Sie sitzen auf Sesseln. Das Sprechzimmer des Schulpsychologen ist sauber, die Bücher im Regal sind nach Farben sortiert. Die Schreibtischlampe brennt und wirft gelbes Licht auf den leeren Schreibtisch. Das Zimmer zeugt von Ordnung und Struktur, während in Tommys Innerem Chaos herrscht.
Es ist, als könnte der Schulpsychologe seine Gedanken lesen.
»Du sollst wissen, dass alles, was hier gesagt wird, unter die Schweigepflicht fällt. Nichts von dem, was du mir erzählst, darf ich weitergeben. Dies hier ist ein sicherer Ort für Gespräche.«
Der Schulpsychologe sieht Tommy durch seine runden Brillengläser an. Tommy hofft insgeheim, dass ihm die Brille von der Nase rutscht. Wie der Blitz würde er nach vorn springen und sie zertreten – spüren, wie das Glas unter seinen Sportschuhen in winzig kleine, messerscharfe Splitter zerbricht. Da würde der Schulpsychologe dasitzen und mit seinem verschwommenen Blick schön glotzen – das wäre doch was.
Aber die Brille fällt nicht runter. Vielmehr sitzt sie stabil auf seiner Nasenspitze und beschert dem Mann einen intelligenten Anschein. Instinktiv ahnt Tommy, dass das nicht stimmt – und je länger er darüber nachdenkt, umso mehr wächst sein Widerstand.
»Ich scheiß auf die Schweigepflicht. Ich hab nichts zu sagen.«
Der Schulpsychologe sieht ihn interessiert an. Er sieht dermaßen albern aus, wie er da sitzt und durch diese hässliche Brille glotzt, die zertrampelt am Boden liegen müsste – und dann auch noch diese fette Nase! Fett und hässlich.
»Ich will dir gern helfen, Tommy. Ich will dir aus deiner Wut und deiner Trauer heraushelfen.«
Tommy zieht eine Augenbraue hoch und versucht nicht mal, seine Überraschung zu verbergen.
»Trauer?«
Die Nase des Schulpsychologen schimmert im Licht der Deckenlampe.
»Ich glaube, dass deine Wut in Wahrheit Trauer ist, dass sie stellvertretend für Trauer steht. Was geht dir durch den Kopf, wenn ich so etwas zu dir sage?«
Tommy gibt sich alle Mühe, um jetzt kläglich statt wütend zu klingen.
»Dann helfen Sie mir – nehmen Sie mir die Trauer, machen Sie mich wieder heil!«
Er hebt die Arme zu einer ironischen Geste, während er den Schulpsychologen gleichzeitig herausfordernd ansieht.
Doch in seinem Brustkorb hämmert sein Herz.
Der Mann blättert in einem Schreibblock.
»Vor ein paar Wochen hattest du im Sportunterricht einen Ausraster. Kannst du mir mehr darüber erzählen?«
Tommy schweigt.
»Du bist mit einem Klassenkameraden in Streit geraten und hast zu ihm gesagt« – und jetzt liest er ab – »dass du ihn ficken und ihn mit einer Eisenstange aufspießen wolltest. War das so?«
Tommy kneift die Augen zusammen.
»Der lügt doch.«
Der Schulpsychologe lehnt sich auf seinem Sessel zurück.
»Dein Klassenkamerad lügt?«
»Ja.«
Es wird still im Raum. Der Schulpsychologe kratzt sich am Bauch.
»Hast du vielleicht irgendeinen brutalen Film gesehen oder eine Horrorgeschichte gehört oder vielleicht sogar ein Verbrechen mit angesehen, Tommy?«
Mit dieser Frage hat er nicht gerechnet. Ein Schlag ins Gesicht hätte ihn weniger überrascht. Ihm schwirrt der Kopf.
»Was?«
Der Schulpsychologe hört auf, sich zu kratzen.
»Drohungen dieser Art, die noch dazu in jungem Alter ausgesprochen werden, können für ein unverarbeitetes Trauma stehen. Deshalb frage ich mich, ob du vielleicht etwas in der Art erlebt oder mit angesehen hast – vielleicht einen Übergriff? Der dich dazu gebracht hat, deinerseits einen Klassenkameraden zu bedrohen« – er blickt auf seine Notizen hinab – »und das allem Anschein nach ohne jeden Anlass?«
Tommy sitzt stocksteif auf seinem Sessel. Er will nicht über den Vorfall im Sportunterricht reden. Ohne Anlass? Alter, fahr doch zur Hölle. Ist es etwa kein Anlass, wenn dieser Klassenkamerad behauptet, dass Ingrid Fickmaterial wäre?
Er fängt den Blick des Schulpsychologen auf. Hinter den Brillengläsern sehen die Iris aus wie zwei grüne Kugeln. Tommy fragt sich, was der Mann wohl im Lehrerzimmer herumerzählt. Sitzt er da und vergnügt sich mit Geschichten von all diesen armen Schülern, mit denen er sich unterhält? Vielleicht imitiert er sogar die geknickten Kinder, wenn sie schniefend von ihren reichen Eltern erzählen, die ihnen kein brandneues Moped zu Weihnachten geschenkt haben? Buhuu, so gemein, solche Eltern zu haben!
Tommy beschließt, ehrlich zu sein, und wenn es nur ist, um die Reaktion des Mannes zu erleben.
»Ich habe eine Vergewaltigung mit angesehen.«
Der Schulpsychologe sitzt still da.
»Ich habe gesehen, wie mehrere Männer eine Frau vergewaltigt haben. Erst haben sie sie der Reihe nach rangenommen, und dann haben sie eine Stange genommen und in sie reingerammt, bis ihr Baby rausschwappte. Raus auf den Boden, einfach so, platsch.«
Er verstummt.
Der Schulpsychologe räuspert sich leise.
»Wo hat diese Vergewaltigung stattgefunden?«
Tommy gibt vor, kurz zu überlegen.
»Im Stall vom Paradieshof.«
Nickend macht sich der Schulpsychologe eine Notiz.
»Und wer waren die Täter? Kannst du sie beschreiben?«
Tommy zuckt mit dem Kopf zur Seite.
»Beschreiben oder benennen?«
Der Mann zögert.
»Gern benennen, wenn du kannst und willst.«
Tommy nickt aufmüpfig.
»Das waren Jesus persönlich und ein paar seiner Jünger.«
Abgesehen von dem leise rauschenden Ventilator ist es mucksmäuschenstill im Zimmer. Der Schulpsychologe sieht Tommy lange an. Dann verdunkelt sich seine Gesichtsfarbe. Sie wechselt von Beige zu Rosa und dann für den Bruchteil einer Sekunde zum selben Rotton wie dem eines überreifen Apfels. Der Typ sieht aus, als würde er gleich in die Luft gehen.
Als er erneut das Wort ergreift, klingt seine Stimme düster.
»Tommy, komm gern wieder, wenn du den Anstand hast, dich an die Wahrheit zu halten. Deine Fantasien darfst du gern andernorts ausleben. Mein Arbeitszimmer ist ein Ort, um echte Probleme zu besprechen, Dinge, die man erlebt hat und über die man reden will.«
Er sieht aus, als würde er innerlich brodeln. Tommy steht langsam auf und geht zur Tür. Dass dieser Psychotyp ihm nicht glaubt, verwundert ihn kein bisschen. Bislang hat ihm noch kein Erwachsener geglaubt, warum sollte das also bei einem mickrigen Schulpsychologen anders sein?
Auf dem Weg nach draußen spuckt er in Richtung des Papierkorbs an der Tür. Er verfehlt ihn um mehrere Zentimeter, und eine weiß schaumige Pfütze landet auf dem gelben Linoleumboden.
Beide wissen, dass es Absicht war.