Bredåker 1998 

Nach dem Gottesdienst geht Sara allein hinaus in den Garten hinter dem Gemeindesaal. Sie legt sich ihren Schal enger um die Schultern und lehnt sich schwer gegen einen Baum. Kurz presst sie die Lider zusammen und atmet tief die feuchte Septemberluft ein.

Als sie die Augen wieder aufschlägt, ist sie nicht mehr allein. Sie zuckt heftig zusammen.

»Hast du mich erschreckt!«

Sie legt beide Hände auf die Brust und kichert nervös. Unter dem rauen Kleiderstoff spürt sie ihr Herz adrenalinbefeuert hämmern.

»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht.«

Ingrid sieht Sara an, die schwer atmet.

»Macht nichts … Ich war nur tief in Gedanken und dachte, ich wäre allein.«

Ingrid mustert sie von Kopf bis Fuß.

»Du hattest echt Angst … Das wollte ich nicht, wirklich nicht. Entschuldigung.«

Sie legt Sara die Hand auf die Schulter, drückt sie kurz und zieht die Hand wieder zurück.

»Tommy hat seit dieser Aktion deiner Mutter schlimme Schmerzen.«

Ingrid klingt nüchtern, emotionslos, als wollte sie Sara lediglich davon in Kenntnis setzen. Sara ist unwohl zumute, sie weiß nicht, was sie darauf erwidern soll, und schweigt.

»Was deine Mutter mit den Menschen hier im Paradieshof macht«, fährt Ingrid fort, »ist gottlos.«

Das Wort fühlt sich an wie ein Pistolenschuss. Sara reißt die Augen weit auf.

»Hör sofort auf! So etwas darfst du nicht sagen!«

Ihre Stimme ist schrill und scheint zwischen den Bäumen widerzuhallen.

Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, ehe die Erkenntnis sie trifft wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mit einem Mal weiß Sara, dass sie sich nicht mehr dagegen wehren kann. Denn Ingrid hat recht. So schmerzhaft es ist – Ingrid hat recht. Was Vivianne tut, ist tatsächlich gottlos.

Angesichts der Wahrheit dreht sich ihr der Magen um.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Bei allem, was deine Mutter tut, geht es gar nicht um Buße oder Besserung. Das ist nicht Gott, der da handelt. Menschen auf diese Weise zu foltern ist nichts weiter als ein Verrat an Gottes Willen.«

Sara bekommt weiche Knie, doch kurz bevor sie auf die Erde sinken will, packt Ingrid sie am Arm und zieht sie wieder hoch. Ihr ist schwindlig, ihr fehlen die Worte, ihr Hals ist wie ausgedörrt, wie zugeschnürt, sie kann weder sprechen noch atmen. Die klare Herbstluft ist wie weggefegt, es fühlt sich an, als wäre aller Sauerstoff weg, als wäre nichts mehr übrig, was sie einatmen könnte.

Ingrid hält sie am Arm fest. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Ein Ausatmen, das gar nicht möglich sein dürfte, ein Satz, der ihre eigene Existenz in ihren Grundfesten erschüttert und den Gott ihnen nie vergeben würde, wenn er ihn hörte. Trotzdem stößt Ingrid ihn leise hervor.

»Deine Mutter ist der Teufel persönlich.«

Und dann ist sie weg.

Sara bleibt allein zurück, ihr ist kalt, sie lehnt sich gegen den Baumstamm, und ihr Körper fühlt sich an, als würde es in ihm rauschen. Nur zwei Gedanken sind in ihr übrig, und sie wiederholen sich in Endlosschleife.

Ingrid hat recht.

Und Gott hört alles.