Bredåker 1997 

Es sind nur noch wenige Stunden, bis das Jahr 1998 anbricht, als Tommy, Ingrid und Viola nebeneinander auf einer der harten Kirchenbänke sitzen. Vorn am Altar steht Mattias. Er ist in ein knöchellanges Gewand gekleidet und hat eine silberfarbene Stola umgelegt. In einer Hand hält er eine Kerze, während die andere Hand nach oben zeigt. Obwohl kein einziger Platz in den Reihen frei ist, herrscht im Gemeinderaum vollkommene Stille. Alle im Saal sind ganz auf Mattias konzentriert, ja fast in einen Bann geschlagen. Einige der Gemeindemitglieder scheinen in tiefe Trance versunken zu sein.

Mattias spricht von der Ewigkeit. Von der Liebe zu Gott und ihrer aller Aufgabe, den Herrn zu lobpreisen. Er redet von Schuld und Scham, von der Vergebung der Sünden und der körperlichen Beichte, die tausendmal mehr Vergebung erlaubt als die Beichte, die nur durch Worte abgelegt wird. Er spricht von der Befreiung durch Gott, die dem Menschen durch körperliches Leiden geschenkt werden kann. Versehrtes Fleisch führe zu einer geheilten Seele, sagt er, als er dort in seinem weißen Talar mit der Kerze in der Hand vor ihnen steht.

Die Gemeinde erhebt sich. Der Organist fängt an zu spielen, und alle stimmen in das achte Loblied dieses Gottesdienstes ein. Tommys Füße tun weh, und sein Rücken ist steif, als er sich abwesend zum Takt der Musik wiegt. Ringsum heben die anderen die Hände zum Himmel, und Tommy unternimmt einen halbherzigen Versuch, es ihnen gleichzutun. Es zieht in den Schultern, er fühlt sich müde und benebelt. Er will nur noch, dass dieser Gottesdienst zu Ende geht.

Als das Lied endlich vorbei ist, sinken sie erneut auf die harten Bänke, auch Tommy, der versucht, eine halbwegs erträgliche Sitzposition zu finden, obwohl er insgeheim weiß, dass es nicht funktionieren wird. Aber Schande über den, der aufgibt, hat Ellenor immer gesagt, als sie noch gesund war.

Mit halbem Ohr lauscht er dem Rest von Mattias’ Predigt. Als sie sich dem Ende zuneigt, spürt Tommy, wie sein Magen knurrt. Wie gut, dass es gleich das Silvesteressen gibt.

Mattias fordert die Gemeinde zu einem letzten Gebet auf, zieht dann die silberfarbene Stola von den Schultern und legt sie über die Altarkante. Ein verdutztes Raunen geht durch die Reihen. Tommy reckt den Hals, um besser sehen zu können, was dort vorn vor sich geht. Es ist unübersehbar, dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnt, weil die Stola sonst nie vor den Augen der Gemeinde abgelegt wird, sondern immer nur hinter verschlossenen Türen in Mattias’ Kämmerchen hinter dem Altar.

»Es ist an der Zeit, einen von euch im himmlischen Familienlicht willkommen zu heißen.«

Mattias’ Stimme ist voller Freude. Die Gemeindemitglieder sehen ihn erwartungsvoll an.

»Wie sich gezeigt hat, wünscht sich Gott, dass unsere Familie abermals wachsen soll – oder genauer gesagt: meine Familie.«

Alle sitzen mucksmäuschenstill da. Keiner versteht, was er damit sagen will. Ist Ellenor schwanger? Das kann doch nicht sein?

Mattias lacht und ist sichtlich amüsiert angesichts der verwirrten Gemeindemitglieder.

»Ich kann euch ansehen, was ihr jetzt denkt. Aber nein, wir bekommen kein weiteres Kind, meine liebe Ellenor und ich. Dafür wären wir nun wirklich zu spät dran.«

Den Leuten bleibt das Lachen im Halse stecken. Die siebenundfünfzigjährige Ellenor in der vordersten Bankreihe sieht nicht aus, als würde sie davon etwas mitbekommen. Ein bisschen Spucke rinnt ihr über das Kinn, und Vivianne tupft ihrer Mutter mit einem Taschentuch die Mundwinkel trocken. Sara sitzt mit gesenktem Kopf auf der anderen Seite ihrer Großmutter.

»Wir sprechen auch nicht von einem weiteren Kind. Gott, unser Herr, hat mir einen anderen Wunsch vermittelt. Ich habe mich anfangs sehr schwer damit getan, ihn zu akzeptieren, und ich will ehrlich sein, auch wenn es mir unangenehm ist: Ich habe darüber nachgedacht, mich dem Willen des Herrn zu widersetzen.«

Das Entsetzen in der Gemeinde ist fast mit den Händen greifbar. Einige rutschen unruhig auf ihren Plätzen herum. Sich dem Willen Gottes widersetzen? Ist Mattias verrückt geworden?

Ihr Anführer hebt beschwichtigend die Hände. Er wartet ab, bis auch die Letzten wieder still sitzen und der leise Aufruhr sich vollends gelegt hat, ehe er weiterspricht.

»Wir alle wissen, dass die Wege des Herrn unergründlich sind. Der Herr tut nicht immer, was wir von ihm erwarten, und er will auch nicht immer das, wovon wir ausgehen, dass er es will. Doch er will stets unser Bestes. Das ist das Einzige, worauf wir in dieser Welt vertrauen können. Dass Gott der Herr uns wohlgesinnt ist.«

Endlich macht sich Entspannung breit. Dass Gott gut ist, wissen sie alle. Doch Tommy hört leise Alarmglocken schrillen. Wie eine regenschwere Wolke zieht in ihm ein mulmiges Gefühl auf. Worum geht es hier gerade?

Mattias fährt mit fester Stimme fort.

»Wir dürfen Gott nicht verurteilen. Und wir dürfen einander nicht verurteilen.«

Jetzt murmeln die Gemeindemitglieder beifällig, und einige heben die Hände gen Himmel.

»Gott will …«

Derlei Kunstpausen sind ungewöhnlich für Mattias.

»… dass ich mir eine zweite Frau nehme.«

Letzteres ruft er fast, als wäre es ein Geschenk, das er ihnen allen präsentiert.

Es wird totenstill. Einige sehen ihn mit offenem Mund an. Tommy sieht ihn mit offenem Mund an.

Als Mattias fortfährt, sieht er zu Ellenor.

»Anfangs hatte ich wie gesagt Schwierigkeiten, es zu akzeptieren. Und glaubt mir, wenn ich sage, dass es einige Zeit gedauert hat, bis ich mich mit dem Wunsch Gottes versöhnt habe. Es waren zahlreiche Gebete und Loblieder in aller Einsamkeit nötig und viele lange Gespräche mit meiner Frau, meiner über alles geliebten Ellenor.«

Er wirft ihr einen liebevollen Blick zu. Geistesabwesend starrt sie zur Zimmerdecke.

»Doch durch unseren Glauben wissen wir, dass Gottes Wort Gesetz ist. Ihm gegenüber Ungehorsam zu zeigen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Daher habe ich mich nach langer Bedenkzeit dazu durchgerungen, dass wir uns seinem Willen fügen müssen.«

Die Stille ist ohrenbetäubend.

»Und natürlich werde ich mir eine zweite Frau nehmen. Sie wird meine zweite geliebte Gattin, aber auch eine Schwester für Ellenor sein. Das hier ist etwas, was wir gemeinsam tun – wir beide zusammen.«

Mattias streckt die Hand nach Ellenor aus. Mit sanftem Nachdruck zieht Vivianne ihre Mutter von der Bank hoch. Ellenor steht wankend auf, hinkt leicht torkelnd auf ihren Mann zu, und mit fester Hand nimmt er ihre und hebt sie dann in einer gemeinsamen Bewegung gen Himmel. Tommy findet insgeheim, dass es nach Siegergeste aussieht. Ein kleines Spuckefädchen hängt von Ellenors Kinn.

Der darauffolgende Jubel scheint von oben zu kommen – und wird zusehends lauter. Die Gemeindemitglieder springen auf – Mama und Ingrid auch – und klatschen begeistert in die Hände. Erst als sie sich alle wieder gesetzt haben, dämmert es Tommy, dass er nicht mit aufgestanden ist. Er schämt sich ein bisschen, doch dieses Gefühl wird nicht lange anhalten.

Stark wie ein Baum steht Mattias mit Ellenor an seiner Seite vorn am Altar. Er hebt die freie Hand. Erneut wird es still in der Gemeinde.

»Danke, dass ihr die Freude mit uns teilt.«

Es bleibt weiter still.

Niemand sagt etwas.

Nur Mattias.

»Gott hat meine zweite Frau für mich ausgewählt. Ich bin demütig angesichts seiner Entscheidung.«

Sanft sieht er Ellenor an. Sie selbst starrt blicklos über die Köpfe der Gemeinde hinweg. Tommy fragt sich, ob ihr überhaupt bewusst ist, was hier gerade geschieht. Es wird das Letzte sein, was er noch denkt, ehe die Panik überhandnimmt.

»Liebe Gemeinde.«

Mattias blinzelt nicht einmal mehr.

»Bei meiner zukünftigen Ehefrau handelt es sich um Ingrid.«

Die Gemeinde bricht in überbordenden Jubel aus, der von den Wänden widerhallt und fast das Dach abhebt. Doch Tommy hört es nicht. Mama neben ihm zittert. Tommy könnte nicht sagen, ob vor Freude oder im Schock, aber es ist ihm auch egal. Er kann nicht mehr klar denken. Was passiert hier gerade? Wie kann er diesem Wahnsinn ein Ende setzen?

Dann spürt er, wie Ingrid sich rührt. Es ist bloß eine minimale Bewegung und in der nächsten Sekunde schon wieder vorbei, aber es ist, als wäre eine Schockwelle durch sie hindurchgerollt, bei der das Blut zu Eis gefroren und das Herz ganz kurz stehen geblieben ist.

Tommy kennt seine kleine Schwester. Er weiß, wovon diese sekundenlange Starre herrührt. Er deutet ihre Körpersprache, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Sie will Mattias nicht heiraten. Mattias zu heiraten ist das Letzte, was sie will.

Lieber will sie sterben.