Das Edelste am Seniorenheim Königsblick war sein Name, dachte Elling, als er seiner Mutter auf dem Weg von ihrem Zimmer zum Volvo den stützenden Arm anbot, den sie wortlos annahm. Sie kamen nur langsam voran, weil Erika zu immer kürzeren Trippelschritten neigte.
Schwester Leonie, kaum dreißig, trug ihnen Erikas Reisetasche hinterher, in der sich alles befand, was sie für eine Nacht im Ringelrankenweg benötigte.
Das Königsblick war ein in Würde gealtertes ehemaliges Gut. Mit rotem Klinker, umgeben von einem großen Garten. In den früheren Stallungen und kleinen Nebengebäuden für das Gesinde waren weitere Zimmer entstanden, die von gut begüterten Senioren oder deren Familien gemietet und sogar gekauft werden konnten. Und ihr Erbe dahinschmelzen sahen und dabei gute Miene zum bösen Spiel machten.
Elling musste das nicht fürchten, denn die Pflegekosten hatten sein Erbe bereits vernichtet. Nach der jahrelangen Arbeit im Fischkombinat Rostock blieb Erika Elling nach dem Mauerfall nur eine dürftige Rente, die aus den westdeutschen Rentenkassen bestritten wurde. Und Elling bewahrte seine Mutter seit einigen Jahren vor einem Lebensabend in einem dieser Heime, in denen sie von morgens bis abends sediert an ihr Bett fixiert gewesen wäre. Was ihn die knapp 800 Euro im Monat kostete, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Und mit denen er seiner Mutter dennoch nicht mehr bieten konnte als das kleinste Standardzimmer, das sie sich auch noch mit einer anderen älteren Dame teilen musste
.
Auf einem der aus feinen Pflastersteinen bestehenden Pfade, die sich auch durch den Garten zogen und breit genug für Rollstühle waren, trippelten sie zu dritt zum angrenzenden Parkplatz.
»Das ist hier aber auch … auch …«, ihr fehlten die Worte, und das machte sie wütend, und da sie ihr zunehmend fehlten, war sie auch zunehmend wütend, »… Himalaya.«
Endlich war es raus.
»Du meinst, er ist bergig, der Weg?«, übersetzte ihr Sohn.
»Ja.«
Frank Elling musste nicht über die Schulter schauen, um sich zu vergewissern, dass das Gelände so gerade war, als hätte ein zwanghafter Landschaftsarchitekt es mit dem Lineal gezogen.
Elling nickte: »Da hast du recht, wir gehen einfach vorsichtig, hm?«
Er hatte lange mit ihrem gemeinsamen Hausarzt Dr. Westermann gesprochen und mit zwei Freunden, die ebenfalls betroffen waren. Betroffen von einem oder beiden Elternteilen, denen Zug um Zug die Verbindungen zu ihren Erinnerungen gekappt wurden.
»Sobald ich ein Medikament in die Hände bekomme, das in der Betaphase getestet werden kann, melde ich mich«, hatte Westermann ihm gesagt und ein paar Verhaltenstipps mit auf den Weg gegeben. Vor allem denjenigen, niemals die Geduld zu verlieren.
Sie hatten den Volvo erreicht. Wortlos half Elling Erika auf den Beifahrersitz, in den sie sich schließlich plumpsen ließ. Er schloss behutsam die Beifahrertür, drehte sich zu Leonie und steckte ihr 20 Euro zu. Er tat es hin und wieder, weil er ihr und ihrem Berufsstand gegenüber tiefe Dankbarkeit empfand.
»Bitte, das müssen Sie nicht immer.«
»Doch. Wenn Sie es nicht nehmen, muss ich Sie anzeigen.«
Sie grinste und steckte den gefalteten Schein ein. Im Gegenzug reichte sie ihm die kleine Reisetasche, die er beim Umrunden des Volvos auf der Rückbank deponierte. Schwester Leonie trat den Weg zurück zum Königsblick an – und Elling nahm wahr, dass sie eine ziemlich enge Hose trug.
»Ist das hier ein Auto?«, hörte er seine Mutter durch die
offene Seitenscheibe der Fahrertür. Er beugte sich zu ihr hinab: »Ja, wieso?«
»Warum fahren wir dann nicht?«
Geduld hatte noch nie zu Erikas Stärken gezählt, und Elling fürchtete, es wäre die letzte individuelle Eigenart, die seine Mutter im Zuge ihres geistigen Verschwindens ablegen würde.
Er nahm auf dem Fahrersitz Platz und fuhr los. Kein Ton kam ihr über die Lippen, aber nichtsdestotrotz spürte er ihren kritischen Blick auf jeder seiner Bewegungen.
»Leonie.«
»Hm?«
»Wie man sein Kind so nennen kann.«
»Es gibt Schlimmeres, finde ich.«
»Na, damit kann man ja alles … Bambus.«
Vor Wochen noch hätte er sie nicht verstanden. Aber dem Kontext entnahm er, dass seine Mutter rechtfertigen
meinte.
»Hast du Hunger, Mama?«
»Sollte ich?«
Der Nachbar von gegenüber wendete die Thüringer Würstchen, die Nackensteaks und die Schaschliks auf dem großen Grill, während Frank Elling die anderen Nachbarn und Freunde um den Pool führte, der heute hätte eingeweiht werden sollen.
»Da kommt jetzt noch eine Gegenstromanlage rein«, ließ Elling die anderen wissen und spannte etwas die Brust: »Da muss man dann gegen die Strömung schwimmen. Das Wellenbad des einfachen Mannes.« Er grinste.
Mareike deckte die zwei aneinandergestellten Tische, und als sie die Runde um den Pool beendet hatten, tauchte Susanne auf, die nach zwei Schritten durch die Gartenpforte erstaunt stehen blieb.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie mit gespielter Freude. Sie schob die Sonnenbrille mit einer Lässigkeit ins Haar zurück, die Elling erstarren ließ, weil er seine Frau unsagbar schön fand und dachte, er könne den Moment zunichtemachen, sobald er sich rührte
.
»Wir weihen den Pool ein«, lieferte Mareike ihr das Stichwort.
Susanne kniff die Augen zusammen. Ihr Mund formte ein stummes natürlich.
»Ich hab’s vergessen«, gab sie zu.
Die Frauen kicherten, die Männer grinsten.
»Wer will Würstchen?«, fragte der Mann am Grill.
Die Hände schossen in die Höhe.
»Das erste vernünftige Wort«, fand Erika.