Dies ist ein Roman. Die Figuren in ihm sind fiktiv, aber manche sind fiktiver und manche realer als andere. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind keineswegs rein zufällig.
Ebenso wenig wie der Umstand, dass die Fragen des Romans auch in der — in Ermanglung eines besseren Wortes — realen Welt fortwährend erregt diskutiert werden. Das Konzept race, für das die deutsche Sprache nur die falsche Übersetzung Rasse anbietet, ist eine Fiktion, die nach wie vor massiven Einfluss auf unser ganz konkretes Leben hat: wie wir andere wahrnehmen; wie wir wahrgenommen werden; und nicht zuletzt, wie wir uns selbst wahrnehmen.
Denn das Phantasma race ist nicht nur »da draußen«, sondern »hier drinnen«: Es steckt in unseren Köpfen und Körpern und Seelen, ist so vehement Teil unseres gemeinsamen gesellschaftlichen Selbstverständnisses und staatlichen Handelns, dass genau das dringend nottut, was Saraswati Decolonizing nennen würde.
Von all dem und noch viel mehr erzählt dieser Roman.
Das Ringen um Selbstbestimmung und Sichtbarkeit wird in den letzten Jahren oft Identitätspolitik genannt und mit aller Wucht und in größtmöglicher Vielfalt der Meinungen geführt. Identitti sollte die extreme Vielstimmigkeit dieses Prozesses widerspiegeln. Darum verdankt der Roman seine Existenz zuallererst den großzügigen Spender*innen, die bereit waren, für mich einen oder sogar mehrere Tweets oder Instagram- oder Facebook-Einträge zu verfassen; so wie sie sie womöglich spontan getextet hätten, wenn sie eines Tages oder Nachts im Internet von einem »Fall Saraswati« gelesen hätten. Tausendundein Dank dafür an René Aguigah, Magda Albrecht, Carolin Amlinger, Fatma Aydemir, Simone Dede Ayivi, Patrick Bahners, Christian Baron, Felix Dachsel, Felicia Ewert, Berit Glanz, Kübra Gümüşay, Meredith Haaf, Sarah Fartuun Heinze, Arne Hoffmann, Fatima Kahn, Ijoma Mangold, Jacinta Nandi, Madita Oeming, Ruprecht Polenz, Aidan Riebensahm, Jörg Scheller, Sibel Schick, Antje Schrupp, Hilal Sezgin, Nadia Shehadeh, Ralf Sotscheck, Regula Stämpfli, Ralph Tharayil, Minh Thu Tran, Lars Weisbrod und Hengameh Yaghoobifarah.
Ebensolcher Dank gebührt Steffi Lohaus, Enrico Ippolito und Peter Weissenburger, die im Roman Cameo-Auftritte als sie selbst haben und Nivedita um Artikel zu #Saraswatigate für ZEIT online, Spiegel online und die taz anfragen. Verena, die Nivedita für den Deutschlandfunk interviewt, ist meine echte Kollegin Verena von Keitz — ebenso wie Mona ihr echter Hund Mona ist und schon häufig hinter uns im Studio lag. Allerdings würde die reale Verena niemals Zitate aus dem Kontext reißen und sie dann einfach senden. Den Artikel über Saraswati für ze.tt wiederum hat Şeyda Kurt für diesen Roman geschrieben; genauso wie Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela sowie Paula-Irene Villa Braslavsky ihre Reaktionen auf den »Fall Saraswati« extra für Identitti formulierten.
Ich kann Euch allen gar nicht genug sagen, wie wertvoll Eure Kollaboration für mich war und ist — und noch wertvoller ist, dass Ihr die in diesem Roman thematisierten Auseinandersetzungen allesamt schon lange online und offline führt und so oft bereichert und weiterbringt. Vielen Dank dafür auch an Andrea Auner, Leila Essa und Nina Anuschewski, deren Gedanken zum Leben mit sichtbarem und unsichtbarem Migrationshintergrund direkt und indirekt in dieses Buch eingeflossen sind.
Barbara basiert auf meiner ehemaligen Mitbewohnerin und noch immer tollsten Nachbarin Sandra Röseler a. k. a Randy Texas. The Brown Girl ist ein echter Folksong, der trotz seines expliziten Titels nahezu nie als Lied über ein Mädchen aus den Kolonien gelesen wird. Die britische Sängerin Georgia Lewis hat nicht nur eine großartige Version davon aufgenommen, sondern mich auch über die Geschichte des Songs aufgeklärt. Nicht sichtbar, aber dafür hörbar ist Matti Rouse, dessen Song The Stories of All and Every läuft, während Nivedita und Saraswati auf ihrer Terrasse über den Dächern Oberbilks sitzen — und ganz im Hintergrund habe sogar ich einen Cameo-Auftritt, weil ich die Backingvocals dazu singe.
Auch Saraswati entstand natürlich nicht aus dem Nichts, sondern hat zahlreiche Vorbilder, allen voran Gayatri Chakravorty Spivak, die Übermutter der Postkolonialen Theorie, ihre Aufforderung »(to) unlearn one’s privileges as one’s loss« ist das Motto von Saraswatis Leben; Audre Lorde, die bei ihrer Gastprofessur an der FU Berlin in den achtziger Jahren schon einmal alle weißen Studierenden aus ihrem Seminar hinausschickte; bell hooks, wie Saraswati nicht in Worte fassbar, deshalb beschränke ich mich auf: Love Politics und Philosophy of Place; und Priyamvada Gopal — ich wünschte so sehr, ich hätte bei ihr in Cambridge studiert.
Und dann ist da natürlich noch Rachel Dolezal, jene US-amerikanische Präsidentin eines lokalen Zweiges der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die 2015 von der Presse als Weiße geoutet wurde. Sie selbst, das Entsetzen der Öffentlichkeit und die heftigen Diskussionen rund um ihre Identität ließen mich mit unzähligen Fragen zurück und waren der Anstoß dafür, über ein sogenanntes umgekehrtes Passing zu schreiben. Nur eben in Deutschland, und dass Saraswati nicht wie Dolezal als Schwarze lebt, sondern als PoC.
Viele der Reaktionen auf Saraswati basieren auf tatsächlichen Zitaten zu Rachel Dolezal, die ich als Tweets in die Handlung eingeflochten habe, wie Kommentare der Politikwissenschaftlerin Melissa Harris-Perry, des Gender- und Sexualwissenschaftlers Kai M. Green, des New-York-Times-Kritikers Wesley Morris, der Schwarzen Feministin und Autorin von Büchern wie Pleasure Activism. The Politics of Feeling Good Adrienne Maree Brown, der Literaturwissenschaftler*in und Talkshowhost Ronnie Gladden, des Wissenschaftsphilosophen Justin E. H. Smith — und am liebsten hätte ich gleich das ganze großartige Buch trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities von Rogers Brubaker zitiert.
Alle Orte im Roman sind real; ebenso alle Bücher bis auf die von Saraswati verfassten und alle Personen des öffentlichen Lebens. Der Tweet von JK Rowling ist inspiriert von einem echten Tweet von Rowling, der einen Shitstorm auslöste. Die Tweets und Zitate von Donald Trump und Narendra Modi, die zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dieses Nachwort schreibe, die Präsidenten der USA und Indiens sind, basieren nahezu wörtlich auf berühmten Zitaten der beiden. Jordan Peterson, der mit Saraswati auf dem Hay Festival debattiert, ist ein echter polarisierender Intellektueller. Ebenso verhält es sich mit Saraswatis Diskussionspartner*innen bei ihrem zweiten Auftritt auf dem Hay Festival, Kwame Anthony Appiah, dessen großartiges Buch Identitäten Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten sein sollte, und Shappi Khorsandi, die übrigens auch einen wunderbaren Roman geschrieben hat: Nina is not okay. Alle Aussagen Petersons, Appiahs und Khorsandis sind Aussagen, die sie tatsächlich in dieser Form gemacht haben, nur natürlich in anderen Kontexten wie Interviews, Büchern oder auf Comedybühnen. Doch nichts ist verfälscht. Dies ist, was und wie sie zu diesen Themen denken oder dachten. Wirklich!
Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit. Und manchmal sind sie Kämpfe mit ganz realen Opfern. Deshalb basiert der rechte Terroranschlag in Hanau auf dem leider nur zu realen rechten Terroranschlag in Hanau vom 19. Februar 2020, bei dem ein weißer Täter aus rassistischen Motiven neun Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund erschoss, bevor er seine Mutter ermordete und sich selbst tötete.
Die Morde von Hanau wurden während meiner Arbeit an diesem Roman verübt, und in meinem Entsetzen und meiner Angst und meiner Wut und meiner Trauer war mir schon bald klar, dass meine Fiktion mit einem solchen Angriff enden musste. Denn das Kontinuum derartiger Attacken wie in Hanau überall auf der Welt ist den meisten BIPoCs nur zu bewusst, wie ein Backingtrack zum sonstigen Leben, nicht immer hörbar, aber immer da — ich habe keine Angst, auf die Straße zu gehen, natürlich habe ich das nicht, aber wenn ich nachts alleine an einem Mann vorbeigehe, dann ist mein erster Gedanke: Ist das ein Nazi? Und nicht: Ist das ein Vergewaltiger? Oder gar: Das ist nur irgendjemand, wir leben in einer sicheren und solidarischen Gesellschaft. Dabei sollten wir alle genau das denken — können.
Der Alltag in Deutschland besteht nicht aus schrecklichen Gewaltverbrechen, aber derartige schreckliche Verbrechen sind Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, und deshalb ist das Schweigen darüber in der deutschsprachigen Literatur eine nicht akzeptable Leerstelle. Also entschied ich nach langen Gesprächen mit zahlreichen Menschen über die vielfältigen Fragen von Pietät und Appropriation, den realen Anschlag von Hanau in dieses Buch aufzunehmen, auch wenn ich ihn in meiner fiktiven Realität in den Hochsommer verlegt habe, weil Nivedita, Saraswati, Raji und Priti ihre Auseinandersetzungen unter dem Druck der Hitze führen und ihre Hirne und Seelen irgendwann überkochen müssen.
Doch natürlich ist der Anschlag nicht das endgültige Ende des Romans, geht dieser danach — unglaublich, aber wahr — weiter, so wie das Leben immer weitergeht. Weil Identitti auch davon erzählt, wessen wir gedenken, woran wir uns erinnern und wer wir dadurch sein wollen, war es mir ein Anliegen, den Opfern — in einer sehr, sehr kleinen Form — ein Denkmal zu setzen. Es gibt Deutschland nicht ohne uns, deshalb müssen unsere Toten auch in der deutschsprachigen Literatur betrauert werden. An dieser Stelle machte mich mein Lektor Florian Kessler, dessen kluger und einfühlsamer Arbeit an diesem Buch der größte Dank gebührt, darauf aufmerksam, dass sich das so anhören kann, als würde ich in diesen letzten Sätzen doch noch ein essentialistisches Wir entwerfen — wir PoCs —, das ich im Roman an so vielen Stellen dekonstruiere. Deshalb noch einmal anders: Es geht nicht darum, dass wir die Toten von Hanau und alle anderen Opfer von Rassismus und anderer Diskriminierung betrauern sollen, weil sie außergewöhnlich sind — das ist zwar die Art ihres Todes —, sondern weil sie gewöhnlich sind: Sie waren und sind normale Bürger*innen dieses Landes, so wie Lotte und Nivedita und Barbara und Priti und Oluchi. Wir alle sind diese Gesellschaft. Es gibt unser aller Zusammenleben nicht ohne uns alle, deshalb müssen wir alle immer weiter vielstimmig und empathisch sprechen, streiten, uns versöhnen — und feiern!
I love you all so much.