Eivor steht nackt in ihrem Badezimmer. Der Spiegel ist beschlagen. Wassertröpfchen ziehen Spuren durch ihr Spiegelbild. Die Luft ist warm und feucht, liegt wie ein Schleier auf Eivors angsterfüllter Gestalt. Normalerweise wischt sie kurzerhand über den Spiegel, zieht eine Schneise durch den Dunst, mustert ihren nackten Körper in der aufgeklarten Spur ihrer Hand und ist sich bewusst, dass Frauen im Allgemeinen und in ihrem Alter im Besonderen dem eigenen Körper meist kritisch gegenüberstehen. Sie hat die Blicke im Umkleideraum und im Schwimmbad ihr Leben lang gesehen: geringschätzige Blicke, die jede Delle und jede Falte beäugen. Sie hat diese Haltung nie verstehen können. Sie selbst ist stolz auf ihren Körper. Sie ist groß, muskulös, sehnig. Natürlich hat sich hier und da die Fallhöhe verändert, aber Eivor hat das nie schlimm gefunden. Der menschliche Körper ist, was er ist – veränderlich und wunderbar.

Doch heute bleibt der Spiegel beschlagen. Seit Ellen verschwunden ist, fühlt sich alles sinnlos an. Das Mädchen muss einfach zurückkommen. Ein Leben ohne sie kann Eivor sich nicht mehr vorstellen.

Die Luft ist schwer zu atmen. Sie tastet nach der Türklinke, zieht die Tür auf und taumelt hinaus auf den Flur. Stößt sich das Knie an der Kommode draußen an, reibt kurz darüber, ehe sie zurück ins Bad geht und ihren Bademantel holt. Der weiche Frotteestoff klebt auf der nassen Haut, als sie den Gürtel zuknotet.

In der Küche greift sie zur Teekanne. Schwerfällig befüllt sie sie mit Wasser und stellt sie auf den Herd. Sie will eine Schlaftablette nehmen, damit sie wenigstens für ein paar Stündchen zur Ruhe kommt. Der Kamillentee ist da nur Beigabe.

Auf dem Sideboard neben der Verandatür liegt die Post. Sie sieht missmutig hin, bringt aber nicht die Kraft auf, sich darum zu kümmern. Doch das Teewasser lässt auf sich warten, deshalb greift sie schließlich doch widerwillig zu dem kleinen Stapel. Geistesabwesend sieht sie die Umschläge durch. Sie hat zwei Rechnungen bekommen, eine Einladung zum Jahrestreffen ihres Weinverkostungsvereins und eine zu einem Wohltätigkeitsevent – und ein kleines weißes Kuvert, auf dem ihr Name und ihre Adresse auf einem Klebeetikett stehen. Eine Briefmarke fehlt, jemand muss den Brief persönlich bei ihr eingeworfen haben. Denn die Post stellt doch wohl keine unfrankierten Briefe zu?

Aus der Küchenschublade nimmt sie ein Messer und schiebt es unter die Lasche. In dem Kuvert liegt ein zusammengefaltetes weißes Blatt Papier. Eivor faltet es auseinander, damit sie lesen kann, was darauf steht.

Die Erinnerung kommt blitzartig.

Sie lässt das Papier fallen und rennt in den Flur. Der Bademantel flattert auf, und wer immer gerade auf der Straße vorbeigeht, kann von draußen durch die Fenster ihren nackten Körper sehen, aber das ist Eivor egal.

Sie durchwühlt ihre Handtasche nach ihrem Handy, kramt zwischen Lippenstift, Bürste, Geldbörse und Schminkspiegel herum, bis sie es endlich gefunden hat. Ihre Hände zittern, als sie die Kontaktliste durchscrollt. Lind, so hieß sie. Idun Lind.

Eivor drückt auf Verbinden und presst sich das Handy ans Ohr. Über das panische Rauschen in ihrem Kopf hinweg hört sie das Tuten.