Niemand im Besprechungsraum sagt etwas. Das einzige Geräusch ist das Prasseln des Regens, der gegen die Fensterscheiben schlägt. Riesige Tropfen landen auf den Scheiben und hinterlassen unzählige Rinnsale auf dem schmutzigen Glas. Das Licht, das von draußen hereinfällt, ist streifig und grau.

Am Tischende sitzt Anders. Er sieht noch zerzauster aus als sonst, sofern das überhaupt möglich ist. Sein Hemd – anscheinend dasselbe, das er gestern getragen hat – ist völlig zerknittert.

Am anderen Tischende sitzt Siv. Im Unterschied zu ihrem Chef sieht sie gepflegt aus: Das kurze Haar ist frisch gewaschen, sie trägt eine dunkle Bluse, einen knielangen Rock und hellgraue Strumpfhosen. Sie ist dezent geschminkt und hat kleine Perlenohrringe angelegt. Die schwarze Brille sitzt wie üblich auf der Nasenspitze, was ihr ein oberlehrerinnenhaftes Aussehen verleiht. Wer sie nicht besser kennt, könnte meinen, die ganze Situation ließe sie kalt, doch die Kollegen am Tisch wissen es besser. Das strenge Äußere und die zusammengepressten Lippen zeugen von innerem Aufruhr, sie zeigt es nur nicht nach außen.

An der Längsseite des Tisches sitzt Idun mit krummem Rücken und ringt die Hände. Ihr Blick ist auf die Tischplatte gerichtet, die Augen sind glasig, die Wangen blass.

Siv tippt sich nachdenklich mit dem Stift an die Wange. Die Spitze auf der gespannten Haut verursacht ein hohles Geräusch. Sie hört sofort damit auf, als es an der Tür klopft. Ein paar Sekunden verstreichen. Ohne dass irgendwer auch nur Anstalten gemacht hätte nachzusehen, wer draußen ist, geht die Tür auf, und der bärtigste Mann, den Siv je gesehen hat, betritt den Besprechungsraum. Er hat rabenschwarze Haare, der Bart ist ebenso schwarz und obendrein dicht. Die Wangenknochen sehen grob aus, die Augen sind dunkel, genau wie der Teint, obwohl der Mann nicht sonnengebräunt aussieht. Er ist muskulös, trägt schwarze Chinos und ein weißes Hemd. Die Ärmel hat er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Die beiden obersten Hemdenknöpfe sind offen. Eine breite Kette liegt um seinen Hals. Er trägt feste Schuhe, die draußen im Regen nass geworden sind, wie Siv feststellt.

Der Mann bleibt an der Tür stehen, lässt sie aber hinter sich zufallen. Dann sieht er zu Siv. Trotz seines ernsten Gesichtsausdrucks kann sie die feinen Lachfältchen um die dunklen Augen deutlich erkennen. Unter anderen Umständen hätte Siv ihn mit ihrem strahlendsten Lächeln begrüßt, doch für den Moment bringt sie nur ein knappes Nicken zustande.

Der Mann an der Tür lässt den Blick durch die Runde schweifen, bis er bei Anders ankommt. Der Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen sieht kurz verwirrt aus, fast als wüsste er nicht, wer der Besucher ist. Es vergehen ein paar angespannte Sekunden. Als Idun langsam den Kopf hebt, um zu sehen, wer gekommen ist, scheint endlich ein Ruck durch Anders zu gehen.

»Ja, richtig!«

Er steht auf und breitet die Arme aus. Man hört ihm an, dass er sich Mühe geben muss, um halbwegs fröhlich zu klingen. Es gelingt ihm kein bisschen.

»Herzlich willkommen. Komm rein.«

Mit ausgestreckter Hand macht er einen Schritt auf den Mann zu. Der wiederum umschließt Anders’ Hand beidhändig. Er hat riesige Pranken, sodass Anders’ Hand regelrecht darin verschwindet. An seinem linken Ringfinger blitzt ein breiter Goldring.

»Danke.«

Die Stimme ist tief.

»Ich ahne, in was für einer Stimmung ihr seid. Was eurem Kollegen Carl passiert ist, muss schlimm für euch sein.«

Der Blick aus den dunklen Augen wandert von Anders zu Idun und Siv. Auch er sieht niedergeschlagen aus. Idun blinzelt und blickt abermals auf. Sie wirkt fast, als wäre sie eben erst aufgewacht, ist aber sichtlich auf der Hut.

»Danke. Ja, es ist schwer für uns alle.«

Als Anders das sagt, lässt er Idun nicht aus den Augen. Der dunkeläugige Mann dreht sich langsam, fast feierlich, in Richtung des Besprechungstischs und legt sich die Hand an die Brust.

»Tareq Shaheen.«

Idun sieht aus, als hätte sie nicht die leiseste Ahnung, um wen es sich handelt.

Siv stellt sich ebenfalls vor.

»Ich bin Siv Liv, angenehm.«

Tareq Shaheen hebt die Hand zum Gruß. Idun sitzt immer noch reglos da. Tareq sieht sie lange an.

»Und du bist Idun Lind, richtig?«

Erst jetzt scheint sie aus der Starre aufzuwachen. Erneut hebt sie den Blick und betrachtet den Mann, diesen Tareq. Es dauert ein paar Sekunden, ehe sie die einzige Frage stellt, die ihr in den Sinn kommen will.

»Sollst du Calle ersetzen?«

Tareq sieht leicht betreten aus.

»Nicht ersetzen, aber euch bei den Ermittlungen im Fall des verschwundenen Mädchens und der ermordeten Frau unterstützen.«

Idun antwortet nicht, sieht ihn nur lange matt an, ehe sie wieder den Blick niederschlägt und auf die Tischplatte starrt.

Vor dem Fenster regnet es weiter.

In ihrem Kopf ist nur Rauschen. Das Gefühl der Unwirklichkeit lässt einfach nicht nach. Sie fühlt sich, als würde sie durch zähen Brei waten und als wäre zu wenig Sauerstoff in der Luft.

Idun hört, wie die Kollegen sich unterhalten. Der Bärtige mit den dunklen Augen steht neben Anders. Idun hört die leisen Stimmen, kann sich jedoch auf nichts konzentrieren, außerdem ist ihr schlecht. Am liebsten würde sie sich schlafen legen. Einfach die Augen zumachen und alles ausblenden.

Es ist allein ihre Schuld. Wenn sie sich nicht so lange wegen ihres verdammten Bauchgefühls im Bad aufgehalten hätte, wäre es nie passiert. Dann wäre sie Calle nach oben gefolgt, hätte ihm im ersten Stock zur Seite gestanden und dieses Arschloch von einem Einbrecher niedergeschossen. Anschließend hätten Calle und sie ihren Bericht geschrieben und wären dann laufen oder in den Kraftraum gegangen. Sie kann es nicht erklären, ist aber überzeugt davon, dass Evas Mörder und Ellens Entführer ein und dieselbe Person sind. Sie hat keinerlei Beweise dafür – außer ihr nagendes Bauchgefühl. Und das hat auch früher schon gestimmt. Wenn sich gezeigt hätte, dass sie auch diesmal richtiggelegen hat, hätten Calle und sie jetzt doppelt Grund zu feiern gehabt.

Erst als Siv ihr ein Taschentuch hinhält, wird ihr bewusst, dass sie weint. Wütend schüttelt sie den Kopf in Richtung ihrer fürsorglichen Kollegin, während sie sich eilig mit den Händen über die Wangen fährt. Sie sieht in die Runde. Der Bärtige – Tareq – hat die dunklen Augen unverwandt auf sie gerichtet.

Sie schluckt trocken und streckt die Hand aus. Sofort beugt er sich vor und umfasst auch ihre Hand mit beiden Händen.

»Schön, euch alle kennenzulernen, auch wenn die Umstände grässlich sind.«

Seine Stimme klingt kein bisschen unnatürlich; was er sagt, klingt weder einstudiert noch formelhaft. Er scheint angesichts ihrer derzeitigen Lage aufrichtig niedergeschlagen zu sein.

Anders fährt sich mit den Fingern durchs Haar.

»Okay, dann haben sich jetzt alle vorgestellt. Tareq, Siv und Idun. Tareq leitet eine Ermittlungseinheit bei den Kapitalverbrechen in Stockholm. Er war früher bei einer Sondereinsatztruppe in Göteborg und ist hergeflogen, um uns in dieser – gelinde gesagt – niederschmetternden Situation zu unterstützen.«

Weder Idun noch Siv verziehen eine Miene.

»Wir brauchen Verstärkung. Wir haben es mit einer ermordeten Frau und einer verschleppten Fünfjährigen zu tun, von der wir nach wie vor nicht wissen, wo sie derzeit steckt. Calle ist niedergeschossen worden, höchstwahrscheinlich von Evas Mörder. Den Ärzten zufolge kommt er durch und wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach vollständig erholen, aber die Genesung wird einige Zeit dauern, und wir haben es entweder mit einem mutigen oder richtig dummdreisten Täter zu tun – und mit einem Kidnapper, der bislang noch keinerlei Forderungen gestellt hat. Aber wenn wir uns einen Moment lang auf Ersteren konzentrieren – man fragt sich doch, wie er es wagen konnte, sich bei den Vendels erneut Zutritt zu verschaffen. Entweder ist er wirklich komplett durchgeknallt, oder aber er weiß genau, was er tut. Ich bin mir ehrlich nicht sicher, was davon schlimmer wäre.«

Idun muss erneut schlucken. Man kann über Anders sagen, was man will, aber die Überlegung ist natürlich richtig. Die Lage ist aufs Äußerste angespannt. Außerdem gleichen die einzelnen Fäden eher einem Knäuel aus lauter losen Enden, ohne dass irgendwo eine Verbindung zu erkennen wäre.

»Meiner Einschätzung nach«, fährt ihr Chef fort, »brauchen wir dringend Unterstützung, weil wir sonst schlicht und ergreifend zu wenige sind. Ellens Verschwinden hat alleroberste Priorität, aber der Umstand, dass Calle angeschossen wurde, und zwar, wie wir vermuten, vom Täter in unserem zweiten Fall, verlangt uns als Polizisten – und als Freunden – eindeutig umso mehr ab. Genau deshalb brauchen wir Tareq. Er ist persönlich nicht involviert und hat einen unverstellten Blick auf die Dinge – wenn ihr versteht, was ich damit sagen will.«

Siv nickt. Ihr Chef zeigt gerade eine vollkommen andere Seite als die, die sie sonst kennen. Er scheint die Lage wohldurchdacht und nüchtern darauf reagiert zu haben. Und natürlich ist es ein kluger Schachzug: weil sie selbstredend Hilfe brauchen, auch wenn Siv Idun deutlich ansehen kann, dass diese anderer Meinung ist.

»Warum bist du nicht mehr bei der Truppe in Göteborg? Die Kripo Stockholm war ja wohl kaum der nächste Schritt in der Karriere.«

Sie klingt giftiger als beabsichtigt. Siv sieht sie verwundert an, doch Idun geht darüber hinweg.

»Ich wollte nach Stockholm.«

Die Antwort ist knapp, aber kein bisschen beleidigt – Tareq scheint weder das Bedürfnis zu haben, sich rechtfertigen, noch, sich erklären zu müssen. Idun beschließt, es fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. Sie bringt nicht die Kraft für einen Typen auf, der glaubt, er könnte einfach aus Südschweden herauf nach Luleå kommen und dann ihr Durcheinander ruck, zuck für sie lösen. Sie fühlt sich von Anders verraten. Gab es wirklich niemanden aus der Gegend, der hätte einspringen können?

Tareq reißt sie aus den Gedanken.

»Euer Kollege Carl … Wie ich schon sagte: Was ihm zugestoßen ist, liegt euch natürlich schwer im Magen. Ich bin nicht hier, um ihn zu ersetzen. Aber ich kann euch hoffentlich bei den Ermittlungen helfen. Ich war schon an mehreren Ermittlungen zu Kindesentführungen beteiligt, so etwas kommt im Süden leider ein bisschen häufiger vor als hier oben – also, dass Kinder verschwinden. Und ich hoffe, dass sich niemand von euch durch meine Anwesenheit auf den Schlips getreten fühlt.«

In Idun brodelt es. Dass dieser Typ aber auch so verdammt freundlich und nachsichtig sein muss! Calles barsche Art fehlt ihr sehr.

Siv sieht über ihr Brillengestell hinweg zu Tareq. Sie scheint etwas sagen zu wollen, doch Idun kommt ihr zuvor.

»Die Kinder, an deren Suche du beteiligt warst – habt ihr die lebend wiedergefunden?«

Sie klingt stinkwütend. Tareq sieht sie mit offenem Blick an. Seine Augen sind wirklich kohlrabenschwarz.

»Die meisten waren am Leben, ja. Die allermeisten.«