Die Morgenbesprechung ist eine halbe Stunde her, als Anders an Iduns Tür klopft. Ohne ihre Antwort abzuwarten, tritt er ein. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Anders setzt sich ihr gegenüber auf den Besucherstuhl, sagt aber nichts.
Idun sieht aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Trotzdem weiß Anders es besser. Sie ist eine echte Kämpferin und unfassbar stur – manchmal an der Grenze dessen, was man noch als gesund bezeichnen kann. Eigentlich weiß er auch, dass er ihr besser nichts vorschreiben sollte, doch im Augenblick hat er keine andere Wahl. Siv hat ihn davor gewarnt, es auch nur zu versuchen. Die Sache ist nur: Jetzt, da es um Idun und die Lage in ihrer Abteilung geht, würde es an ein Dienstvergehen grenzen, wenn er es nicht wenigstens versuchen würde. Immerhin ist in letzter Konsequenz er für die beiden Ermittlungen verantwortlich, die sie leitet.
Er räuspert sich.
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
Idun bedenkt ihn mit einem langen Blick, ehe sie die Arme verschränkt und sich nach hinten lehnt. Genau wie erwartet. Sofort stellt sie sich quer.
»Als dein Vorgesetzter ist es meine Aufgabe, dir zu helfen.«
Sie sitzt reglos da und zuckt nicht mit der Wimper. Anders seufzt.
»Was mit Calle passiert ist, hat uns alle mitgenommen. Natürlich trifft es uns alle. Aber nur ein Idiot würde glauben, dass wir anderen genauso mitgenommen wären wie du. Wir reden hier über deinen Partner. Und so harsch und selbstsicher Calle auch wirkt – ich weiß sehr wohl, dass ihr euch als Freunde empfindet. Obwohl schon reine Kollegialität bei dir ausgereicht hätte, damit es dich mitnimmt.«
Sie sitzt immer noch reglos da, doch Anders sieht, wie sich ihre Wangen verfärben. Er fühlt sich unzulänglich – diese Wirkung hat sie oft auf ihn. Es liegt daran, dass sie seine Lieblingskollegin ist. Ihre Sturheit und die ehrliche Art tragen dazu bei, dass er sich seines Chefsessels sicher sein kann – sicher, weil er sich zu zweihundert Prozent auf sie verlassen kann. Weder kann noch will er ihr die Richtung vorgeben. Ein einziges Mal hat er gegen ihren Willen gehandelt, und zwar, als er sie genötigt hat, ausgerechnet mit Calle zusammenzuarbeiten. Zwei starke Persönlichkeiten, die eine mit unfehlbaren analytischen Fähigkeiten, der andere mit einer derart unverblümten Art, dass keine Frage je zu unangenehm wäre. Wo Calle geht und steht, tut sich die Erde auf, und im nächsten Moment hat Idun sie dann mit einem einzigen Blick analysiert. Die beiden zusammenzupacken ist das Beste, was Anders je getan hat, auch wenn es lange gedauert hat, bis Idun es ihm verzeihen konnte.
Jetzt sitzt sie ihm gegenüber, mit einem Blick, der ihm wortlos entgegenschreit, dass er und alle anderen bei der Polizei sich auf direktem Wege zum Teufel scheren können. Er schluckt sein Unbehagen hinunter, weil er nun mal Sivs Warnungen zum Trotz beschlossen hat, eine Reaktion zu provozieren.
»Ich war von Anfang an unsicher, ob du überhaupt arbeiten solltest.«
Er sagt es bedächtig. Idun erstarrt und presst die Lippen zusammen.
»Sie hätten dich krankschreiben müssen, zumindest war das mein erster Gedanke.«
Er lässt sich mit dem Weiterreden Zeit.
»Aber inzwischen glaube ich fast, dass ein Gespräch beim Psychologen die bessere Alternative wäre.«
Die Reaktion kommt wie erwartet – und wie aus der Pistole geschossen.
»Was hast du gerade gesagt?«
Die Irritation ist ihr deutlich anzuhören.
Anders seufzt theatralisch und hört selbst, wie komisch es klingt.
»Ich habe gesagt, dass ich glaube, dass du zum Psychologen gehen solltest.«
Idun springt von ihrem Stuhl auf und fuchtelt so wild herum, dass er den Windzug spürt, weil ihre Hand nur Zentimeter vor seinem Gesicht vorbeizischt.
»Einen Scheißdreck sollte ich!«
Da ist sie. Die Urkraft.
»Du weißt genau, dass das Blödsinn ist.«
Unwillkürlich denkt Anders, dass sie gerade eher Calle als sich selbst gleicht.
»Was soll ich verdammt noch mal beim Psychologen? Drüber plaudern, dass Calle meinetwegen schwer verletzt wurde? Darüber soll ich plaudern? Während Ellen immer noch verschwunden ist und vielleicht umgebracht oder vergewaltigt wurde? Findest du das wirklich? Ja?«
Sie schreit so laut, dass ihm die Ohren wehtun. Er spürt, wie er langsam erschlafft und wie sich in seinem Hinterkopf ein leichter Kopfschmerz ausbreitet. Die Wut ist der Weg aus dem Schock, der Weg zurück zu ihren analytischen Fähigkeiten – und nie zuvor hat er sie dringender gebraucht als heute.
Mit gespielter Ruhe sieht er sie an.
»Verstehe. Aber weißt du, Idun … was du durchgemacht hast, kann man nicht einfach beiseiteschieben, ohne dass der Arbeitgeber gewisse Maßnahmen ergreifen müsste. Du gehst entweder zum Psychologen … oder du lässt dich krankschreiben. Und das bestimme ich, nicht du.«
Sie starrt ihn wutentbrannt an. Er hält ihrem Blick stand und muss sich zusammenreißen, um nicht zu schmunzeln.
Idun. Da bist du ja wieder.
»Ich scheiß auf dich und deinen beknackten Psychologen! Und ich lasse mich auch nicht krankschreiben, hast du gehört?«
Sie ist so wütend, dass die Spucketröpfchen auf seinem Gesicht landen. Er zieht sich den Hemdsärmel über die Faust und wischt sich damit über die Wangen. Sie kommentiert es nicht weiter, hat es womöglich nicht mal bemerkt.
Stattdessen reißt sie ihre Jacke von der Stuhllehne und marschiert zur Tür. Im Vorbeigehen schnappt sie sich ihren Rucksack vom Wandhaken. Als sie die Hand an die Klinke legt, hebt Anders erstmals während dieser Unterredung die Stimme.
»Idun Lind, wir sind hier noch nicht fertig!«
Sie reißt die Tür auf und dreht sich in derselben Bewegung zu ihm um, bleibt an der Schwelle stehen und funkelt ihn finster an. Wenn er sie nicht so gut kennen würde, könnte er glatt glauben, dass sie ihn gleich niederschlagen wird. Vielleicht will sie das aber auch wirklich. In Anders macht sich Erleichterung breit.
»Oh doch. Wir zwei sind fertig. Ich gehe. Lieber kündige ich, als dass ich hier festsitze und mir diesen Scheiß weiter anhöre!«
Er verdreht die Augen. Vor Erleichterung ist ihm fast schwindlig.
»Und was willst du jetzt machen, wenn ich fragen darf?«
Sie starrt ihn an, als hätte sie im Leben nie eine dümmere Frage gehört.
»Ich will Ellen finden. Was hast du denn gedacht, verdammt?«
Dann schlägt sie die Tür hinter sich zu. Es dröhnt durch die Wände.
An ihrem Schreibtisch sitzt ihr zutiefst erleichterter Chef. Dieses Gespräch ist genau nach Plan verlaufen.