Marie kippt den Stuhl nach hinten und zerrt Idun in Richtung des eingebauten Verlieses. Das hat sie also während ihrer ersten Tage und teils auch nachts hier im Haus gezimmert, während Idun schlaflos dem Hämmern gelauscht hat. Wenn sie nur da schon gewusst hätte, dass der Lärm aus ihrer künftigen Todeszelle kam! Bei dem Gedanken wird ihr fast schwarz vor Augen.
Sie sagt kein Wort mehr, als Marie sie rückwärts zieht. Ihr schwirrt der Kopf, und sie kann ihre Gedanken nicht ordnen. Splitter logischer Erklärungen flattern an ihr vorbei. Der Baustellenstaub auf dem Umschlag an Åke stammte von hier. Hier sind die Briefe geschrieben worden, in Iduns Nachbarwohnung. Nur dass Idun immer noch nicht begreift, warum.
Sie spürt Calles träge Stimme eher, als dass sie sie hört, spürt Mikas liebevolle Umarmungen und Papas ewiges Gerede von Nachtisch. Die Einzige, die sie in Gedanken nicht an sich heranlässt, ist Mama. Wenn Idun auch noch an sie denkt, dann zerrinnt ihr die letzte Chance zu überleben zwischen den Fingern. In ihrer jetzigen Lage gibt es für Sentimentalität klare Grenzen, denn zum ersten Mal in ihrer ganzen Laufbahn fühlt Idun sich einem anderen Menschen unterlegen.
»Bitte, Marie …«
Sie hört selbst, wie flehentlich sie klingt, obwohl sie doch weiß, dass jetzt das Gegenteil wichtig wäre. Marie bleibt mitten in der Bewegung stehen. Mit einem dumpfen Geräusch stellt sie den Stuhl auf dem Boden ab und geht um Idun herum. Sie kommt so dicht an Idun heran, dass die Maries Atem auf dem Gesicht spürt. Er ist warm und riecht nach nichts.
»Ja?«
Idun versucht, langsam zu atmen.
»Ich weiß schon, wie das hier zu Ende geht. Aber ich muss wissen, warum.«
Marie scheint kurz zu überlegen und richtet sich dann gerade auf. Sie holt sich selbst einen Stuhl und setzt sich Idun wieder gegenüber.
»Eigentlich ist es ganz einfach. Alles dreht sich um den Paradieshof.«
Idun hört aufmerksam zu, lauert auf jedes Detail, an das sie anknüpfen könnte – sie muss jetzt versuchen, Zeit zu gewinnen.
»Eivor und Åke haben uns in die Hölle gesteckt. Denn nichts anderes war es dort – eine Hölle.«
Uns.
Mit einem Mal ist alles klar.
»Du bist Ingrid.«
Marie blinzelt. Es dauert kurz, ehe sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln breitmacht.
»Da schau einer an. Die Frau Kommissarin kann ihre Arbeit ja doch richtig machen.«
Idun bleibt die Luft weg.
Sie wird in dieser Wohnung sterben. Hinter der Wand zu ihrer eigenen Wohnung.
»Wir hatten es eindeutig besser, als wir noch mit Papa zusammengelebt haben. Seine Schläge waren immer noch besser, weil da noch ein Körnchen Liebe enthalten war. Auf dem Paradieshof ging es nur noch um Gehorsam und Verachtung.«
Letzteres kann Idun sogar teils verstehen. So funktioniert der Mensch nun mal – lieber eine schmerzhafte als gar keine Liebe.
»Åke und Eivor haben uns alles genommen. Sie haben uns Mattias und Ellenor ausgeliefert – und später dann Vivianne. Die hat Tommy letztlich den Garaus gemacht. Sie hat ihm das letzte bisschen Menschlichkeit geraubt.«
Idun versucht zu nicken.
»Dann habt ihr Sara entführt, um … Mattias zu bestrafen?«
Zu spät erkennt sie, dass sie die falsche Frage gestellt hat.
Zorn blitzt in Maries Augen auf.
»Nein!«
Idun platzen fast die Trommelfelle.
»Hör mir jetzt zu! Wir haben Sara entführt, um sie von Mattias zu befreien . Wir hätten auch Vivianne entführen können, aber für die war es längst zu spät. Die hatte sich schon an den Teufel verkauft, weil sie dieselbe Sicht auf die Dinge hatte wie ihr Vater. Sara hatte noch Zweifel, sie hatte eine andere Sicht auf den Menschen. Sie konnten wir noch befreien.«
Idun versucht zu nicken, aber es wird eher ein Zittern des Kinns.
»Ich glaube, ich hab es verstanden.«
Marie sieht sie misstrauisch an.
»Wirklich?«
Idun nickt erneut. Diesmal geht es besser.
»Ja. Und Eva habt ihr von Åke befreit. Damit sie dem Vater, der für andere kein bisschen Mitgefühl aufbrachte, entkommen konnte.«
Langsam verändert sich Maries Gesichtsausdruck. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und sieht fast aus, als würde sie anfangen zu weinen.
Idun packt die Gelegenheit beim Schopfe. Mit aller Kraft reißt sie die Hände im Rücken nach oben und wieder nach unten. Die Fesseln schneiden ihr in die Haut, es brennt wie Feuer um die Handgelenke. Doch dann spürt sie, dass die Knoten nicht mehr ganz so fest sitzen.
Marie nimmt die Hände wieder herunter und starrt auf ihre Knie hinab. Idun rührt sich keinen Millimeter.
»Erzähl mir von Ellen. Die habt ihr von Eivor befreit?«
Marie nickt langsam und blickt wieder auf. Sie hat kein bisschen geweint.
»Ich hab in einer Frauenzeitschrift einen Artikel über Eivor gefunden – ist jetzt schon ein bisschen her.«
Idun tut so, als wüsste sie, wovon Marie redet.
»Damals hatten wir bereits geplant, ihren Sohn – Magnus – zu entführen. Aber dann stand in dem Interview, dass sie eine schwere Krebserkrankung überlebt und ihr Leben zurückbekommen hätte. Sie erzählte dem Reporter von der Nachspeise, die das Leben ihr beschert hätte – Ellen. Dieses fantastische Wesen, mit dem Eivor so gern alle Zeit verbracht hat. Sie erzählte von Ellens Diabetes und welche ernste Krankheit das wäre – und welches Glück, dass sie ihrer kranken Enkeltochter helfen könnte. In den Siebzigern hat kaum jemand den Krebs, den sie hatte, überlebt. Der saß anscheinend im Hals. Aber Eivor überlebte – mit dieser hässlichen Narbe, kaputten Stimmbändern und dieser riesigen Erleichterung, dass sie noch eine Zukunft hätte. Und weil Ellen ihre Zukunft sein sollte, haben wir beschlossen, dass wir stattdessen besser sie befreien sollten. Das arme Mädchen! Mit so einer Großmutter aufzuwachsen!«
Idun sitzt dieser Frau stumm gegenüber. Ingrid – sie war mit Tommy im Haus der Vendels, als sie Eva an die Decke gehängt haben. Es war Ingrid, die die Briefe verschickt und die Lampe zurück in den Flur gehängt hat. Das Geschwisterpaar wollte sich an niemandem rächen. Sie waren tatsächlich auf Befreiung aus: auf die Befreiung aus der Hölle, die sie selbst hatten erleben müssen. Es ging ihnen nur um Befreiung. Um Befreiung von bösen Erwachsenen, die vermutlich sogar ihr Bestes getan hatten, allerdings in einer Zeit, in der es kein geeignetes Sicherheitsnetz gab – und das bisschen vermeintliche Sicherheit, das den Geschwistern zuteilwurde, beraubte sie ihrer Kindheit.
Das Ganze war nie persönlich gemeint.
Sondern biblisch.
Idun tut alles weh. Langsam dreht sie die Hände, um die Fesseln weiter zu lockern, gibt aber acht, dass Marie die Bewegung hinter ihrem Rücken nicht sieht.
Sie will gerade nachhaken, als es draußen an der Wohnungstür klingelt. Wie der Blitz springt Marie auf und schlägt Idun hart ins Gesicht. Der Schlag ist so heftig, dass sie mitsamt Stuhl umkippt und mit dem Hinterkopf auf den Boden kracht. Ihr Blickfeld verschwimmt, und wie in Zeitlupe spürt sie, wie jemand sie mitsamt Stuhl über den Boden schleift. Marie ächzt vor Anstrengung, und dann hört sich plötzlich alles anders an. Die Geräusche klingen gedämpft. Von ferne hört Idun wieder die Klingel. Diesmal klingt sie dumpf.
Die Dunkelheit ist allumfassend, und für den Moment kann sie rein gar nichts mehr sehen. Es riecht nach frisch verarbeitetem Holz. Marie muss sie in den Verschlag geschleppt haben.
Stumm denkt sie an Calle, an Papa und Mika. Und an Mama. Endlich erlaubt Idun sich, auch an Mama zu denken. Im selben Moment kommen ihr die Tränen.
Idun glaubt nicht an Gott. Trotzdem spricht sie im Dunkeln ein Gebet.