Tareq Shaheen steht am Fenster. Idun betrachtet ihn kurz durch die halb offene Bürotür. Sie muss sich erst sammeln. Sie ist unfassbar wütend auf Anders. Und sogar auf Calle. Er hätte es besser wissen müssen und nicht allein, ohne Deckung, in diese Lage geraten dürfen. Wie konnte ihm das nur passieren?
Am wütendsten ist sie jedoch auf sich selbst. Weil sie nicht schneller gedacht hat, ihm nicht schneller gefolgt ist, sich nicht schneller bewegt hat. Calle hat ihr – und sie ihm – immer den Rücken freigehalten. Eine einzige Ausnahme, und er landet im Krankenhaus. Mit lebensbedrohlichen Verletzungen – ein Schuss ins Gesicht. Idun weiß, dass sie sich das nie verzeihen wird.
»Hej, Idun.«
Obwohl er leise spricht, zuckt sie zusammen. Sie fühlt sich ertappt und ist leicht beschämt.
Tareq sieht sie an und macht ein paar Schritte vom Fenster weg.
»Komm doch rein. Ich hatte gehofft, dass wir uns unterhalten könnten.«
Ohne zu wissen, warum, zögert sie. Erkennt sich selbst nicht mehr wieder. Doch dann tritt sie über die Schwelle und zieht die Tür hinter sich zu. Zaudernd setzt sie sich auf den Besucherstuhl, bleibt vorn auf der Kante sitzen und spannt die Beine an, damit sie nicht abrutscht. Sie will sich nicht anlehnen, um bequem zu sitzen. Dann könnte sie nie wieder aufstehen. Außerdem würde sich Entspannung anfühlen, als würde sie Calle hintergehen. Gemütlich mit Tareq zusammenzusitzen wäre Verrat an Calle.
Auch Tareq setzt sich. Er legt die Hände auf die Tischplatte und sieht aus, als wäre er die Ruhe selbst. Seine Schultern hängen entspannt nach unten, sein Blick ist freundlich. Die Nase ist kantig und läuft spitz zu, die Wangenknochen sind hoch, er sieht nett aus, und doch verspürt Idun reine Verachtung. Es ist, als würde seine Anwesenheit bestätigen, dass Calles Abwesenheit länger anhielte. Vielleicht sogar für immer.
Die Stuhlkante schneidet in ihre Schenkel. Sie muss die Beine anspannen, um das Gleichgewicht zu halten.
Tareq wartet geduldig ab.
Nach einer Weile dämmert Idun, dass es tatsächlich sie selbst war, die zu ihm gegangen ist.
»Dann sollen wir zwei also zusammenarbeiten …«
Er antwortet nicht, weil er ahnt, dass noch mehr kommt.
»Calle und ich …«
Sie beißt sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten. Diese verdammten Tränen.
»Calle und ich wissen nicht, wer in dem Haus war. Und auch nicht, warum Calle angeschossen wurde.«
Sie spricht langsam, ihre Zunge fühlt sich geschwollen an. Sie hätte gern ein Glas Wasser. Vor Müdigkeit ist sie wie gelähmt.
Tareq sieht sie mit ernstem Blick an.
»Ich will genauso sehr wissen wie du, wer auf Calle geschossen hat. Und wer Eva umgebracht hat.«
Idun nickt.
»Der Täter hat sich aus einem bestimmten Grund in dem Haus aufgehalten. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass er etwas gesucht hat, was er zuvor, als Eva ermordet wurde, vergessen hat. Aber er kann natürlich auch versucht haben, Spuren zu verwischen – die Kollegen aus der Technik arbeiten daran.«
Ihre Beine zittern inzwischen vor Anspannung. Sie mag nicht mehr gegen sich ankämpfen, stemmt sich halb hoch und rückt sich den Stuhl zurecht, sodass sie mehr von der Sitzfläche nutzt. Die Entspannung setzt sofort ein. Ihr Blick verschwimmt fast.
»Ich will euch wirklich gern helfen, sowohl bei der Suche nach Evas Mörder als auch nach demjenigen, der auf Calle geschossen hat. Aber wir müssen auch Ellen finden. Gibt es Grund zu der Annahme, dass die beiden Fälle zusammenhängen?«
Dass jemand anders als sie selbst diesen Gedanken hat, kommt für Idun völlig unerwartet. Ohne dass sie wüsste, warum, spürt sie, wie ihr Kopf ganz leicht klarer wird. Ihre Stimme trägt kaum, als sie antwortet.
»Weiß nicht … Es hat niemand einen Zusammenhang gefunden, aber ich nehme an, dass wir auch noch nicht gezielt nach Überschneidungen gesucht haben. Bislang weist nichts darauf hin, allerdings habe ich selbst schon darüber nachgedacht. Glaubst du, es könnte nützlich sein, da mal tiefer einzusteigen?«
Tareq streicht sich über den Bart. Er hat eine lange Narbe, die vom Handrücken bis zum Unterarm reicht. Sie verschwindet unter dem aufgekrempelten Ärmel.
»Ja, ich glaube schon.«
Idun schluckt trocken.
»Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass sich das hier verkehrt für dich anfühlt. Ich weiß, dass Calle und du eng zusammengearbeitet habt.«
Idun steht abrupt auf, und von der schnellen Bewegung wird ihr kurz schwarz vor Augen. Sie hält sich an der Schreibtischkante fest, bis sich der Raum ringsum nicht mehr dreht.
»Calle ist mein Kollege, Partner und guter Freund. Du und ich, wir arbeiten so lange zusammen, bis er wieder da ist. Verstanden?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zur Tür, überlegt es sich dann aber anders und dreht sich noch einmal um. Mit dem Blick auf den Linoleumboden fährt sie fort.
»Wir sehen uns in fünf Minuten unten in der Tiefgarage. Ich muss noch pinkeln und mir bessere Schuhe anziehen.«
Tareq klingt hochaufmerksam.
»Wo fahren wir hin?«
Sie hebt den Blick und sieht ihm in die dunklen Augen.
»Wir gehen Ellen suchen. Und denjenigen, der Eva ermordet und Calle angeschossen hat.«
»In Ordnung. Ich bin in fünf Minuten fertig.«
Sie dreht sich zur Tür um, und mit dem Rücken zu ihm korrigiert sie sich.
»Sagen wir, in drei Minuten.«
Entschlossenen Schrittes verlässt sie Tareqs Interimsbüro und verschwindet über den Flur.