Sie sahen sich intensiv in der Wohnung um, während die Kollegen vom Bereitschaftsdienst bereits die Nachbarn befragten.
Was für Bücher hatte der Mann gelesen?
Wenige. Er besaß nur sieben.
Was für DVD
s hatte er?
Keine, sondern noch VHS
-Kassetten, auf denen sich vornehmlich Western und Dokumentationen über die DDR
befanden.
Wie hatte er sich ernährt?
Überwiegend durch Fertiggerichte und Cola.
Hatte er Pflanzen auf dem Balkon?
Hatte er. Und Lona musste unwillkürlich lächeln, als sie sah, wie Elling sie mit einer kleinen Kanne Wasser gegen die zum Mittag stark ansteigende Hitze wappnete. So, wie Beck es auch getan haben musste, sonst wären sie verdorrt gewesen. Von hier draußen hatte man einen weiten Blick über die Plattenbauten, die anderen Balkone, den Spielplatz der Kinder unten und eine Armee aus Satellitenschüsseln, die alle in die gleiche Richtung deuteten, als lauschten sie gemeinschaftlich auf das Signal einer fremden Intelligenz.
Ja, ganz sicher, dachte sie, hatten andere ihn hier auf seinem Balkon gesehen.
Wann zum letzten Mal? Und wichtiger: Alleine?
Auf einem Balkon gegenüber stand ein Mann in weißem Unterhemd auf das rostige Geländer gestützt, eine zur Hälfte geleerte Bierflasche in der Hand. Neben ihm ein Junge von sechs oder sieben Jahren. Beide starrten neugierig zu ihnen hinüber, jenes Starren, das sich seiner Neugier nicht schämte. Dann lächelte der Junge und winkte Lona zu.
Die wandte sich ab
.
Nachdem die Leiche zur Überführung in die Rechtsmedizin abgeholt worden war und sie alle Fenster sperrangelweit aufgerissen hatten, waren auch die Fliegen peu à peu verschwunden. Worauf Ellings gesunde Gesichtsfarbe zurückkehrte.
Eine halbe Stunde später fuhr er mit seinem Volvo los und kam mit einer Tüte Döner zurück, die er auch unter den verbliebenen Kriminaltechnikern verteilte. Als die ihre Brieftaschen zückten – manche nur halbherzig, es waren die, die ihn kannten –, winkte er ab.
Lona hatte gleich zu Beginn ihrer neuen Planstelle in Rostock den Versuch gemacht, das erste von ihm mitgebrachte Essen (eine Pizza) zu bezahlen.
Daraufhin hatte er ihr einen Blick zugeworfen, in dem die unausgesprochene Frage lag, ob mit ihr etwas nicht stimme. Dann hatte er sich gelockert und gesagt: »Wir rechnen hier nicht gegeneinander auf.«
Wobei er erstens im Vagen ließ, ob er mit »hier« eher hier in Rostock
oder hier im Osten
meinte. Und er zweitens falsch lag, wie Lona bald darauf feststellte: Alle seine Kollegen rechneten auf – nur er nicht.
Die Aussagen der Nachbarn brachten sie hinsichtlich des Täters nicht weiter. Zwei Frauen gaben an, einen hageren Mann gesehen zu haben, der ihnen in Toitenwinkel noch nie über den Weg gelaufen war. Nur, was das Alter betraf, waren sie sich einig: Mitte vierzig, mindestens. Eher drüber. Aber für die Anfertigung eines Phantombilds waren ihre Erinnerungen zu vage.
Frau Molitor von nebenan hatte am Vortag über eine halbe Stunde laute Musik aus Becks Wohnung wahrgenommen. Bei näherer Nachfrage räumte sie ein, dass dies ungewöhnlich war. Herr Beck hatte manchmal gerne laut Filme geschaut, aber sie hatte sich nie bei ihm darüber beschwert. Und Musik? Nein, sie konnte sich nicht erinnern, wann er mal laut Musik gehört hätte. Allerdings lebte sie auch erst seit vier Monaten hier
.
Die verschiedenen Aussagen verschafften Beck post mortem Konturen, die mit jeder neuen Information präziser wurden, bis sich für Elling und Lona Mendt schließlich das Bild eines Einzelgängers abzeichnete. Ein Mann, der nur an unverbindlichem Kontakt interessiert war. Der zurückgezogen lebte und jede Ambition auf eine Arbeitsstelle vor langer Zeit aufgegeben hatte.
Da mit der Konteneinsicht und den ersten Ergebnissen aus der KTU
erst am späten Abend oder morgen zu rechnen war, versiegelten sie die Wohnungstür und fuhren in die Kriminalpolizeiinspektion in die Blücherstraße.
Der beige, in die Jahre gekommene Bau mit den weißen Sprossenfenstern zog sich beinahe die gesamte Straße entlang. Über einen monolithisch anmutenden Kasten, der sich sechs Etagen in die Höhe streckte, gelangte man in den vierstöckigen »Schlauch«, von dem links und rechts die Büros abgingen. Unterbrochen von Zimmern mit anderen Funktionen: ein Konferenzraum, die Teeküche, ein kleines Archiv, ein Technikraum, die Toiletten und schließlich rechts das Büro von Frank Elling und Lona Mendt.
Unser stalinistischer Prachtbau
wurde der Komplex hinter vorgehaltener Hand von den Beamten genannt.
Das Büro verfügte noch über alte, knarzende Holzdielen. Die Decke hing tief. Ihre Schreibtische standen sich auf eine Weise gegenüber, die ihnen den Blick hinaus auf die Blücherstraße gewährte. Als Erstes nahm Elling seine drei Grünpflanzen vom Sims und öffnete das Fenster, was Lona auf ihrer Seite des Büros auch tat. Ein warmer Luftschwall raubte ihnen für einige Sekunden den Atem.
Hinter ihnen fand sich jeweils ein Regal mit Aktenordnern und Ablagefächern, in denen diverse Formulare und noch mehr Krimskrams lagen. Lona hatte eines Tages eine aus ihrem Wohnmobil ausrangierte Kühlbox mitgebracht, ins Regal gehievt und angeschlossen. Genau daraus bedienten sie sich jetzt, denn ihre
gute Aussicht im vierten Stock forderte im Hochsommer ihren Tribut. Ihr Büro befand sich direkt unter dem schlecht isolierten Flachdach.
Mit Unterstützung zweier kleiner Tischventilatoren, die die warme Luft hin und her wirbelten, ohne für echte Abkühlung zu sorgen, begannen sie ihre Berichte zu tippen. Elling mit zehn, Lona Mendt mit drei Fingern. Wie üblich wanderten Ellings Blicke immer wieder zu der Uhr an der Wand. Er legte großen Wert auf einen pünktlichen Dienstschluss.
Die Beherrschung des Zehnfingersystems war sein gut gehütetes Geheimnis, denn darauf griff er nur zurück, wenn er unbedingt mit etwas fertig werden wollte. Betrat in so einem Moment ein Vorgesetzter das Büro, Mertens etwa, verfiel Elling in das hilflos wirkende Zweifingersystem.
»Warum machen Sie das?«, hatte Lona Mendt gefragt, als es ihr das erste Mal auffiel, damals waren sie noch per Sie.
»Ich bin kein Supermann, Frau Mendt. Ich will keinen Burnout kriegen«, hatte er geantwortet.
Und das glaubte er wirklich. Das Lachen warnte Lona nur ganz kurz als Kribbeln im Nacken vor, bevor sie ihre Lippen kräftig aufeinanderpresste, es sich aber als stärker erwies und sie schallend loslachte. So herzhaft, dass er erst lächelte, dann breit grinste und schließlich in ihr Lachen einfiel.
Und nachdem sie sich wieder etwas beruhigt und die Augen trocken gewischt hatten, schämten sie sich ein wenig, als hätten sie sich gegenseitig kurz nackt gesehen.
Danach bot Elling ihr das Du an.
»Ich heiße Lona.«
»Ich weiß. Mich nennen alle Elling.«
»Bei deinem Nachnamen?«
Er nickte: »Man kann ihn so aussprechen, dass es wie ein ›du‹ klingt.«
»Gut …. Elling.«
Er hatte recht, es funktionierte
.
Frank Elling loggte sich aus dem Zentralrechner aus und fuhr dann seinen Computer mit dem wuchtigen Röhrenmonitor herunter. »Ich mach Schluss für heute.«
Sie nickte. Auf ihn wartete eine Familie, auf sie nicht. Vielleicht würde sie noch eine Stunde bleiben, etwas durch die Altstadt bummeln, irgendwo eine Kleinigkeit essen.
Kaum war der Kollege durch die Tür, meldete sich der Computerfreak aus der KTU
, sein Name war Niemann.
Ungefähr ihr Alter. Keiner von diesen lässigen Nerds, sondern einer von den anderen, denen mit Brille und blasser, unsauberer Haut. Eifrig, dienstbeflissen, korrekt.
»Ich habe da etwas für Sie rausgefunden«, verkündete er geheimnisvoll.
Nein, hast du nicht, das war der Telefonanbieter. Du überbringst es nur, dachte Lona und sagte: »Ich bin wahnsinnig gespannt, Herr Niemann.«
Ihr war, als könne sie sein zufriedenes Lächeln am anderen Ende der Leitung hören.
»Die Funkzellenortung hat ergeben, dass das Mobiltelefon des Opfers letzte Woche für zwei Tage in Handymasten in Marnow eingewählt war. Das ist ein netter, kleiner Ort an der Mecklenburgischen Seenplatte. Und exakt vor einer Woche ist er aus Marnow zurückgekommen. Nach Hause, nach Toitenwinkel.«
Sie war ein paar Mal an den Seen gewesen, an der Müritz. Es gab dort wunderbare Flecken. Aber Marnow? Lona erinnerte sich nur an ein Hinweisschild, dem sie aber nicht gefolgt war.
Es war Mittwoch, der 13. August – also war Alexander Beck am vergangenen Dienstag nach Marnow gereist und tags darauf zurück, überschlug Lona schnell.
»Haben Sie die genauen Zeiten?«
»Schicke ich Ihnen. Und da ist noch was, Frau Mendt. Mir ist da was aufgefallen, was … für Sie vielleicht von Bedeutung sein könnte, ja …«
Niemann platzierte eine bedeutungsvolle Pause.
»Das hört sich sehr interessant an, Herr Niemann.
«
»Tja, ich habe die Ortungen bis 2000 zurückverfolgen lassen. Ich hatte da so eine … wie soll ich sagen …?«
»Ahnung?«
»Genau das. Herr Beck war jedes Jahr in Marnow. Und zwar immer um den 23. Juni herum bis Mitte Juli.«
»Dann haben wir jetzt einen Ausreißer. Sowohl was den Zeitpunkt als auch was die Dauer betrifft.«
»Korrekt.«
Lona hoffte, Becks Kontoauszüge würden ihnen vielleicht noch ein wenig mehr über diese Ausflüge nach Marnow erzählen.