Dass sie Ellen nicht retten konnten, setzt ihr schwer zu. Idun träufelt Olivenöl über den Salat und schluckt trocken. Mika wirft eine Faustvoll frisch gehackter Kräuter in die Salatschüssel.
»Er ist doch ganz nett?«
Sie sagt es fast schon betrübt. Idun krönt den Salat mit ein paar Salzflocken.
»Ja.«
Mika befüllt die Wasserkaraffe.
»Aber?«
Idun kratzt sich am Hals.
»Er ist nicht Calle.«
Sie gehen ins Wohnzimmer. Tareq und Per sitzen schon am Tisch, Papa mit einem Glas Wein vor sich, Tareq mit einem Glas Wasser.
»Ist mir ein bisschen peinlich, dass ich einfach so angenommen habe, du würdest Wein trinken.«
Tareq dreht sein Wasserglas in den Händen.
»Das muss dir nicht peinlich sein. Ich nehme es niemandem krumm, wenn er mir Alkohol anbietet.«
Mika setzt sich neben Papa, Idun neben Tareq.
»Trinkst du keinen Alkohol?«
Tareq sieht Mika schulterzuckend an.
»Selten. Ich bin Moslem, und meine Mutter hätte am liebsten, wenn ich gar keinen trinke.«
Er zwinkert ihr zu. Sie lächelt zurückhaltend und greift dann zu der Weinflasche.
»Also, ich will jedenfalls ein Glas. Papa und ich sind dann gleich wieder weg. Uns ist klar, dass ihr noch viel zu tun habt, wir wollten nur sicherstellen, dass ihr etwas zu essen kriegt, so hart, wie ihr gerade arbeitet.«
Sie versucht, fröhlicher zu klingen, als sie ist. Idun drückt Tareq die Salatschüssel in die Hand und nimmt sich selbst ein Stück Lachs.
»Es ist noch einiges zu tun, ja.«
Per sieht sie bekümmert an.
»Essen muss man aber trotzdem. Sogar du, Idun.«
Sein Blick ist voller Mitgefühl. Als er weiterspricht, hat er die Stimme gesenkt.
»Wir haben gehört, dass das Mädchen gestorben ist. Das ist wirklich in jeder Hinsicht ein Drama.«
Sowohl Idun als auch Tareq blicken jäh auf. Idun versucht, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken.
»Woher wisst ihr das?«
Per nimmt einen Schluck Wein.
»Boden ist eine Kleinstadt, hier reden die Leute. Es tut mir wahnsinnig leid, dass es so enden musste. Was für ein Albtraum für die Eltern.«
Ganz egal, wie abgebrüht man als Polizist je sein kann – an den Tod von Kindern gewöhnt man sich nie. Idun könnte heulen. Stattdessen kaut sie auf ihrem Lachs herum. Er schmeckt kräftig nach Dill und Zitrone, trotzdem kann sie ihm heute nichts abgewinnen.
»Es ist ein Albtraum, für alle Beteiligten.«
Mika streckt sich nach der Salatschüssel aus.
»Könnt ihr ein bisschen was über den Tatverdächtigen erzählen?«
Idun streift Tareq mit dem Blick. Er sieht aus, als wäre er voll und ganz aufs Essen konzentriert. Sie hüstelt leise, um seine Aufmerksamkeit zu wecken.
»Papa ist Psychologe, und Mika ist Dozentin an der Universität. Sie haben eine mentale Verschwiegenheitserklärung unterschrieben, damit ich mit ihnen brainstormen kann. Wenn dir das unangenehm ist, wechseln wir das Thema, bis die beiden weg sind.«
Tareq kaut auf einem Bissen Lachs und spült ihn mit Eiswasser hinunter.
»Mit einem Psychologen und einer Unidozentin zu brainstormen klingt doch nach einer guten Idee.«
Er hebt kraftlos das Glas, doch niemand am Tisch erwidert die Geste.
»Auf den ersten Blick«, überlegt Idun laut, »sieht alles nach einer Racheaktion aus. Ein Junge, der bei einer schlimmen Pflegefamilie untergebracht war, rächt sich jetzt an denen, die ihn dort untergebracht haben. An einer Frau vom Sozialdienst und an dem Richter, der die Unterbringung angeordnet hat.«
Mika macht große Augen.
»Ein Rachemord also …«
Idun runzelt die Stirn.
»Im Milieu sind rachemotivierte Verbrechen nicht unüblich. Schwerstkriminelle rächen sich ständig aneinander. Aber unter normalen Leuten, wenn man so will, ist Rache als Motiv für ein Kapitalverbrechen eher selten. Deshalb fällt es mir schwer zu glauben, dass es in unserem Fall wirklich so sein soll.«
Tareq tupft sich die Mundwinkel mit der Serviette ab.
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Es fühlt sich verkehrt an.«
Per nimmt sich ein zweites Stück Lachs und salzt ordentlich nach.
»Darf ich fragen, was das für eine Unterbringung war? War das hier in Boden?«
Idun zögert. Per fährt sich mit dem ausgestreckten Finger über den Mund.
»Die Schweigepflicht gilt.«
Idun späht zu Tareq. Er scheint sich wieder auf sein Essen zu konzentrieren.
»Sagt euch der Paradieshof etwas?«
Mika reagiert auf den Namen sofort. Deshalb bekommt Idun nicht mit, dass auch ihr Vater die Stirn runzelt.
»Der Paradieshof ist eine Sekte, die einen gleichnamigen Hof draußen in Bredåker besitzt und bewirtschaftet. Sie war sogar Gegenstand eines – eher fragwürdigen – Forschungsprojekts meiner Fakultät.«
Mika klingt so energiegeladen, dass sowohl Idun als auch Tareq beim Essen innehalten.
»Eine richtige Sekte?«
»Absolut. Sie behaupten von sich, dass sie dem Christentum nahestehen, aber das tun sie keineswegs. Tatsächlich hat die Gemeinde mit dem christlichen Glauben so gut wie nichts am Hut, im Gegenteil, viele Christen empfinden das, was auf dem Hof vor sich geht, als regelrechten Verrat am christlichen Glauben.«
Idun legt ihr Besteck beiseite.
»Eine Sekte – was heißt das genau?«
Mika tupft sich den Mund mit der Serviette ihres Vaters ab.
»Das wichtigste Merkmal ist wohl, dass es einen totalitären Anführer gibt, dem nicht widersprochen werden darf. Es kann durchaus Versammlungen oder Beratungen geben, aber das Wort des Anführers ist und bleibt Gesetz. Die ganze Organisation baut auf Kontrolle auf, die wiederum oftmals auf Schuld und Schamgefühlen fußt – die Mitglieder empfinden eine Schuld gegenüber Gott, die nicht selten das Gefühl des Geliebtseins überwiegt. Die Frömmigkeit an sich basiert somit schlicht und ergreifend auf dem Angstprinzip.«
Idun hört ihrer Schwester aufmerksam zu. Auch Per hat inzwischen aufgehört zu essen und lauscht seiner jüngeren Tochter fasziniert.
»Es geht letztlich um Kontrolle und Macht. Es geht darum, über das Leben und das Verhältnis der anderen zu Gott zu bestimmen. Der Anführer vergibt, heilt und spricht die Mitglieder von der Sünde frei. Natürlich wollen alle diese Heilung erfahren, aber es ist fast unmöglich, an diesen Punkt zu gelangen, was zu einem lebenslangen Kampf um ein unerreichbares Ziel führt. Insofern kann der Anführer die Mitglieder so gut wie bis in alle Ewigkeit an der kurzen Leine halten.«
Mika verstummt.
»Das mit der Befreiung … Worum geht es da genau?«, hakt Idun nach.
Mika stochert noch kurz auf ihrem Teller herum und legt dann ihr Besteck beiseite.
»Es geht darum, die Mitglieder von der Sünde zu befreien. Der Anführer ist der Einzige, der das übernehmen kann, deshalb sind die anderen von ihm abhängig. Ich sage, ›von ihm‹, weil es sich in aller Regel um einen männlichen Anführer handelt.«
Idun nimmt den letzten Schluck aus ihrem Wasserglas.
»Ihr müsstet bitte entschuldigen, aber wir müssten allmählich weiterarbeiten …«
Per und Mika nicken verständnisvoll.
»Fahrt nur. Wir räumen hier auf und schließen hinter uns ab.«
Tareq bedankt sich artig für das Abendessen. Er gibt Per und Mika die Hand, ehe er hinaus auf den Flur geht. Idun umarmt ihre zwei Lieben und eilt Tareq hinterher. Sie schlüpfen in ihre Schuhe und laufen zum Parkplatz hinter dem Haus. Tareq hält auf ihr Dienstfahrzeug zu, während Idun daran vorbeigeht.
»Fahr schon mal vor, ich komme in meinem Auto nach. Wir wissen ja nicht, wie spät es noch wird und ob wir sonst noch heimkommen.«
Tareq nickt.
»Dann bis gleich auf dem Revier. Und danke für das leckere Abendessen!«
Idun steigt in ihren Wagen ein und sieht Tareq vom Parkplatz fahren. Irgendetwas an diesem Fall ist merkwürdig, das spürt sie intuitiv. Dass Tommy hinter sich hergeputzt hat, will ihr nicht aus dem Kopf gehen; war das wirklich nur alte Gewohnheit? Eine Unart, die er sich in einer schlimmen Kindheit angewöhnt hat? Oft versuchen Gewalttäter, ihre Spuren zu verwischen, wenn etwa die Polizei ihre Fingerabdrücke im System hat und dem Täter so auf die Spur kommen könnte. Doch Tommy war nicht in ihren Datenbanken registriert. Alternativ könnte er seine Spuren beseitigt haben, um zu verhindern, dass sie ihm bei einem zukünftigen Verbrechen auf die Spur kommen würden. Und damit stünde die Frage im Raum, welches Verbrechen Tommy noch geplant hätte. Stehen noch mehr Leute auf seiner Befreiungsliste? Andererseits sitzt er inzwischen in Haft und kann keine weiteren Taten mehr verüben. Trotzdem hat Idun ein mulmiges Gefühl. Etwas an dieser Geschichte ist nicht so, wie es sein sollte. Verärgert muss sie sich eingestehen, dass sie partout nicht daraufkommt, was das sein sollte.
Sie will gerade den Motor anlassen, als ihr siedend heiß einfällt, was sie vergessen hat. Verdammt noch mal! Sie wollte mit Marie ins Kino!
Seufzend steigt Idun wieder aus. Sie will zu ihrer Nachbarin laufen und Abbitte leisten. Mika wird sie dafür ausschimpfen. Ihre kleine Schwester liegt Idun ständig in den Ohren, dass sie endlich ein echtes Sozialleben führen soll.
Idun schlägt die Wagentür hinter sich zu und läuft zurück zur Hauseingangstür.