert, aber ihr seid eindeutig am nächsten dran.«
Wieder das Knacken, dann ist Siv weg.
Sie nähern sich der Abzweigung. Calle lehnt sich zur Seite, ehe er das Steuer nach links reißt, ohne dabei nennenswert vom Gas zu gehen. Idun schafft es gerade rechtzeitig, sich gegen das Wagendach zu stemmen, um zu verhindern, dass sie sich den Kopf am Fenster anschlägt. Sobald sich die Straße gerade vor ihnen erstreckt, stellt sie die Sirene aus. Sie wollen den Eindringling schließlich nicht vorwarnen.
Knapp hundert Meter vor dem gelben Haus der Vendels wird Calle langsamer. Er hält am Straßenrand, und sofort springen sie raus, laufen geduckt in Richtung des Hauses und suchen unterdessen mit dem Blick die umliegenden Rasenflächen ab. Als sie nur noch knapp zwanzig Meter von der Auffahrt der Vendels entfernt sind, greifen beide nach hinten und ziehen ihre Dienstwaffen. Es knistert in Iduns Kopfhörer. Sie lauscht, aber es meldet sich niemand. Vielleicht ist Siv an ihrem Schreibtisch bloß an den Schalter gekommen? Idun weiß, dass Siv über ihr GPS-unterstütztes Kommunikationssystem gesehen hat, dass sie vor Ort sind. Sie kennt ihre Kollegin – wie ein Falke wird Siv jetzt über den Einsatz wachen und jederzeit bereit sein, die Kommunikation zwischen den operativen Einheiten zu koordinieren.
Als sie den Rasen der Vendels betreten, brennt im Haus nirgends Licht. Die Dunkelheit erschwert es ihr und Calle, etwas zu erkennen – etwas, was ihnen einen wichtigen Hinweis auf den Eindringling geben könnte. Der einzige Vorteil ist, dass auch die Gartenbeleuchtung abgeschaltet ist, allerdings dürften sie im Licht der Straßenlaternen von drinnen trotzdem zu sehen sein.
Sie laufen die Auffahrt hinauf und entsichern die Waffen. Insgeheim ist beiden klar, dass Siv recht hat: Sie sollten auf die Kollegen warten. Allerdings wissen sie auch, dass das derzeit keine Option ist.
Auf den letzten Metern laufen sie nur mehr auf den Fußballen, sodass sie möglichst kein Geräusch mehr machen. Idun wirft einen Blick zurück zum Haus der Hofverts. Hinter den Küchengardinen kann sie eine Person erahnen, ganz bestimmt Caroline, die in einer Mischung aus Schrecken und Faszination den Einsatz von ihrem sicheren Fensterplatz aus verfolgt.
Calle läuft um die Veranda herum und im Laufschritt bis zur rückwärtigen Ecke des Hauses. Mit dem Blick sucht er den Garten dahinter ab. Binnen weniger Sekunden ist er zurück an der Eingangstür. In der Zwischenzeit hat Idun die Vorderfront abgesucht – geduckt, damit sie durch die großen Fenster in der Fassade nicht sofort entdeckt wird. Ihre Beine zittern vor Anspannung, als sie – immer noch geduckt – die letzten Schritte zur Eingangstür läuft.
Idun und Calle postieren sich zu beiden Seiten der Tür und halten die Waffen beidhändig auf Schulterhöhe in High-ready-Position. Idun atmet durch die Nase ein und durch den Mund aus, um so schnell wie möglich Sauerstoff zu tanken. Sie wird sich um den Bereich vor der Tür kümmern und weiß, dass Calle sich auf das Dahinter konzentriert – nach Jahren als Partner wissen sie ganz genau, wie der andere tickt. In Situationen wie dieser sind Absprachen inzwischen überflüssig.
Mit einer einzigen behänden Bewegung hat Calle die Schultern gestrafft und tritt vor das Fenster in der Eingangstür – und sofort wieder beiseite. Das macht er noch zweimal, dann tippt er mit dem Fuß gegen Iduns Schuh. Ohne den Blick vom Rasen loszureißen, nimmt Idun eine Hand herunter, drückt lautlos die Klinke nach unten, die Tür schwingt auf, und als Idun blitzschnell nach hinten blickt, ist Calle bereits eingetreten. Er steht kniend abgestützt mit der Pistole im Anschlag im Flur.
Innerhalb einer Sekunde hat er sichergestellt, dass der Flur verwaist ist. Er kommt auf die Beine, ohne die Ausrichtung seiner Waffe oder auch nur die Blickrichtung zu verändern. Er sieht Idun nicht an, trotzdem weiß sie genau, was er als Nächstes vorhat.
Zwei Schritte tiefer in den Flur hinein. Und Idun rückt auf.
Leise macht sie die Eingangstür zu.