Eivors Augen sind stark gerötet. Ihr Haar ist immer noch nass, die Haut über den Wangenknochen fleckig – es ist unklar, ob das an ihrer Gefühlslage liegt oder die Nachwirkungen der heißen Dusche sind.
In der Hand hält sie einen aufgerissenen Umschlag. Sie zittert wie Espenlaub, als sie ihn Idun überreicht, die ihn mit Latexhandschuhen entgegennimmt. Aufgewühlt sieht Eivor abwechselnd Idun und Tareq an. Sie macht den Mund auf und wieder zu, bringt aber kein Wort heraus.
»Darf ich Ihnen Tareq Shaheen vorstellen? Er ist auch Ermittler und arbeitet mit uns in Ellens Entführungsfall zusammen.«
Eivor nickt, kann aber immer noch nichts erwidern.
Malmen betritt den Raum. Idun hält ihm den Umschlag hin und lässt ihn in Malmens Asservatenbeutel fallen, den er sofort versiegelt. Ein Umschlag für den Umschlag. Ohne ein Wort verschwindet er wieder.
»Und das gerade war Mikael Malm. Er arbeitet in der Forensik und wird Ihren Umschlag innen wie außen gleich nach Fingerabdrücken, DNA und anderen Spuren absuchen.«
Eivor sieht sie verwirrt an.
»For-was?«
Sie klingt unendlich müde, was bemerkenswert ist, weil sie aussieht wie ein zu Tode verängstigtes Tier.
»Mikaels Kollegen nehmen kriminaltechnische Untersuchungen daran vor. Sie suchen nach Fingerabdrücken, Haaren, Speichelspuren und Hautschüppchen, aber auch nach anderen Merkmalen, die uns zum potenziellen Täter führen könnten.«
Eivors Unterlippe zittert.
»Zum Beispiel ein Haar von Ellen?«
»Ja, beispielsweise.«
Idun hat Mitleid mit Ellens Großmutter.
»Wir hoffen, dass wir auf dem Briefbogen oder auf dem Umschlag Spuren finden, die uns die richtige Richtung weisen. Damit wir Ellen aufspüren können.«
Eivor starrt Idun an. Sie sieht aus, als würde sie Schwierigkeiten haben zu begreifen, was Idun sagt.
Die Tür geht erneut auf, und Siv tritt ein. Sie überreicht Idun einen weißen DIN-A4-Bogen und geht wieder. Idun legt die Fotokopie auf den Tisch. Sie selbst, Tareq und Eivor beugen sich über den Text.
Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Befreiung.
Idun zückt ihr Handy, fotografiert die Kopie ab und schickt eine MMS an Mika. Dann schickt sie eine Nachricht hinterher, in der sie ihre Schwester unter Androhung der Todesstrafe mit einer Schweigepflicht belegt und sich nach der Bedeutung des Zitats erkundigt.
Als sie aufblickt, bemüht sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Sie will Eivor nicht beeinflussen.
»Sagt Ihnen der Text etwas?«
Eigentlich ist Eivors Blick bereits Antwort genug.
»Ja, er sagt mir etwas.«
Idun nickt.
»Gut, dass Sie uns sofort informiert haben. Sie haben keine Zeit verloren und genau richtig gehandelt.«
Eivor fängt an zu weinen. Sie schluchzt heftig, und Tareq legt ihr die Hand an den Unterarm.
»Haben Sie diesen Vers schon mal irgendwo anders gesehen, Eivor?«
Eivor schluckt, um weitere Tränen zurückzuhalten. Dann verzieht sie das Gesicht und hustet.
»Da gab es mal eine Familie, in den Neunzigern, eine Art Pflegefamilie. Dort haben wir bei ein paar Gelegenheiten Kinder untergebracht.«
Sie flüstert eher vor sich hin, trotzdem hören Idun und Tareq genau, was sie sagt.
»Kinder untergebracht? Was soll das heißen?«
Eivor atmet tief ein, um sich zu beruhigen.
»Ich war eine Zeit lang als Sachbearbeiterin bei der Kommune angestellt – das war nach meiner Krebs-OP und nachdem die Bestrahlung angeschlagen hatte.«
Sie streicht sich mit den Fingerspitzen über die Narbe am Hals.
»Ich war erst ein gutes Jahr als Hospitantin im Jugendamt und dort unter anderem dafür zuständig, Kinder aus instabilen Verhältnissen bei Pflegefamilien unterzubringen. Nach diesem Jahr bin ich dort fest angestellt worden.«
Idun überfliegt den Vers erneut. Sie sieht immer noch keinen Zusammenhang zu dem, was Eivor berichtet.
»Und dieser Text – den erkennen Sie wieder von … einem der Kinder?«
Eivor schüttelt den Kopf.
»Nein, nicht von einem Kind an sich, aber von einer der Pflegefamilien. Das Bibelzitat stand an der Haustür eines Pflegeheims. Das war eine dunkle Tür mit einem goldfarbenen Briefschlitz – so eine altmodische Klappe, die es manchmal noch in Wohnungstüren gibt, allerdings weiter oben, ungefähr auf halber Höhe der Tür.«
Idun und Tareq hören ihr konzentriert zu. Sie wollen sie nicht unterbrechen, während sie alte Erinnerungen heraufbeschwört.
»Der Text stand auf dieser Klappe. Genau dieser Wortlaut. Ich weiß das noch, weil ich damals dachte, eine gläubige Pflegefamilie würde bestimmt für viel Liebe und Fürsorge stehen. Auf dem Anwesen wohnte eine ganze Kirchengemeinde – es bestand aus mehreren Häusern, das Gelände war riesig.«
»Wo war dieses Anwesen?«, hakt Idun nach.
Eivor starrt auf die Kopie hinab.
»Eivor?«
Die ältere Dame zuckt zusammen, als wäre sie aus einem Tagtraum aufgeschreckt.
Idun wiederholt ihre Frage.
»Dieses Anwesen mit der Pflegefamilie und dem goldfarbenen Briefschlitz – wissen Sie noch, wo das war?«
Diesmal nickt Eivor.
»Natürlich. In Bredåker. Es war ein riesiger alter Gutshof mit mehreren Wohnhäusern.«
Idun schreibt es sich auf.
»Sagt Ihnen der Name Eva Stenberg etwas?«
Eivor scheint in der Erinnerung zu kramen, schüttelt dann aber den Kopf.
»Oder vielleicht Åke Stenberg?«
Eivor sieht Idun wie vom Donner gerührt an.
»Warum fragen Sie nach Åke Stenberg?«
Sofort hört Idun die wohlbekannten Alarmglocken schrillen. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen.
»Woher kennen Sie Åke Stenberg?«
Eivor sieht jetzt verängstigt aus.
»Er war der vorsitzende Richter beim Familiengericht. Wir sind uns mehrmals im Zusammenhang mit Unterbringungen begegnet.«
Jetzt macht auch Tareq sich Notizen. Idun hakt weiter nach.
»Diese Familie mit dem Bibelzitat auf dem Briefschlitz … Wissen Sie noch, ob Åke Stenberg auch über Fälle geurteilt hat, die Sie dann in dieser Familie untergebracht haben?«
Eivor hat einen gehetzten Blick.
»Woher wissen Sie das? Immer wenn ich eine Familie dort untergebracht habe, ist das zuvor bei Gericht so beschieden worden. Åke war der Vorsitzende im Prozess, er hat bestimmt, welche Familie anderweitig untergebracht werden sollte, und ich habe den Ort der Unterbringung, also Bredåker, ausgesucht.«
Idun hört ihren Puls in den Ohren.
»Und da sind Sie sich sicher? Sie wissen genau, dass das die Abfolge war?«
Eivor nickt.
»Absolut sicher. Ich weiß das noch, weil es mein erster Einsatz mit Gerichtsverfahren nach der OP war. Ich habe die Unterbringung an sich vorgeschlagen, und Åke Stenberg hat sie gerichtlich angeordnet.«
Iduns Handy vermeldet eine Nachricht. Sie nimmt das Gerät zur Hand und sieht, dass Mika geantwortet hat.
Ebenfalls ein Psalm. Und wieder falsch zitiert. Es muss heißen: »Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung.« Wieder die falsche »Befreiung«. Scheint, als hättet ihr einen Befreier am Hals. Ruf an, ich mache mir Sorgen. Kuss!
Idun schiebt das Handy in ihre Jackentasche und sieht aus dem Augenwinkel, dass Tareq seines zückt. Er schreibt eine SMS – unter Garantie an Siv.
»Wissen Sie noch, wie das Anwesen hieß?«
Eivor nickt.
»Ja, auch das weiß ich noch. Das war der Paradieshof.«