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Er würde ihm die mitgebrachten Plätzchen in die Hand drücken, ein paar Worte über die alten Zeiten verlieren und ihm dann mit aufgesetzter Mündung in den Kopf schießen. Er wusste, wie er den Rückstoß aufzufangen hatte.
Die Übersichtlichkeit seines Planes erfüllte Stefan Krohn mit Zuversicht. Er nahm den Durchgang zu den Eingängen im Hinterhof und wandte sich unauffällig ab, als eine tätowierte Frau einen Kinderwagen an ihm vorbeischob.
Die Augusthitze hing einer Käseglocke gleich über der Hansestadt, sodass seine Sonnenbrille trotz der Abenddämmerung nicht weiter auffiel. Mit etwas mehr Vorlauf hätte er sich zur Tarnung noch einen Vollbart wachsen lassen. Aber der Anruf hatte ihn erst gestern Abend erreicht.
Er blieb vor der Haustür des viergeschossigen Gebäudes im Hinterhof stehen, in dem ein paar Jungs mit einem Plastikball bolzten und von einer Zukunft träumten, die für sie unerreichbar bleiben würde.
Die Fahrstuhlkabine, die er betrat, roch zu seiner Überraschung nach Citrus. Und nach Urin. Er drückte die drei, und die Tür schloss mit einem widerwilligen Scheppern. Bis zum dritten Stock betrachtete er die mit Graffiti übersäten Wände und dachte, dass all ihre nutzlosen Urheber ausgepeitscht gehörten. In der Ecke lag eine halbe Zitrone.
Der Weg aus dem Fahrstuhl zur Wohnung führte über einen Außengang, der Kinder vor dem Absturz aus zehn Metern schützte und ihm einen Blick über Rostock und die Unterwarnow gewährte. Die Medien sprachen von einem Jahrhundertsommer .
Krohn passierte die Wohnungen in einer Geschwindigkeit, die ihm das Lesen der Namensschilder erlaubte. Die vierte Tür war es. Genau so, wie man es ihm beschrieben hatte. A. Beck hatte jemand mit grünem Kugelschreiber auf das mit Tesafilm am Schild fixierte Papier gekritzelt.
Er hob den Finger zur Klingel. Ein Blick hinab auf die feinen Holzsplitter am Boden ließ ihn innehalten. Seine Augen wanderten zum Schloss – denn von dort stammten die Splitter. Und die Tür war bei genauem Hinsehen auch nicht verschlossen. Sondern angelehnt.
Jemand hatte sie aufgebrochen.
Krohn spannte sich unwillkürlich. Vielleicht befand sich noch jemand in der Wohnung, den er nicht eingeplant hatte. Er ließ die Tür mit einem sanften Druck des Ellbogens aufschwingen. Vor ihm eröffnete sich der Flur, von dem die wenigen Zimmer zu beiden Seiten abgingen. Der Gang selbst war bis auf einen hölzernen Schemel leer. Aus einem der Räume hörte er Äischa, den Sommerhit, den die Radiostationen hoch und runter spielten.
Krohn trat leise ein und drückte die Tür mit der Hacke zurück in die Zarge, in die sie nicht mehr einrastete, in die sie sich aber schmiegte. Er hob den Schemel lautlos an und platzierte ihn so, dass die Wohnungstür nicht zufällig aufschwingen konnte und nach außen geschlossen wirkte. Dann stand er reglos im Flur und lauschte.
Nur das Lied.
Stefan Krohn nahm die Beretta aus dem Schulterholster und zog den Schalldämpfer aus der Jacketttasche, den er routiniert auf die Mündung schraubte. Dann entsicherte er die Pistole und zog so leise wie möglich den Schlitten durch, der die erste Kugel in den Lauf lupfte.
Mit geschärften Sinnen schlich er vorwärts und setzte die Füße bewusst behutsam auf dem Linoleum auf. Die Wände des Gangs waren kahl. Nur Lichtschalter, denen ungewaschene Finger über die Jahre einen Trauerflor auf der umliegenden Tapete verpasst hatten. Eine der beiden Glühbirnen im Flur trug keinen Lampenschirm, sondern baumelte nackt an einer Affenschaukel .
Nichts hält länger als ein Provisorium.
Der erste Raum rechts war die Küche, in der sich benutztes Geschirr mit einer Pizzaschachtel den Platz neben der Spüle teilte. Das Fenster hatte keinen Vorhang, man blickte hinüber auf die spärlich bepflanzten Balkone der anderen Plattenbauwohnungen.
Alle Schubladen waren geöffnet worden. Einige lagen neben ihrem ausgekippten Inhalt auf dem Boden, andere standen weit aus den Küchenschränken heraus.
Was war passiert? Ein gewöhnlicher Einbruch? Oder ein Junkie, der seinen nächsten Trip über die Wolken finanzieren musste?
Instinktiv saugte Krohn die Luft über die Nase ein. Ein satter Geruch von Eisen hing in der Wohnung.
Links ging das Bad ab, in das er einen kurzen Blick warf. Toilette, Waschbecken, Badewanne, ein gelber Duschvorhang, der an Plastikringen an einer Deckenschiene hing. Und dort, an der Decke über der Wanne, war ein schwerer Haken eingelassen, dessen Sinn sich Krohn nicht erschloss.
Beck hatte Schulden, das wusste er. War es einem Gläubiger zu bunt geworden, und hatte der das Recht in die eigene Hand genommen?
Der Blick in den nächsten Raum beantwortete ein paar Fragen und ließ Krohn die Beretta anheben. Schussbereit.
Alexander Beck lag rücklings am Boden, alle viere von sich gestreckt, als sei er einfach umgefallen. Die Augen standen weit offen, der Blick war gebrochen. Sein Mörder hatte ihm die Kehle durchtrennt. Die Blutlache unter seinem Oberkörper war geronnen und ging ins Schwarze über.
Krohn schob den Sturm der Fragen, den dieser Anblick in seinem Kopf auslöste, mit einer Willensanstrengung beiseite – denn vielleicht war Becks Mörder noch hier. Er hob die Pistole und legte den Finger auf den Abzugsbügel. Auf diese Weise drang er vorsichtig in die beiden verbliebenen Räume ein, das Schlafzimmer und eine Rumpelkammer, die ihrem Namen alle Ehre machte. Krohn war unentschieden, ob er erleichtert sein sollte, dem Täter nicht zu begegnen, oder verärgert .
Die Verärgerung überwog.
Beide Zimmer waren ebenso wie alle anderen akribisch durchsucht worden.
Gab es so viel Zufall?
Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Etwas von der Anspannung, die ihn seit Betreten der Wohnung begleitet hatte, fiel von ihm ab. Krohn trennte Schalldämpfer und Pistole wieder voneinander und verstaute beides. Er hob die Schiebermütze von seinem Kopf mit den kurz geschorenen grauen Haaren und wischte sich mit dem Ärmel den Schweißfilm von der Stirn.
Er wusste, was zu tun war. Zuerst streifte er sich Einweghandschuhe über.
Es war, als wäre er lange nicht mehr Fahrrad gefahren oder mit jemandem intim gewesen. Doch seine Unbeholfenheit bei der Durchsuchung der Leiche und der Wohnung nahm von Minute zu Minute ab, bis er wieder ganz in seinem Element war. Wie ein guter alter V8-Motor, der bei Eiseskälte gemächlich warm lief. Dumpf und verlässlich.
Krohn überprüfte nicht nur das, was Becks Mörder bereits getan hatte. Er checkte auch die Schicht zwischen den aufgehängten Bildern und ihren Rahmen, den Wasserkasten der Toilette und natürlich die Wände. Krohn klopfte sie dezent, aber akribisch nach Hohlräumen ab, er öffnete den Röhrenfernseher und schaute unter jede Schuheinlage und hinter jedes Buch im Regal – es waren sieben. Nicht Regale, sondern Bücher.
Jederzeit hätte jemand klingeln können, die Nachbarn, der Schornsteinfeger oder jemand vom Sozialamt. Dann hätte er improvisieren müssen. Natürlich, auch dazu hatte er Kurse durchlaufen, aber die Improvisation war immer ein Ritt ins Ungewisse.
Unter den Filtern der Dunstabzugshaube wurde er ebenso wenig fündig wie hinter den Fußleisten, die er allesamt abschraubte und dann wieder fixierte. Was er suchte, fand er in der ganzen Wohnung nicht .
Immerhin stieß er in der Küche auf das Offensichtliche – Beck hatte Fotos, Eintrittskarten, Flyer und eine stark abgegriffene Speisekarte einer örtlichen Pizzeria an eine Pinnwand geheftet. Ein Foto in Schwarz-Weiß zeigte eine Mannschaft junger Männer in Trainingsanzügen. Es wies grobes Korn auf, ein Analogfoto, das viele Jahre in sich trug. So wie das andere. Es zeigte Beck in jungen Jahren neben einem älteren Mann an einem See. Es war in Farbe. Beide lächelten in die Kamera. Daneben eine Postkarte, die drei Motive zeigte: eine verwitterte Kirche, einen See und die Luftbildaufnahme eines Ortes. Darunter stand Grüße aus Marnow.
Stefan Krohn nahm die beiden Fotos und die Postkarte von der Pinnwand. Auf ihren Rückseiten fanden sich keinerlei Vermerke. Er steckte sie alle drei ein.
Ziemlich genau anderthalb Stunden nach dem Betreten der Wohnung nahm er auf einem Ledersofa Platz, dessen Farbe die Sonne im Lauf der Jahre gründlich abgeschossen hatte.
Die war mittlerweile untergegangen, und Krohn hütete sich, das Licht in einem Raum einzuschalten, dessen Fenster man von außen sehen konnte. Denn spätestens ab morgen früh würden hier die Zeugenbefragungen beginnen.
Im Radio wurde von den 25 Millionen Dollar berichtet, die die USA auf die Ergreifung von Saddam Hussein ausgesetzt hatten. Auf dem Tisch stand eine halb volle Flasche Ouzo samt geleertem Glas. Stefan Krohn goss das Glas randvoll und kippte den Anisschnaps herunter, bevor er auf seinem Nokia-Handy die Kurzwahltaste #1 tippte und das Schnapsglas in seine Tasche gleiten ließ.
»Ja?«
»Er war schon tot. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Der Mann am anderen Ende benötigte keine zwei Augenblicke, um sich zu sammeln.
»Ist Polizei vor Ort?«
»Nein, ich sitze in seiner Wohnung. Die Leiche liegt zu meinen Füßen. «
»Hast du die Liste?«
»Nein. Und sie ist auch nicht in Becks Wohnung.«
»Ist das absolut sicher?«
»Ja.«
Ein langes Ausatmen. Der Mann in der Leitung war früher sein Chef gewesen. Als alles noch einer überschaubaren Ordnung gehorcht hatte. Seit fast 15 Jahren war er es nicht mehr. Aber seinen Anweisungen folgte Krohn nach wie vor. Aus Überzeugung, aus Loyalität und dem Wunsch, einem Leben im Gefängnis zu entgehen.
»Die Liste muss da sein.«
»Sie ist definitiv nicht hier«, widersprach Krohn, »ich habe jeden Quadratzentimeter gesehen.«
Stille.
Der Mann in der Leitung überlegte.
»Dann hat sie jetzt sein Mörder.«
»Ja.«
»Gibt es Hinweise auf Marnow?«
»Ja, aber ich habe sie an mich genommen. Was soll ich tun?«
»Folgendes …«, sagte der Mann, dessen Stimme überlegt klang.