Es sieht Vivianne nicht ähnlich, dass sie verunsichert ist, aber im Augenblick ist es nun einmal so. Sie hat inzwischen überall nachgesehen: in jedem Zimmer, sogar im Keller und auf dem Dachboden. Draußen im Stall, auf dem Heuboden und in der Garage. Sie war bei den Nachbarn, hat bei den Gemeindemitgliedern geklopft, gefragt, sich gewundert, weitergesucht. Sie hat im Gemeindesaal nachgesehen – sowohl im Gottesdienstraum als auch in den angrenzenden kleineren Räumlichkeiten. Der einzige Raum, den sie nicht betreten hat, ist Mattias’ Pfarrzimmer. Dort darf sie nicht rein, andererseits gilt dies auch für alle anderen, außer natürlich für Mattias selbst, was auch den übrigen Mitgliedern klar ist. Daher weiß Vivianne mit Gewissheit, dass Sara nicht dort ist.
Sie ist sogar am Waldrand hinter dem Hof entlanggegangen, dann durch den Wald bis hinunter zum See. Doch auch dort ist Sara nicht. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.
Sekündlich wächst ihre Verärgerung. Vivianne ist es gewöhnt, sowohl ihre eigene als auch die Familien der anderen im Blick zu behalten, und Sara scheint diese Übersicht gerade zu unterminieren. Vivianne hat mehrmals versucht, sie anzurufen, ist aber nicht durchgekommen. Das Handy ist abgestellt. Wenn sie es nicht besser wüsste, könnte man glatt meinen, Sara würde nicht gefunden werden wollen.
Müde setzt sie sich auf einen Stein am Ufer. Die Wasseroberfläche liegt spiegelglatt vor ihr. Sie atmet langsam, fast meditativ – eine kleine Verschnaufpause darf sie sich doch wohl gönnen, bevor sie weitersucht.
Als ein Zweig knackst, wird sie schlagartig hellhörig. Sie steht auf und sucht mit dem Blick konzentriert den Waldrand ab. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Doch das Geräusch kam direkt von oberhalb, von der Stelle, wo der Weg zum See eine Kurve beschreibt. Sie kneift die Augen zusammen und beugt sich leicht vor, um besser zu sehen.
Obwohl sie hier aufgewachsen ist und die Umgebung gut kennt, dauert es eine Ewigkeit, ehe sie die Frau entdeckt. Sie steht ein Stück jenseits der Baumgrenze, zur Hälfte verborgen hinter einer großen Kiefer. Vivianne reckt den Hals. Die Frau ist schlank und blond. Als sie sie immer noch nicht wiedererkennt, hebt sie die Hand zu einem Gruß. Die Frau erwidert den Gruß nicht. Vivianne macht ein paar zögerliche Schritte in deren Richtung. Sie steht ein gutes Stück weg, scheint sich hinter der Kiefer verstecken zu wollen.
Mit einem Mal wird Vivianne unsicher und könnte nicht sagen, ob sie auf die Frau zugehen oder warten soll, bis die Frau ihrerseits auf sie zukommt. Das Ganze fühlt sich merkwürdig an. Sara ist verschwunden, Vivianne hat stundenlang nach ihr gesucht, und als sie sich am See nur kurz ausruhen will, kommt eine junge Frau durch den Wald und bleibt dann stehen, um … Was? Um Vivianne zu beobachten? Bestimmt gehört sie nicht zur Gemeinde, sonst hätte sie gewinkt und wäre ans Ufer gekommen. Niemand geht grußlos an Vivianne vorbei. Und niemand versteckt sich vor ihr. Aber diese Frau dort steht einfach nur still und stumm im Wald.
»Komm raus!«
Vivianne hebt erneut die Hand. Inzwischen ist das Winken eher auffordernd. Als sie auch diesmal keine Reaktion erhält, stapft sie zurück auf den Weg. Wo das sandige Ufer aufhört, beginnt der Wald. Der Erdboden ringsum ist dicht bewuchert, sie muss vorsichtig gehen und hier und da über alte Wurzeln und umgestürzte Baumstämme steigen. Der Weg wird zusehends schmaler.
Sie wirft einen flüchtigen Blick zu der Frau. Ein Teil des Gesichts ist zu sehen. Das Haar ist hell und sehr lang. Es fällt ihr in weichen Locken über die Schultern. Die Frau hat eine schwarze Hose und einen dunklen Pullover an. Vivianne rümpft die Nase. Mit solcher Kleidung ist vollends klar, dass sie nicht der Gemeinde angehört. Hier ziehen Frauen entweder Kleider oder Röcke an. Was in aller Welt macht diese Frau also auf ihrem Privatgelände?
Ihre Überlegungen machen Vivianne unaufmerksam. Sie tritt schief auf eine dicke Wurzel und stolpert, stürzt hart zu Boden, stößt sich die Schulter an einem Stein und den Kopf an einem umgestürzten Baumstamm.
Sie bleibt kurz liegen. Versucht zu erspüren, ob sie sich etwas gebrochen hat, allerdings glaubt sie es nicht. Als sie sich aufsetzt, ist ihr trotzdem kurz schwindlig. Etwas Warmes sickert über ihr Augenlid, die Hand schnellt zur Augenbraue, und mit den Fingerspitzen ertastet sie eine Platzwunde. Als sie auf ihre Finger hinabsieht, sind sie blutig.
Ächzend richtet sie sich auf. Schulter und Stirn tun weh, und ein Bein will nicht recht gehorchen. Das Blut, das ihr über das Auge läuft, behindert ihre Sicht, und sie zieht sich den Ärmel über die Hand und presst ihn fest auf die Wunde.
Langsam geht sie weiter. Als es nur noch ein paar Meter bis zu der blonden Frau sind, bleibt Vivianne abermals stehen. Und ist verwundert. Die Frau ist verschwunden.
Vivianne sucht den Wald ab, so gut ihr Auge es zulässt. Sie blickt zurück zum See, sucht das sandige Ufer ab, aber die Frau ist nirgends mehr zu sehen.
Vivianne schlurft auf die große Kiefer zu, stemmt sich dagegen und lässt sich ins Reisig sinken. Sie weiß nicht, warum, aber irgendwie hat sie im Nachhinein das Gefühl, als hätte sie die Frau gekannt. Frauen, die Hosen tragen, trifft sie nur selten; eigentlich bloß, wenn sie mal zum Arzt muss, allerdings ist es schon Jahre her, seit sie zuletzt ein Ärzte- oder Krankenhaus betreten musste. Trotzdem kam sie ihr vage bekannt vor. Je länger sie darüber nachdenkt, umso sicherer ist sie sich. Da war entweder etwas an der Haltung oder vielleicht an den Haaren, was sie wiedererkannt hat. Fieberhaft kramt sie in ihrem Gedächtnis, aber die Erinnerung entzieht sich ihr hartnäckig.
Frisches Blut läuft ihr über das Auge. Erneut presst sie sich den Ärmel auf die Wunde. Sie hofft, sie muss nicht genäht werden, lieber würde sie die Wunde einfach nur auswaschen und ein Pflaster draufkleben und dann Sara aufspüren. Vivianne muss dringend ein ernstes Wort mit ihrer Tochter reden.