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»Innige Zuneigung mit«, die Kugelschreiberspitze tippte jedes einzelne Kästchen des Kreuzworträtsels an, »mit fünf Buchstaben«, flüsterte Erika Elling. Sie saß mit ihrer Schwiegertochter über Eck in der Küche und war ganz in ihr altes Hobby versunken.
Die Gäste hatten sich verabschiedet, Mareike drehte mit Luc eine Runde um die Häuser, und der Geschirrspüler erledigte gerade im zweiten Durchgang den Rest.
Susanne redigierte an einem klobigen Laptop einen weiteren Artikel ihrer Serie, mit der sie den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt in Rostock begleitete. Sie überlegte sich ein Synonym für ein Verb in ihrem abschließenden Satz und bemerkte dabei, wie Erika das Wort Kachel in die Kästchen füllte, die nur Platz für fünf Buchstaben boten. Weswegen sie e und l gemeinsam im letzten unterbrachte. Das gesamte Kreuzworträtsel wimmelte von diesen Anpassungen.
Erika, die Stunden mit Kreuzworträtseln oder dem Anschauen von Tom und Jerry zubringen konnte, schaute urplötzlich auf, als habe sie den Blick gespürt. In ihrer Miene spiegelte sich Ratlosigkeit. Und Misstrauen.
»Wer bist du eigentlich?«
»Ich bin Susanne.«
»Kenn ich nich’. Susanne.«
»Ich bin deine Schwiegertochter, Erika.«
Erika musterte sie mit versteinerter Miene. Vorwurfsvoll, als halte man sie für einen Tölpel und versuche, ihr ein Zeitschriftenabo anzudrehen.
»Ha … das wüsste ich aber, Fräulein. «
Erika verspürte Wut. Sie vergaß in letzter Zeit mal dieses oder jenes und manchmal fiel ihr auch ein Wort nicht ein, aber sie war schließlich nicht doof.
Gerade wollte sie diese Unperson aus dem Haus werfen, als sich die Küchentür öffnete und ihr Sohn hereinschneite. Sie fragte sich, wo der sich wieder herumgetrieben hatte, aber da er ihr sicher helfen würde, lächelte sie nur.
»Hallo, Mama, du bist ja noch wach«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei sah er zu Susanne, die unhörbar seufzte: »Erika ist sehr müde, Elling.«
Nach dem Zähneputzen, das sie – noch – alleine bewältigte, war Erika im Nachthemd ins Bett des Gästezimmers geschlüpft. Elling hatte Nachtlichter an drei Steckdosen angebracht, die ihr die Orientierung erleichterten, wenn sie nachts aufwachte und sich nicht in der gewohnten Umgebung befand.
Am Ende des Ganges blockierte eine Kindersicherung den Weg zur Treppe ins Erdgeschoss. Der Mechanismus war für ihren Geisteszustand noch nicht zu komplex, weswegen Susanne ein kleines Glöckchen angebracht hatte, das Elling und sie im Zweifelsfall alarmierte.
Elling hatte die Fenster aufgerissen, um das Zimmer jetzt, als es endlich ein klein wenig abgekühlt war, durchzulüften. Er nahm das Lieblingskissen seiner Mutter vom Sessel und deponierte es neben ihr Kopfkissen. Das Lieblingskissen hatte ihr verstorbener Mann auf einer ihrer gemeinsamen Reisen in Schweden erworben. Es zeigte einen Elch mit roter Nase. Es war Elling seit jeher ein Rätsel, wie man so etwas kaufen konnte.
Aber wenn das Kissen fehlte, geriet Erika sichtlich in Stress und suchte es – und mit der ihr eigenen Hartleibigkeit konnte das die ganze Nacht gehen. Besser also, man hatte es griffbereit.
Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr erneut einen Kuss auf die Wange.
»Mama, schlaf gut. Die Toilette ist gegenüber.«
»Das weiß ich. «
»Gut.«
Er kam hoch und wandte sich zum Gehen.
»Wir haben vorhin so nett gelacht.«
Elling drehte sich zu ihr um.
»Da erinnerst du dich dran?«
In seiner Frage lag kein echtes Interesse, es war nur noch Routine. Höflichkeit. Die Hoffnung hatte er schon vor Monaten aufgegeben.
»Ja.«
Er suchte den Blickkontakt. Fand ihn. Ihre Augen waren nicht matt, sondern hell und … klar.
Es war natürlich unwahrscheinlich, dass ihr Zustand sich gebessert hatte. Und wenn, war es nur die Tagesform, ein kurzes Hoch, das erfahrungsgemäß ein umso schlimmeres Tief nach sich zog.
Und wenn Elling es genau wissen wollte, nahm er gerne die Hilfe des Zyklopen in Anspruch. Er schenkte seiner Mutter ein Lächeln: »Geht ein Zyklop zum Auge arzt.«
Erikas Augen wurden nach einem kurzen Augenblick, in dem die Worte ihres Sohnes in ihrem Kopf nachhallten, schmal. Die Lachfältchen vertieften sich und sie gluckste vergnügt. So herzhaft, dass Elling unwillkürlich auch grinsen musste.
»Auge arzt«, japste Erika lachend, »der ist gut.«
Elling musste grinsen. Das Lachen seiner Mutter war ansteckend. Dann rückte sie das gelbe Kissen zurecht und bedachte ihn mit einem liebevollen Lächeln.
»Schlaf gut.«
»Du auch, Mama«, antwortete Elling und ging zur Tür.
»Früher hast du mir oft noch Witze erzählt, damit ich das Licht noch nicht ausmache … du warst ein Schlingel.«
Er wandte sich um und blickte ihr in die Augen: »Kennst du den mit dem Zyklopen?«
»Zyklopen?«
Elling beugte sich vor: »Geht ein Zyklop zum Auge arzt.«
Eine kurze Verzögerung. Wieder die schmalen Augen, das Glucksen, das Lachen. Elling brachte nicht mehr als ein hölzernes Lächeln zustande.
»Gute Nacht, Mama.«
Dann trat er hinaus auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Schnell wandte er sich nach links, wo der Flur weit wegführte – zur Treppe. Außer Hörweite. Denn ihm zerriss es die Brust, er musste beim Weinen keuchen, so sehr brach der Schmerz sich Bahn.
Und mittendrin musste Elling schmunzeln, weil er felsenfest überzeugt davon gewesen war, es würde ihm nichts anhaben, es würde nicht an die Substanz gehen.
Susanne schloss gerade ihren Artikel am Laptop ab, als Elling zurück in die Küche kam. Er sah blass aus, holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier und setzte sich über Eck neben sie. So wie zuvor seine Mutter.
Er zündete sich auch eine an, ohne dafür vor die Tür zu gehen. Dann kam sein Blick von einem weiten Punkt und fand in die Küche zurück. Er sah ihr fast leeres Glas.
»Möchtest du noch Wein?«
Sie schüttelte den Kopf: »Danke.«
Schweigen. Sie nippten an den Gläsern. Es war spät.
Susanne empfand Mitleid.
»Wie geht es ihr?«
»Sie verliert sich.«
Susanne nickte: »Ja, aber heute Nachmittag, da … ich hatte den Eindruck, sie ist da gut drauf gewesen. Sie hat sich wohlgefühlt – oder?«
Elling nickte auch: »Hat sie. Ja.«
Das Ja war eher ein nachdenkliches Brummen. Er blickte auf die Fliesen am Boden und atmete tief durch.
»Jetzt erinnert sie sich an ganz früher«, sagte er, »… als ich noch klein war. Bald erkennt sie mich nicht mehr.«
Er war überrascht, weil er die Berührung nicht hatte kommen sehen. Susanne hatte unvermittelt seine linke Hand ergriffen, drückte sie und setzte ein tröstendes Lächeln auf. Es kam von Herzen. Elling und Susanne kannten sich lange genug, sie lasen einander wie in offenen Büchern. Das zumindest war Ellings Überzeugung.
»Ohne Erinnerung«, sagte Elling unvermittelt, »ist man dann noch derselbe Mensch? Was meinst du?«
Die Schnelligkeit, mit der seine Frau ihm antwortete, sprach dafür, dass er nicht der Erste war, der ihr diese Frage gestellt hatte. »Ohne Erinnerung hast du keine Wurzeln. Du weißt nicht, wer du mal gewesen bist … ich … Elling, quäl dich nicht. Sie wird diesen Kampf verlieren. Sie weiß nicht mehr, wer Mareike ist. Und bei mir wird sie unsicher – du bist ihre letzte Verbindung. Für eine Weile, und dann sind eines Tages die letzten Leinen gekappt. Tut mir leid, aber so ist es.«
Susanne redete nie um den heißen Brei herum. Es war einer von vielen Gründen, weswegen er sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden will.
»Ja«, stimmte Elling ein, »ja, so ist es.«
Frank Elling war jemand, der sich mit dem Leben zu arrangieren verstand. Man gab ein wenig, man bekam ein wenig, am Ende waren alle zufrieden. Das Leben bedeutete an so vielen Fronten Kampf, dass man gut beraten war, es dort zu unterlassen, wo es nicht absolut nötig erschien, um mit seinen Kräften zu haushalten.
Aber die Demenz seiner Mutter war etwas, mit dem sich nicht verhandeln ließ. Die gab nicht, die nahm nur mit beängstigender Ausschließlichkeit. Ein Rückzugsgefecht, an dessen Ende die unausweichliche Niederlage stand. Diesen zwei Eckpunkten musste Frank Elling sich beugen.
Aber den Weg dazwischen würde er mit allen Mitteln strecken.
Um ihr die nächste Frage möglichst beiläufig zu stellen, ging er zum Kühlschrank, um sich ein zweites Bier zu holen – und unterbrach so den Blickkontakt.
»Und? Was hatte Lamman auf dem Herzen?«
»Lamann?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage, und ihr Tonfall klang danach, als wolle sie sich kurz Zeit zum Nachdenken verschaffen.
»Der Praktikant«, sagte Elling und goss sich langsam ein.
»Ach der … Lehmann.«
»Ja, Lehmann.«
»Nichts Besonderes. Wir waren heute draußen im Diedrichshagener Land. Eine Ehrenvorsitzende interviewen.«
Elling konnte nicht anders, er musste schlucken. Einmal, zweimal, er nippte schnell an der Flasche, damit es nicht weiter auffiel. Dann schloss er den Kühlschrank und ging zur Terrassentür, als betrachte er den Pool.
Ellings Miene war erstarrt. Er hatte es geahnt, vermutet, befürchtet. Jetzt wusste er es.
Sie belog ihn.
»Und hat er sich gut angestellt?«, fragte er und fand, seine Stimme klang belegt.
»Er hat nur zugehört.«
»Das ist nicht schwer.«
Er atmete tief durch und ging auf Susanne zu.
»Ich bin hundemüde, Suse.«
Er beugte sich hinab und gab ihr einen Kuss auf den Mund, den sie erwiderte. Dann verließ er die Küche und schloss auch die Tür hinter sich.
Susanne Elling atmete tief durch. Dann ging auch sie zum Kühlschrank und goss sich Weißwein ins Glas. Randvoll.