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Die Küche der Ellings war ein gemütlicher Raum mit einer Anrichte über Eck und mit einem Esstisch samt Sitzbank. Beengt. Vielleicht rührte daher der Eindruck der Gemütlichkeit. Über eine Tür erreichte man die Terrasse – und den zukünftigen Pool.
Elling war gerade im Begriff, sich die dunkelbraune, schmale Krawatte zu binden, als seine Tochter Mareike ihm einen Becher Kaffee vor die Nase hielt.
Die Jungs drehten sich nicht allzu häufig nach ihr um, das hieß: noch nicht. Aber sicherlich bald. Mit 61 Kilo auf 1,64 Meter Körpergröße hatte Mareike noch ein klein wenig zu viel Babyspeck an Bord. Aber Elling war voller Zuversicht, dass sich das noch rauswachsen würde.
Die Züge ihres Gesichts waren fein, die Augen wach. Mareike würde bald die Erste im weitverzweigten Netz der Ellings sein, die zur Uni gehen würde. Mareike dort zu wissen, machte ihn stolz. Gleichzeitig ahnte er die Reaktion der Familie.
»Für die anstehende Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Rostock liefern sich SPD -Urgestein Nina Klamm und der parteilose Philipp Benedikt ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen«, berichtete der Radiomoderator.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Papa«, flötete Mareike und stellte ihm den Becher neben der Post auf dem Tisch ab.
»Hast du gut geschlafen?«
»Prima. Nur der Morgen hatte Luft nach oben.«
»Möchtest du ein Ei?«
»Bitte. «
Die Zuvorkommenheit seiner Tochter machte ihn wachsam. Auch wenn sie aus dem Gröbsten raus war. Er konnte ihr in der Öffentlichkeit einen Kuss auf die Wange geben, ohne dass sie ihn mit einer Woche Nichtbeachtung abstrafte. Ja, tatsächlich war es seit etwa zwei Jahren wieder möglich, ein vernünftiges Wort mit ihr zu wechseln.
Die Post bestand aus dem Rostocker Tageblatt, für das Susanne arbeitete, außerdem drei Kuverts. Eines davon stammte von seiner Hausbank. Als Mareike sich zur Anrichte umdrehte, um das Ei anzustechen, faltete Elling das Schreiben der Bank in der Mitte und schob es schnell in die Brusttasche seines Hemds.
Gerade rechtzeitig, denn Mareike wandte sich unvermittelt um und reichte ihm mit einem Lächeln einen Teller mit zwei warmen Toastscheiben.
»Einmal warme Toasts«, kommentierte sie.
Elling nahm es mit einem gelassenen Lächeln: »Wofür brauchst du das Geld?«
Mareike blinzelte nervös vor Überraschung.
»Aber … wie …«
»Ich beobachte seit 18 Jahren jeden deiner Schritte, Mareike, ich bin nämlich dein Vater. Blöderweise bin ich auch noch Kriminalkommissar – also: wofür?«
Frank Elling registrierte, wie seine Tochter die Optionen auf eine Ausflucht strich und sich straffte – ein gutes körpersprachliches Signal für jemanden, der mit der Wahrheit rausrücken wollte.
»Du kennst doch Mette. Mette Vogt. Sie war schon ein paar Mal hier und …«
»Können wir den Mittelteil weglassen?«
Mareike öffnete den Mund für eine Antwort, als der Moldau-Walzer ertönte – aus Susannes Handy. Es lag zum Aufladen direkt neben Ellings Platz – was ihm den Blick aufs Display erleichterte: 0170 / 7 007 007.
Eine Nummer, die er nicht kannte. Aber ihn an James Bond erinnerte .
»Mette hat jetzt auch ihr Abi. Und die hat von ihren Eltern so ’nen kleinen italienischen Flitzer bekommen. Jahreswagen.«
»Vogts sind Ärzte, Mareike«, sagte ihr Vater, »die spielen in ’ner anderen Liga als wir.«
»Ihre Schwestern bekommen auch einen.«
»Da kannst du mal sehen, wie steinreich Ärzte sind – im Ernst, Mareike: Das ist nicht drin.«
Übung darin, seinem Kind etwas abzuschlagen, machte es einem nicht leichter, wie Elling feststellte.
Mareike schluckte schwer und senkte den Blick, sie atmete tief durch.
»Es geht nicht.«
Sie hob den Blick wieder und verbarg ihre Enttäuschung ziemlich überzeugend: »Wenn’s nicht geht, geht’s nicht.«
»Hab ich was verpasst?«, fragte Susanne, die jetzt die Küche betrat und mit ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange tauschte. Routiniert, aber nicht oberflächlich.
»Nein«, antworteten Mareike und Elling gleichzeitig und grinsten sich kurz zu wie zwei Verschworene.
Wieder ertönte die Moldau. Unwillkürlich schaute Frank Elling erneut aufs Display. Dieselbe Nummer. Diejenige, die Susanne wegdrückte und dann seinen fragenden Blick auffing: »Ist unser Praktikant.«
»Du hast einen Praktikanten?«
»Ja. Lehmann. So’n Lütter«, sagte sie und hielt die flache Hand knapp unter ihren Hals, »will mal ein großer Journalist werden. Süß.« Susanne lächelte verständnisvoll und voller Rücksicht für die Flausen des journalistischen Nachwuchses: »Er begleitet mich heute zum Wahlkampf.«
Der Wahlkampf. Ihr großes Thema, seit Wochen begleitete sie den Herausforderer redaktionell.
»Witzig. Wir haben keine Praktikanten.«
»Da denk mal drüber nach.«
Ihr Blick ging an ihm vorbei, hinaus über die Terrassentür in den Garten. Und zum Pool .
Der Anblick versetzte Susanne Elling einen Stich. Sie wusste, woher dieser Stich kam, warum er kam und weswegen er einen Schmerz in ihr hervorrief. Einer Fügung folgend verließ Mareike die Küche, sie waren unter sich.
»Elling, der Pool …«
»Ja?«
»Ist … er ist … wie soll ich das sagen …«
»Suse?«
»Ja?«
Er hatte sich vorgebeugt, sein Gewinnerlächeln stand ihm im Gesicht. »Wer das Leben festhalten will, muss es feiern.«
Sie streckte die Waffen – und in ihrem Lächeln lag eine Spur Verzweiflung. Bevor sie etwas erwidern konnte, klingelte sein Handy.
»Elling?«
Es war ein Anruf aus dem Kommissariat.
»Rainer hier, guten Morgen.«
Sein Abteilungsleiter Rainer Mertens bei der Rostocker Kripo.
»Morgen, Rainer.«
»Du musst gar nicht erst ins Büro kommen. Wir haben einen Leichenfund in Toitenwinkel. Die Staatsanwaltschaft hat schon Dr. Pramann rübergeschickt und die KTU . Ich sage noch Frau Mendt Bescheid.«
Mertens gab ihm noch die Straße durch und die Hausnummer, bevor er das Gespräch beendete. Ellings Vorgesetzter war letzten Monat sechzig geworden. Was andere in Sinnkrisen stürzte, löste bei ihm Begeisterung aus – nur noch fünf Jahre!
Elling glaubte im Gegensatz zu Mertens nicht an jenes sorgenlose Paradies am Ende des Berufslebens.
Die Mertens’ sparten an allem. Beim Essen (nur Angebote beim Discounter), beim Reisen (nur alle drei Jahre und dann an die Müritz – mit dem Fahrrad), beim Leben an sich. Bei der Weihnachtsfeier hatte er Frau Mertens vor ein paar Jahren mal die Hand geschüttelt. Sie hatte nicht so ausgesehen, als habe sie viel gelacht in ihrem Leben. Um ihren Mund hatte sich ein bitterer Zug eingenistet.
So weit wollte Elling es in seiner Ehe nicht kommen lassen. Er streifte sich das hellbraune Jackett über, an dem Susanne missfiel, dass es an den Ellenbogen bereits abgescheuert wirkte. Genau wie die Spitzen seiner ausgetretenen Lieblingsschuhe. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund, bevor er das Haus verließ.
Nach einigen Metern drehte er sich um und begutachtete ihr Zuhause. Gut, es war übersichtlich. Aber wenn Mareike früher oder später auszog, was sollten sie dann mit mehr Platz? Etwas in die Jahre gekommen war es auch. Er verdächtigte seine Frau manchmal, sie schäme sich deswegen, was sie mit einer Vehemenz von sich wies, die seinen Verdacht erhärtete. Ja, es hatte etwas Patina und schien sich angesichts der modernen Neubauten im Ringelrankenweg gegenüber ein wenig zu ducken, aber es gehörte ihnen. Fast. Bis auf das, was noch abzuzahlen war.
Bevor er in seinen altersschwachen schwarzen Volvo V90 steigen konnte, trat Wildhagen an ihn heran.
»Die Gegenstromanlage, Herr Elling, wenn ich die bestelle, müssen wir Vorkasse zahlen, und da wollte ich fragen, ob Sie da mit ’ner Anzahlung behilflich sein könnten.«
»Na klar. Wie viel brauchen Sie denn?«
»So ein Drittel, das wären über ’n Daumen 1000 Euro.«
Frank Elling überspielte seinen Schluckreflex mit einem Husten. Tausend Euro. Das waren immerhin 2000 Mark – seit der Einführung der neuen Währung vor anderthalb Jahren rechnete er im Geist immer noch um. Elling bemühte sich allerdings, seine Umrechnung in D-Mark nicht in Worte zu fassen – Susanne empfand das als engstirnig.
»Kein Problem, kriegen Sie. Ich muss nur zur Bank.«
Wildhagen nickte verständnisvoll.
Da kam auch Susanne aus dem Haus und schwang sich aufs Rad – die Redaktion des Rostocker Tageblatts lag keine zwei Kilometer vom Ringelrankenweg entfernt am Alten Markt .
Elling nahm mit seinem Volvo, dem die Radkästen zu rosten begannen, die Autobahn A 19, die Rostock nach Osten umging, und fuhr in Rostock-Nord ab. Von der Autobahn waren die Plattenbauten in Toitenwinkel schon zu sehen. Kein Supermarkt hatte sich dorthin verirrt, keine Bar, kein Restaurant. Ein Relikt der DDR , um das das Leben beharrlich einen Bogen schlug.
An der ersten Ampel links musste er stoppen. Das Thermometer war um acht am Morgen bereits auf 19 Grad gestiegen. Er schaute zur Seite – und es war Liebe auf den ersten Blick.
Ein VW Polo. Silber. Schick. Acht Jahre alt – nur 4999 Euro. Auf einem kargen Platz für Gebrauchtwagen. Unterlegt mit verdichtetem Schotter, umgeben mit einem mannshohen Maschendrahtzaun.
Elling verzog sein Gesicht zu einer Grimasse bei dem Gedanken daran, was sein Kundenberater bei der Bank zu diesem Einfall sagen würde. Hätte seine Tochter vorhin rebelliert, ihn beschimpft oder beleidigt die Tür geknallt, er wäre nicht weich geworden. Das heißt: vermutlich nicht. Zumindest für einen Tag nicht.
Aber wie sie sich gefügt hatte, das hatte ihm das Herz gebrochen. Er wählte Susannes Nummer in der Redaktion, weil sie das Handy tagsüber abstellte, wenn sie sich auf einer Reportage befand.
»Stiller, Rostocker Tageblatt?«
»Frau Stiller, Elling hier. Ich wollte kurz meine Frau sprechen – sie ist nicht da?«
»Äh, nein.«
»Und ihr Praktikant? Lemmel … Lamann?«
»Lehmann?«
»Den mein’ ich. Vielleicht erreich ich sie über den? Wenn der ein Handy hat?«
»Hat er. Aber der ist krank.«
»Oh.«
»Ja, schon seit einer Woche.«
Frank Elling schluckte .
Er war krank. Er hatte von zu Hause aus angerufen. Aus dem Bett. Und Susanne hatte vergessen zu erwähnen, dass ihr Praktikant gar nicht in der Redaktion erscheinen konnte.
Hinter ihm hupte es mehrfach. Elling blickte auf – die Ampel war auf Grün umgesprungen.