Als Nivedita Saraswati das erste Mal traf, war sie dreiundzwanzig und Saraswati ein wenig mehr als doppelt so alt.
Nivedita hatte Saraswatis Seminar im kommentierten Vorlesungsverzeichnis dick umkreist. Nur dass Saraswati dort nichts kommentiert hatte, sondern lediglich schrieb: Kali Studies. Nicht das chemische Element, sondern die Göttin — und darunter ein Bild von Kali. Von Niveditas Kali. Schwarz und nackt, mit herausgestreckter Zunge und einem Rock aus abgerissenen Armen. Von Kali, mit der Nivedita schon immer endlose Gespräche in ihrem Kopf geführt hatte, wenn die Welt keinen Sinn ergab oder wenn die Welt zu viel Sinn ergab. Von Kali, die sie bis in den Schlaf verfolgt hatte, bis in die Erinnerung an Schlaf, bis in ihre frühesten Träume.
Nivedita war noch zu jung gewesen, um selbst lesen zu können, also musste ihr ihre Mutter Rotkäppchen vorgelesen haben. Jedenfalls stand sie mitten im Satz in einem Märchenwald, der verdächtig nach Regenwald aussah (oder hatte ihre Mutter ihr das Dschungelbuch vorgelesen?), und aus dem Dickicht winkte ihr eine dunkle Gestalt mit zweien ihrer Arme, während sie mit den anderen beiden die Äste auseinanderbog. Nivedita erkannte Kali sofort als die Göttin, die überall in der Wohnung ihrer Eltern herumhing und stand und sogar auf dem Armaturenbrett des Familienautos klebte und beim Fahren immer mit ihrem Kopf und den erhobenen Armen wackelte, und stellte die Frage, die ihr, seit sie sie das erste Mal mit dem Finger angestupst hatte, um sie zum Leben zu erwecken, auf dem Herzen brannte: »Warum hast du so viele Arme, Kali?«
Kalis Lächeln ließ ihre lange rote Zunge aus ihrem Mund rollen. »Um dich besser umarmen zu können.«
Kali Studies war wie eine Nachricht aus dieser Welt ihrer Kindheit, als Identitäten der Stoff von Märchen gewesen waren, in denen alles möglich schien und — nur damit es nicht zu harmonisch wurde — eine stets zu Unfug aufgelegte Horde Dschinns alle Normen auf den Kopf stellte und alle Werte remixte. Nivedita, neu von Essen nach Düsseldorf gezogen, neu in ihrer WG, neu im Masterstudiengang Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie, begrüßte diesen Splitter Vertrautheit mit der ganzen Inbrunst ihrer Befremdung.
»Kali Studies?«, wiederholte Priti, mit der sie damals vor drei Jahren in nahezu jeder Nacht skypte, weil Priti gerade ebenso neu in London gestrandet war, um am King’s College War Studies zu studieren (in Wirklichkeit war Priti nicht für War Studies angenommen worden und studierte stattdessen Germanistik, aber das fand Nivedita erst heraus, als es bereits zu spät war). »Hier sind alle destined, in den Civil Service zu gehen«, erklärte Priti unverdrossen. »Oder into Government. Während ihr … was kann man mit Kali Studies werden?«
Ein Klopfen an der Tür ersparte Nivedita die Antwort.
»Ja?«
»Ja, ich meine, meinst du, wir sollten da hingehen?«, fragte ihre zweite Mitbewohnerin Charlotte — genannt, wie hätte es auch anders sein können, Lotte — mit glühenden Wangen und bereits mitten im Gespräch, bevor sie richtig hereingekommen war. Lotte war eine dieser Giraffenfrauen, groß mit langen Armen und langem Torso, der fast ohne erkennbare Taille in ihre langen Beine überging, so dass sie stets eher elegant als erotisch wirkte. Und Priti, die Menschen nach ihrem Sexappeal kategorisierte, hielt sich nicht zurück, ihre Einschätzung visuell kundzutun. Nivedita kippte den Bildschirm ihres Laptops, auf dem Priti dazu den Zeigefinger einmal, zweimal, dreimal quer über ihre Kehle zog, möglichst unauffällig aus Lottes Blickfeld, während sich ein Strom von Informationen über sie ergoss: Seminarräume, Uhrzeiten, Wochentage, so dass es eine Weile dauerte, bis sie herausfand, von welchem Seminar Lotte überhaupt sprach. Als dann der magische Name fiel, erwischte er Nivedita unerwartet.
Sie hatte gedacht, dass nur sie sich für Kali interessierte, und ihre Intimität mit der indischen Göttin auf die unbekannte Saraswati übertragen, so dass beide in ihrem Kopf zu einer Person verschmolzen waren und versprochen hatten, Nivedita in ihre Arme zu schließen. Es fühlte sich an, als hätte Lotte sie bei besonders kinky Sexspielen ertappt.
»Nicht Kinky Studies, Kali Studies«, berichtigte Lotte und wusste natürlich bereits alles darüber, zumindest über die Professorin. »Sie ist Kult«, verkündete sie und versuchte, eine dramatische Pause einzulegen, doch die Worte drängten zu heftig aus ihr heraus. »Alle reden von ihr, Nivedita! Ich meine: Alle! Hast du ihren Auftritt bei Maischberger gesehen? Oder war das Markus Lanz? Wahrscheinlich beide. Ich habe nur Angst, dass wir nicht mehr reinkommen.«
Also radelte Nivedita zwei Tage später zusammen mit Lotte zur Uni und wartete in einem brechend vollen Seminarraum auf die Ankunft der sagenhaften Saraswati. Doch die ließ sich Zeit.
Eine Viertelstunde nach der akademischen Viertelstunde stürmte sie schließlich mit wehender Dupatta herein, schleuderte ihre Ledertasche aufs Pult und verharrte einen Atemzug lang mit dem Rücken zu ihnen vor der Tafel, als müsse sie sich erst sammeln, bevor sie sich dem Seminar stellte wie einer Herausforderung. Ihr Haar lag lang und schwarz und schwer auf ihrem Nacken und ließ Niveditas eigenen Nacken bis hinunter zwischen die Schulterblätter prickeln in Erinnerung an das Streicheln der Borsten auf ihrer Haut, wenn Priti ihr die Haare bürstete, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis, das sonst nur Regen auf fließendem Wasser in Nivedita auslöste, oder die Bilder von Amrita Sher-Gil, oder Marihuana.
Saraswati drehte sich perfekt durchchoreografiert um, hob die Brille, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, vor die Augen und begutachtete mit gerunzelter Stirn die Reihen von Studierenden: »Okay, erst einmal alle Weißen raus.«
Schweigen, während sich alle fragten, ob sie richtig gehört hatten.
»Los, los, wir haben nicht den ganzen Tag. Packt eure Sachen. Ihr könnt im nächsten Semester wiederkommen. Dieses Seminar ist nur für Students of Colour.«
Es war, als würden sich tektonische Platten verschieben. Berge erhoben sich, wo vorher leere Flächen gewesen waren, die Erde barst auf und etwas brach von Niveditas Kontinent ab und trieb hinaus in die See der möglichen Optionen.
»Ich meine, das stand nicht im Vorlesungsverzeichnis«, protestierte Lotte, und Nivedita bewunderte sie für ihre Hartnäckigkeit, wenn auch nicht für ihre Fähigkeit, Gefahrensituationen einzuschätzen.
Saraswati warf Lotte einen langen Blick zu und sagte amüsiert: »Was ist so schwer an ›raus‹ zu verstehen, dass du es schriftlich brauchst?«
Ohne ein weiteres Wort nahm Lotte ihre Stifte-Rolle von Etsy und ihr Moleskine vom Tisch. Die ersten Studierenden drängten bereits unter Unmutsäußerungen aus der Tür, als ein elfenhaftes Mädchen mit elfenbeinfarbener Haut, wenn der Elefant Kettenraucher gewesen wäre, die Hand hob.
»Ja?«
»Wer zählt alles als Student of Colour. Also, wo ist die Grenze?«, fragte die junge Frau unsicher.
Saraswati klatschte in die Hände: »Exzellente Frage! Wer von euch fühlt sich von dem Begriff angesprochen?«
Ein paar Studierende erhoben sich zögerlich. »Ihr könnt bleiben!«
Lotte stand ebenfalls auf, allerdings mit gepacktem Rucksack. »Kommst du mit oder bleibst du?«, flüsterte sie Nivedita zu. Die Verletzung in Lottes Gesicht schmerzte Nivedita, aber zu gehen hätte sie viel mehr geschmerzt.
»Ich bleibe«, raunte sie zurück und fügte dann nachträglich dazu, um Lotte zu trösten: »Erstmal.«
»Aber du bist doch weiß«, sagte Lotte.
»Nein. Ich bin nicht weiß«, sagte Nivedita zum ersten Mal in ihrem Leben zu einer weißen Person. Sie hatte Priti schon häufig zu erklären versucht, dass sie genauso ein Anrecht auf ihr geteiltes ethnisches Erbe hatte wie Priti, dass sie — Herrgottnochmal, beziehungsweise: Hai Ram! — schließlich Verwandte waren. Aber bisher hatte sie noch nie einer weißen Deutschen die Gemeinsamkeit verweigert. Doch keine Kolonialarmee der Welt hätte sie aus diesem Seminar hinausbekommen.
Bloß konnte sie das alles Lotte nicht sagen, ohne sie noch mehr zu verletzen: Schatz, ich gehöre zu einem Club, zu dem du keinen Zutritt hast. Dabei gehörte Lotte zu zahllosen Clubs, zu denen Nivedita keinen Zutritt hatte. Zum Club derer, die zum Entzücken aller mit mädchenhaft weit aufgerissenen Augen ausrufen konnten … was auch immer Lotte ständig mit mädchenhaft weit aufgerissenen Augen rief. Zum Club derer, die an Weihnachten »nach Hause« fuhren und damit meinten: nach Hannover. Zum Club derer, die sich darüber beschweren konnten, dass zu wenig Frauen in den Serien vorkamen, die sie sich abends zusammen ansahen, ohne sich gleichzeitig darüber zu beschweren, dass in denselben Serien zu wenig Menschen mit mehr Melanin vorkamen.
Dabei stimmte Nivedita Lotte natürlich zu, dass sie gerne mehr weibliche Rollenmodelle gehabt hätte. Deshalb war es so aufregend, dass ein solches Rollenmodell nun so nahe vor ihren Augen hin und her stolzierte, dass sie es hätte berühren können, wenn sie auf die zerkratzte Melaminharzplatte des Tischs geklettert wäre und den Arm ausgestreckt hätte. Wahrscheinlich ging Saraswati in Wirklichkeit überhaupt nicht auf und ab, aber in Niveditas Kopf war sie zu dynamisch, um einfach nur vor ihrem Seminar herumzustehen.
»So!«, sagte Saraswati befriedigt, als sich die Tür hinter den letzten weißen Studierenden geschlossen hatte. »Dann fangen wir mal an. Warum seid ihr geblieben?« Die Stille schwoll in Niveditas Kehle an, bis sie meinte, alle ihre nie ausgesprochenen Worte würden sie zum Bersten bringen. Und während sie noch überlegte, wo sie anfangen sollte, platzte schon die Geschichte von Kali und dem Dschungel aus ihr heraus, allerdings endete sie nicht mit »um dich fester umarmen zu können«, sondern mit »um dir das Herz aus der Brust zu reißen und es durch ein stärkeres, besseres Herz zu ersetzen«.
Saraswati schaute sie ebenso lange an wie zuvor Lotte, und Nivedita überlegte, ob sie ihre Sachen packen und Lotte einfach hinterherlaufen sollte. Dann sagte Saraswati: »Wie heißt du?«
»Nivedita.«
»Komm diese Woche mal in mein Büro, Nivedita.«
Identitti:
Warum ist Kali so cool? Let me count the ways:
Sie ist eine Göttin. Ich meine, wo gibt es die noch? Okay, das ist Blödsinn. Es gibt genug Göttinnen. (Kann es genug Göttinnen geben? Andere Frage, anderer Post!) Aber welche der heute dominanten Weltreligionen hat noch eine Göttin, geschweige denn so viele, dass man sie unmöglich zählen kann?
Sie ist nackt, ohne dabei erotisch zu sein. Okay, das ist auch Blödsinn. Ich finde sie verdammt sexy. In ihrer Urform hatte Kali sogar nicht nur eine Vulva, sondern Hunderte. Move over, Venus! Kali ist eh nicht in einer Züchtig-in-einer-Muschel-stehend-die-Hand-vor-die-Brust-haltend-und-die-Beine-überkreuzend-als-müsse-sie-heftig-aufs-Klo-Form erotisch. Kalis Nacktheit sagt: Ich kann einen Bengalischen Tiger mit bloßen Händen erwürgen, also pass auf, sonst fress ich dich zum Frühstück.
Sie ist dunkel. Also, Schwarz. Manchmal auch dunkelblau oder dunkelbraun, und ich habe sie auch schon mal in dunkelgrün gesehen. Doch vor allem ist sie eines definitiv nicht: weiß!
Sie ist wild und wütend und trinkt das Blut ihrer Widersacher*innen. So will ich meine Göttinnen. Okay, so will ich selbst sein: wild und furchteinflößend und unkalkulierbar, oh ja, und einen Rock aus den abgerissenen Armen meiner Feind*innen hätte ich auch gerne. Okay, okay, am liebsten hätte ich gar keine Feind*innen, weil ich zu furchteinflößend wäre, als dass Leute mir blöd kämen.
Kali liegt beim Sex oben.
»Kali liegt beim Sex oben«, sagte Saraswati. »Warum ist das wichtig? Schließlich kann doch jede Göttin so Sex haben, wie sie will.«
Ich bin hier richtig, dachte Nivedita. Ich bin richtig! Der Gedanke erschreckte sie ebenso sehr, wie er sie erregte.
»Weil es keine private Vorliebe ist, sondern eine politische Entscheidung«, beantwortete Saraswati ihre eigene Frage. »Ihr alle kennt die Geschichte von Schneewittchen und dem Prinzen.« Mit dramatischer Geste richtete sie die Fernbedienung auf den Beamer und die Powerpoint-Präsentation sprang an. Die erste Folie zeigte einen Glassarg, über dem ein Märchenprinz aufragte. Die nächste hatte denselben Bildaufbau, nur dass dieses Mal weiß und leblos der indische Gott Shiva auf dem Boden lag und Kali nicht über, sondern auf ihm stand. Saraswati lächelte ihr Kalilächeln und begann: »Hier seht ihr den toten Shiva. Shiva ist shava, also ein Leichnam, weil er entschieden hat, sich asketisch aus der Welt zurückzuziehen. Und es ist Kali, die Shiva zum Leben erweckt, indem sie ihn … nein, nicht küsst. Sondern? Richtig! Mit ihren anderen Lippen küsst. Daraus ergeben sich einige interessante Fragen zu Consent, darauf werden wir später im Semester zu sprechen kommen. Heute ist für uns vor allem interessant, dass sich Kali weigert, unsichtbar zu sein. Sie zwingt Shiva dazu, sie wahrzunehmen und dadurch auch wieder mit dem Leben um ihn herum mitzufühlen. In diesem Mythos geht es also darum, zu erkennen, dass alle und alles eine Seele hat, die respektiert werden muss. Es geht um Liebe als revolutionären Akt.«
Klick, und der Beamer zeigte Mahatma Gandhi.
Klick: Martin Luther King.
Klick: bell hooks.
Nivedita schrieb mit, als hinge ihr Leben davon ab. Normalerweise malte sie während der Vorlesungen nackte Frauen in ihre Unterlagen und notierte nur hin und wieder einzelne Worte wie social constructivism, brute facts oder ganz neu: critical race theory. Saraswati war die erste Professorin, bei der ihr solche Stichworte zu immer neuen Sätzen anwuchsen, und das, weil die Sätze direkt zu Nivedita sprachen, weil Saraswatis Sätze direkt über Nivedita sprachen.
»Und warum ist Liebe so ein revolutionärer Akt? Weil das das erste ist, was man Menschen beibringt, die man kolonialisieren/unterdrücken/diskriminieren will: Dass sie nicht zu den liebenswerten Subjekten gehören«, sagte Saraswati und schrieb Nivedita. »Das ist so bedeutsam, weil wir nur für liebenswerte Subjekte Empathie empfinden, weshalb wiederum auch nur sie diese Empathie einklagen können. Es ist kein Zufall, dass alle verschiedenen diskriminierten Gruppen und Individuen die Empfindung teilen, dass sie weniger wert sind als andere. Genauer gesagt: dass sie weniger Liebe wert sind. ›Jemanden wie mich kann man nicht lieben‹ ist keine individuelle Aussage und verweist auf kein individuelles Problem, sondern auf ein soziales. Was natürlich zu einem individuellen Problem werden kann. Aber das ist ein anderes Thema. Heute spreche ich mit euch über strukturelle Probleme.«
Das Mädchen mit der senfgelben Brille und dem Wachsdruck-Turban neben Nivedita wurde unruhig und flüsterte: »Ich dachte, es geht um Rassismus.«
Nivedita flüsterte zurück: »Ey, es geht hier um Rassismus.« Und wunderte sich, woher sie die Vehemenz nahm.
»Denn das ist das Perfide an Liebe, respektive an Liebesentzug, als politischer Waffe, dass es nicht um eine ›reale‹ Bedrohung gehen muss, sondern dass die Angst, Liebe zu verlieren/nie zu bekommen/weniger Liebe zu erhalten bereits ausreicht, um Menschen psychisch und sogar physisch zu verkrüppeln.« Saraswati sah ihnen einer nach dem anderen tief in die Augen. Bevor sie weitersprach, vergingen mehrere Minuten, doch niemand bemerkte es, weil sie alle in Gedanken bei ihren eigenen Liebesdefiziten waren. Das Mädchen, das sich eben noch darüber beschwert hatte, dass es hier nicht genug um Rassismus ging, weinte eine scharfe, einsame Träne und machte keine Anstalten, sie zu verstecken.
Während ihrer Beziehung mit Simon würde Nivedita immer wieder die Notizen aus diesem ersten Seminar bei Saraswati heraussuchen und: Shit, shit, shit! denken.
In diesem Moment dachte sie aber nur: Wow, wow, wow!
Nachdem Saraswati mit jeder und jedem Augenkontakt gemacht hatte, griff sie in ihre mit Büchern vollgestopfte Ledertasche und zog ihren Bestseller im selben Moment heraus, in dem sie ihn auf die Kopfwand des Raumes projizierte. »Dekolonisation bedeutet, dass wir nicht nur die Wissenschaft und Politik, nicht nur die Theorie und die Praxis, sondern auch unsere Seelen dekolonisieren müssen«, sagte sie und schrieb Decolonize your Soul an die Tafel. »Wir können nur wertschätzend mit anderen Menschen of Colour umgehen, wenn wir lernen, uns selbst wertzuschätzen. Bevor wir unsere Feinde lieben, sollten wir erst einmal besser mit unseren Freunden umgehen.«
Auf der Unitoilette hatte jemand »breasts not bombs« durch »Viva la Vulvalation« ergänzt. Nivedita machte ein Selfie und überlegte, wie sich in Worte fassen ließ, was gerade geschehen war: Saraswati entdeckt zu haben, fühlt sich an wie eine Party, die nur für uns gegeben wird?
Aber auch ohne ihren Blog, ohne ihr Twitter und Instagram verbreitete sich die Nachricht über Saraswati ruckartig durch jene geheimen Kanäle, die immer dafür sorgten, dass alle relevanten Menschen alle relevanten Informationen erhielten. Innerhalb der nächsten Wochen stießen mehr und mehr Students of Colour aus allen möglichen Studienfächern und sogar von anderen Unis zu ihnen. Saraswati war die einzige Professorin, die einen Nasenring trug. Saraswati war die einzige Professorin, die Saraswati war. Identitätspolitik war groß. Niveditas Verständnis von Identitätspolitik war klein. Und alle hatten eine gute Zeit.
Alles, was Nivedita wusste, war, dass sie plötzlich jemand war. Eine Person mit einer Vergangenheit und daraus resultierend wahrscheinlich auch einer Zukunft. Sie war keine Abwesenheit mehr, kein unbeschriebenes Blatt, wo Kindheit und Jugend in einer deutsch-deutschen Familie sein sollten. Sie war plötzlich Anekdoten und Erinnerungen und Körpergedächtnis, weil ihre Anekdoten und Erinnerungen plötzlich Bedeutung erhielten. Und erst ihr Körpergedächtnis!
Weshalb Nivedita sich daranmachte, möglichst viele neue Körpersensationen zu sammeln. Sprich: Sie schlief zum ersten Mal in ihrem Leben mit Männern of Colour.
Hatten sie sich bis dahin vorsichtig umkreist und dann höflich gemieden, um sich jeweils weißen Sexualpartner*innen zuzuwenden, aus Angst, sich mit ihrer Fremdheit anzustecken — oder herauszufinden, dass sie gar nicht so besonders waren, wie sie stets behandelt wurden —, eröffnete sich ihnen nun ein komplett neues Buffet sexueller Möglichkeiten: Bist du homo, hetero, inter- oder intraracial?
Sex mit anderen PoCs bedeutete für Nivedita, das erste Mal ohne ihren unique selling point zu sein. Das erste Mal nackt. Die Sache kulminierte, als sie sich in Anish verliebte, dessen Eltern beide aus Kerala kamen und nicht wie Niveditas aus West-Bengalen und Polen und von überall her. Sie wartete auf den unvermeidlichen Moment, an dem er sagen würde: »Du bist ja gar keine echte Inderin«.
Stattdessen sagte er: »Ich frage mich manchmal, was meine Eltern sehen, wenn sie mich anschauen. Eine Kartoffel?«
Sie lagen in seinem WG-Zimmer auf der Matratze. Durch das offene Fenster wehte der Geruch von Herbstastern herein, und die entsetzte Stimme seines Mitbewohners, der bei ebenfalls offenem Fenster von seinem Beziehungspartner verlassen wurde. Während die beiden sich ad hominems an den Kopf warfen, presste Anish seinen Körper an Niveditas, als wäre sie das einzige, was ihn vor dem Abgrund, der sein Leben war, bewahren konnte.
Es war ein Aphrodisiakum, dass Anish Sex mit ihr als Beweis dafür ansah, dass er war, wer er dachte, dass er war. Aber bin ich, wer ich denke, dass ich bin?, dachte Nivedita.
»You’re a coconut.« Jemand sagte das bei Niveditas erstem Besuch in Birmingham zu ihr, und sie verstand kein Wort. Also, sie verstand jedes Wort, aber sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Sie wusste noch nicht einmal, welches der anderen Kinder es zum ersten Mal ausgesprochen hatte, aber plötzlich sagten es alle: Coconut! Coconut!
Sie war acht und es war Sommer, grell und gelb wie Art Stuff Glitter Lotion, wie Kurkumareis, wie die Duftbleistifte, die sie und ihre dreizehn Monate ältere Cousine Priti anspitzten, bis sie Stummel waren, um ihren synthetischen Duft zu inhalieren. Die Fächer des Spitzspans schwebten in Locken auf das mit Kreide in Himmel und Hölle geteilte Pflaster der Gasse entlang der Hinterhöfe. Auf einem Stapel Paletten, einer Kühltruhe, aus der die Kabel quollen wie Darmschlingen, und einem verbeulten Einkaufswagen saßen und kauerten Kinder, die alle aussahen wie Nivedita.
»Dort sehen die Kinder aus wie du«, hatte ihre Mutter ihr versprochen, während sie die Koffer für den Besuch bei der Tochter von Papas ältester Schwester gepackt hatte. Für diesen Verwandtschaftsgrad gab es eine eigene Bezeichnung, die Nivedita nicht kannte. Sie wusste nur, dass Papas älteste Schwester Didi war. War, nicht hieß. Ihr Name war Purna, und ihre Tochter Leela war … Nivedita konnte noch immer nicht fassen, dass die schöne, hochmütige Frau im flammenfarbenen Sari, die sie am Flughafen abgeholt hatte, ihre Cousine sein sollte, obwohl sie so alt war wie ihre Mutter und selbst eine Tochter etwa in Niveditas Alter hatte: Priti. So viele Namen, so verschlungene Familienbande.
Aunty Leela, die eigentlich cousin Leela war, fuhr ein mini Auto, das wiederum kein Mini war, sondern ein Vauxhall Nova. Sie war Ärztin, aber nicht reich, sondern beim National Health Service angestellt, und wohnte in Birmingham, aber Leela und Priti nannten es Balsall Heath. Oder auch Balti Heath, weil auf ihrer Straße nur indische Familien lebten. Und alle diese Familien hatten Kinder. Es war, als wäre die Welt plötzlich braun geworden.
»Wir fahren nach Hause«, hatte Nivedita in der Schule erzählt. Nicht weil sie Birmingham ernsthaft mit Bombay und erst recht nicht mit Kolkata verwechselt hätte, sondern weil sie auch einmal nach Hause fahren wollte, wie ihre türkischen und polnischen Freundinnen.
Aber auf den Fotos, die ihre Mutter in Birmingham von ihr und Priti und deren kleinem Bruder Aarul machte, sahen sie tatsächlich aus, als wären sie in Indien. Zumindest stellte sich Nivedita Indien so vor, voller Sofas und Wandbehänge, die mit so vielen winzigen runden Spiegelscherben bestickt waren, als wäre der Glitter aus der Bodylotion von großzügigen Händen auf ihnen verteilt worden. Als sie die Bilder das erste Mal auf der Digitalkamera ihrer Mutter betrachtete, spürte sie, wie sich etwas in ihrem Bauch ausdehnte, das sie nicht identifizieren konnte: eine Mischung aus Wärme und etwas Neuem, Unbekanntem, ein nahezu triumphierendes Gefühl von Zugehörigkeit.
Es war, als würde die coconut flüsternde Stimme in der Gasse mit den Paletten und der Kühltruhe dieses Gefühl nehmen und zu einem kleinen, heißen Ball aus Scham zusammenpressen.
»Priti hat mich Kokosnuss genannt«, sagte Nivedita beim Abendessen auf Deutsch. »Was heißt das?«
Ihre Mutter schaute rasch quer über den Esstisch, wo Priti ungerührt ihre Chapatis zerrupfte. In dem blauen Sari, den Leela ihr geschenkt hatte, sah Birgit aus, als hätte die Jungfrau Maria sich versehentlich ins Mahabharata verirrt, und Nivedita bemerkte zum ersten Mal, dass ihre Mutter weiß war. »Nichts, Liebling«, sagte Birgit mit einem hohen, albernen Kichern.
Nivedita dachte eine Weile darüber nach, dann widersprach sie: »Wenn es nichts heißt, würde sie es nicht sagen.«
Wieder das Kichern, das Nivedita spätestens ab der Pubertät zur Weißglut bringen würde, bereit dazu, es ihrer Mutter auszutreiben, koste es, was es wolle. Doch an diesem Ferientag, während sich die Abendsonne sehnsüchtig gegen das Fenster warf, um sich mit dem Safrangelb der Wände zu vereinigen, hatte sich das Lachen ihrer Mutter noch nicht mit Jahren von Konfliktvermeidung und Ausweichen aufgeladen. Es machte Nivedita nur ungeduldig.
»Was heißt Kokosnuss?«, insistierte sie, ihre Stimme nicht lauter, aber durchdringender, und dieses Mal blickte Priti auf.
»Vielleicht, dass Kokosnüsse haarig sind? Und du hast so schöne, lange Haare«, schlugt ihre Mutter nervös vor, und Nivedita war sich sofort ihrer Augenbrauen bewusst, die über der Nasenwurzel zusammenstrebten, als wollten sie die Tatsache unterstreichen, dass sie niemals für die Rolle der Maria/Baby/Elsa in West Side Story/Dirty Dancing/Frozen im Schulmusical ausgewählt werden würde. Das war Mädchen wie ihrer Mitschülerin Lilli vorbehalten, die aussah wie eine jüngere Version von Lotte mit ihren zarten, in steter Überraschung nach oben gewölbten Brauenbogen: Ich? Als Maria/Baby/jede andere weibliche Hauptfigur, die man sich nur denken kann? Wirklich?
Als Nivedita vierzehn Jahre später endlich bei Saraswati studierte, fügte sie ihre Augenbrauen manchmal mit Kajal zu einer Monobraue zusammen, wie Frida Kahlo und #unibrowmovement. Aber später war später, und damals in Aunty Leelas Esszimmer konnte sie sie nur kurz zusammenziehen und Priti finster anstarren, die bösartig zurückblickte. Bösartig, weil Priti mit irgendeiner Rüge ihrer zu freundlichen, zu hektischen, zu laut schlechtes Englisch redenden deutschen Tante rechnete, doch die lächelte nur zu heiter über den Esstisch. Deutsche Frauen waren töricht, beschloss Priti, auch wenn Nivedita das erst später erfuhr. Und leider völlig anders als in Run Lola Run, wo Franka Potente stark und sexy und … potent war. Nur das Gerücht über die deutschen Achselhaare stimmte, sonst nichts, lächerlich.
Nach dem Essen nahm Priti Nivedita zur Seite. »You want to know?«, fragte sie beinahe zärtlich, und von dieser Sekunde bis zu dem Moment, in dem sie die Scherbe in Form eines perfekten Paisley-Fischchens in ihrer Hand hielt, konnte sich Nivedita an nichts erinnern. Nicht wie sie mit Priti das Haus verließ, nicht wie sie zusammen auf die Kühltruhe kletterten, nicht wie die anderen Kinder einen Kreis um sie bildeten. Wann immer sie später versuchte, die Szene zu rekonstruieren, verschwamm das Coconut-Flüstern in einer Sprache, die sie nur halb verstand, mit dem Urteil: Du bist nicht echt, das wie ein Stempel auf Niveditas Leben gedrückt wurde. Wann immer in den folgenden Jahren Menschen enttäuscht waren, dass sie nicht indisch kochen/tempeltanzen/Sitar spielen konnte, hörte Nivedita: Coconut. Das kokosnussigste an ihr war dabei natürlich, dass sie keine einzige der 121 indischen Sprachen sprach (oder der 19.569 indischen Sprachen, je nachdem, welchem Zensus man Glauben schenkte).
Außer Englisch natürlich. Doch Englisch zählte nicht.
Aber auch Hindi zählte nicht, als Niveditas perfekte Mitschülerin Lilli eine Yoga-Ausbildung und mehrere Ashram-Aufenthalte später Hindi perfekt lernte, da niemand jemals Lilli mit ihren hennaroten Haaren und ihrer milchweißen Haut für eine Inderin gehalten hätte. Aber Nivedita eben auch nicht, trotz Haut und Haaren.
Sie war immer davon ausgegangen, dass das an ihrer weißen Mutter lag, die nach Pritis Film-und-Fernseh-Wissen letztlich selbst nur eine minderwertige, unvollständige Version einer typischen deutschen Frau war — bis auf die Haare unter den Achseln, verstand sich —, aber dann brachte Lotte es irgendwann auf den Punkt: »Du gibst dir einfach keine Mühe, indisch zu sein.«
Nivedita war verblüfft über die ungewohnte Weisheit hinter Lottes Worten. Für Leute wie Nivedita war Sein tatsächlich etwas, was man nicht war, sondern tat. In ihrem Fall bedeutete das, das Klischee einer Inderin anzustreben. Doch das Problem mit Klischees war, dass sie sich immer auf die konservativsten Aspekte einer Angelegenheit bezogen, auf eine Sita-Inderinnen-Feminität statt eine Kali-Inder*innen-Queerness. (»Sita, die Ehefrau von Rama, und nicht Sitar, das Musikinstrument«, erklärte Nivedita Lotte. »Rama, die Margarine?«, fragte Lotte. Also versuchte Nivedita, ihr eine Kurzversion des Ramayana zu geben: »Okay, Rama ist ein Gott und Sita ist eine Göttin und wird von Ravana, dem König der Dämonen, entführt. Rama versucht, sie mit Hilfe von Hanuman zu befreien. Hanuman ist auch ein Gott, aber auch noch ein Affe und kann fliegen und Berge um die Welt tragen, so soll ein Gott ja wohl auch sein. Und eben nicht so wie Rama, der Sita erst befreit und sie dann verdächtigt, ihm mit Ravana fremdgegangen zu sein, Victim Blaming deluxe. Und dann verlangt er auch noch von ihr, dass sie durchs Feuer gehen soll, weil sexuelle Abstinenz bekanntlich unentflammbar macht. Und was macht Sita danach, so peinlich? Sie verzeiht diesem Würmchen! Kannst du dir vorstellen, dass Kali jemals so etwas machen würde?« »Berge um die Welt tragen?«, fragte Lotte.)
Lange dachte Nivedita, ihr fehlendes Gefühl von Anrecht auf das Inderinsein läge daran, dass Indien so weit weg war. Irgendwann beschloss sie, dass diese Entfernung mehr mit emotionaler Distanz — sprich: Kolonialismus — zu tun hatte als mit geografischem Abstand. Der erste Junge, in den sie sich verliebte, war wie sie »mixed«, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie sich in ihn verliebte. Doch obwohl er sein Französisch erst am Gymnasium gelernt hatte, war er ein stolzer Franzose. Schließlich war Französischsein etwas, das Menschen sich vorstellen konnten, weil sie es aus all den französischen Filmen kannten, in denen viel geraucht und geredet wurde. Und wir haben schließlich alle schon einmal geraucht oder zumindest geredet.
Nachdem Lotte ihr gesagt hatte, wie richtiges Indischsein funktionierte, fischte sich Nivedita ein weißes T-Shirt aus der Tüte für den Altkleidercontainer und schrieb mit Textilfarbe darauf: This is what an Indian looks like! Nur um looks sofort wieder durchzustreichen und durch feels zu ersetzen. Falls Identitäten etwas sind, was man fühlt. Falls Identitäten überhaupt etwas sind.
Das war das Problem: Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab. Und dann kam Saraswati und erklärte, dass das egal war und dass es kein präkoloniales Leben im Postkolonialismus gab und es stattdessen darauf ankam, Spaß an der Konstruiertheit von Echt und Jenseits-von-Echt zu haben und sich keinen starren Platz in den Ruinen der verschiedenen Empires zuweisen zu lassen. Feiere, als gäbe es kein Gestern!
All das wusste Nivedita noch nicht, als sie auf der Kühltruhe in Balti Heath saß und die Sohlen ihrer Sandalen gegen das weißlackierte Metall klapperten. Der Himmel war einer dieser blauen, blankgescheuerten Himmel. In der Luft lag der Geruch von Benzin und Staub. Die Scherbe war schilfgrün mit gelben Sprenkeln und leicht gebogen, als wäre sie ein echter Fisch, den Nivedita durch das Wasser eines Sees sehen würde, auf dem sich das Sonnenlicht spiegelte. Doch war sie fest und real in ihrer Hand. Fest und scharf an ihrem braunen Arm. Außen braun und innen … »Ich bin von innen nicht weiß, ich bin rot: Look!«
In diesem Moment hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Kinder und, ja, sogar so etwas wie Respekt.
»Und wer ist rot? Indians!« Triumphierend, als wäre es okay, einen Rassismus durch einen anderen zu ersetzen: »I’m an Indian!«
»American Indian«, sagte ein Mädchen mit Dreadlocks verächtlich.
Nivedita wollte widersprechen, doch fehlten ihr die Worte. »Anglo Indian«, fiel ihr schließlich ein, und alle brachen in schallendes Gelächter aus. Der Schnitt begann zu brennen und sie musste dringend pinkeln und noch dringender weinen, als sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürte. Jemand klopfte ihr auf den Rücken. Sie hatte nicht gedacht, dass das Kinder außerhalb von Enid-Blyton-Büchern taten. Aber unbestreitbar klopfte ihr einer der älteren und cooleren Jungen auf den Rücken, seine Hand sicher und warm wie eine Liebkosung: »Good for you, coconut!«
Es war dieselbe Stimme, die das Kokosnussgetuschel angefangen hatte.
»Coconuts aren’t nuts. They’re fruit«, verkündete Priti und sprang von der Kühltruhe. Für Nivedita war das der Sprung, mit dem Priti aufhörte, lediglich ihre Cousine zu sein, um als ihre Cousine plus Freundin auf dem Schotterboden zu landen.
Zumindest war sie das von da an zeitweise, weil Priti Nivedita ihre Zugehörigkeit auch jederzeit wieder entziehen konnte, wenn ihr danach war, also jederzeit. Und dieses Entziehen ging nur in eine Richtung. Denn Priti hatte etwas, das Nivedita fehlte — eine Mutter im Sari, um genau zu sein —, weshalb sich Nivedita immer wie eine Imitation von Priti fühlte, wie die Coverversion eines Klassikers, ein verschnittenes Getränk, während Priti Single Malt war. Niveditas Problem war nicht, dass sie keine klar umrissene Identität hatte. Ihr Problem war, dass sie das Gefühl hatte, Identitäten seien etwas für andere Leute. Und sie hätte kein Anrecht darauf, weil sie zwischen alle Kategorien und durch alle Ritzen fiel. Sogar die meisten Theorien zu Rassismus bezogen sich nicht auf Menschen wie sie, sondern auf … eindeutigere Menschen. Auf Menschen, denen zwar ein Hier verweigert wurde, die aber ein Da in ihren Herzen trugen, eine Herkunft, zumindest eine Herkunft der Eltern — und nicht diesen unübersichtlichen Mischmasch aus Herkünften und Verbundenheiten, der kein Muster ergab, keine Struktur, nur ein Chaos an Kokons, ein Gewirr von Geschichten, die sie kaum kannte und die keinen Sinn ergaben.
Nivedita hatte sich nie irgendwo repräsentiert gefühlt, bis Saraswati in jenes erste Seminar hereingerauscht kam. In diesem Sinn war Saraswati mehr ihre Familie als ihre echte Familie mit ihrer überempathisch leidenden Mutter und ihrem schweigenden Vater, der seine Geschichten niemandem erzählen konnte, nicht einmal sich selbst, aber vor allem nicht seiner antirassistischen Tochter, deren Wut auf das System nur von ihrer Wut auf ihn — weil er nicht wütend genug war — übertroffen wurde. Nivedita brauchte Saraswati, um herausfinden zu können, wer sie war.
Und nachdem Priti ihre Bombe platzen gelassen hatte, wusste Nivedita jetzt nicht mehr, wer Saraswati war.