Auf dem Weg zur Rechtsmedizin stoppte Elling kurz bei der Filiale der Rostocker Sparkasse, in der Daniel Gerke arbeitete. Der trug einen leicht zerknitterten Leinenanzug von C&A mit einem albernen Einstecktuch und saß an einem von drei den Schaltern vorgelagerten Tischen. Um trotzdem einen Eindruck von Diskretion zu simulieren, waren sie durch Paravents zu beiden Seiten abgeschirmt. Auf den Tischen standen Röhrenmonitore und Notizblöcke und ein Gläschen mit bunten Bonbons für ungeduldige Kinder.
Sein junges, glattes und bestens rasiertes Gesicht trug um den Mund tiefe Falten, weil er ständig lächelte. Als hätte er als Kind mal gelächelt – und dann hatte es zwölf geschlagen, und sein Gesicht war so stehen geblieben.
Gerke war als Kundenberater für Elling zuständig.
Er erhob sich, um Elling die Hand zu reichen. »Morgen, Herr Elling.«
»Morgen.«
»Setzen Sie sich doch.«
Elling nahm Platz und legte das Schreiben auf den Tisch, das er gestern erhalten hatte.
Gerke nickte, als habe er damit gerechnet, dass das der Grund für Ellings Besuch war.
»Ja, tut mir leid, aber wir sind verpflichtet, unsere Kunden darauf hinzuweisen, wenn ihr Kreditrahmen ausgeschöpft ist – ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir die fälligen Raten jetzt anpassen können.«
Die Worte kamen natürlich mit einem Lächeln.
»Ja, das können wir machen. Ich bin aber hier, weil ich noch mal den Kreditrahmen erhöhen möchte. Um 15000 Euro.
«
Für einen Sekundenbruchteil verlor Gerkes Lächeln die Spannung, dann hatte er sich wieder im Griff. Er legte den Kopf schief und seine Finger der einen Hand begannen mit denen der anderen einen stummen Ringkampf.
»Das … ähm … geht nicht, Herr Elling. Weil … weil ich Ihnen das Maximum eingeräumt habe. Sie erinnern sich?«
Er sagte das so sanft, wie man einem unglücklich Gestrauchelten eine schlechte Nachricht überbringt.
Elling nickte und beugte sich ein wenig vor: »Hören Sie – meine Tochter hat gerade ihr Abi gemacht, sie ist achtzehn geworden, sie wird jetzt an die Uni gehen. Ich möchte ihr ein Auto kaufen. Was Kleines, Gebrauchtes. Sicher soll er sein, nicht mehr. Was, was finanziell überschaubar ist …«
Gerke kratzte sich mit einer Verlegenheitsgeste im Nacken. Elling wusste, was das hieß: Er hatte seinen Kundenberater in eine Stresssituation manövriert. Und das wiederum bedeutete: Gerkes ablehnende Haltung war nicht in Stein gemeißelt. Der junge Mann tippte auf seiner Tastatur herum und blickte auf die Mattscheibe, als erschiene dort die Lösung, sofern er nur intensiv genug darauf starrte.
»Ich verspreche es Ihnen: Ich zahle das ab«, fügte Elling noch schnell hinzu.
Gerke blies kurz die Wangen auf, er blinzelte nervös. Um Elling dann in die Augen zu schauen und den Kopf zu schütteln: »Nein, unmöglich. Oder steht eine Beförderung ins Haus?«
»Müsste eigentlich … in drei Jahren. Spätestens vier.«
Gerke blickte ihn mit seinem erstarrten Lächeln an. Lange vier, fünf Sekunden, aber dann schüttelte er doch wieder den Kopf: »Nein, Wahnsinn, pardon, wenn ich das sage, aber wir kommen beide in Teufels Küche, entschuldigen Sie meine offenen Worte, aber … nein, das geht nicht.«
»Aber Sie haben doch so was wie einen persönlichen Ermessensspielraum.«
»Habe ich. Habe ich auch weit übers Vertretbare hinaus ausgeschöpft, für Sie.
«
Elling hatte keinen Schimmer, wovon sein Kundenberater sprach. Und da der das nun erfasste, beugte Gerke sich seinerseits auch vor: »Ihr statistischer Kundenlebenszyklus liegt bei 71,4 Jahren, Herr Elling. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich wünsche Ihnen, dass Sie 140 werden …«
»Schon klar.«
»Wirklich.«
»Natürlich.«
»Aber die letzte Rate für Ihr Eigenheim, im Ringelrankenweg zahlen Sie im Oktober 2054 mit 96,1 Jahren. Wie gesagt: die Statistik …«
»Schon gut«, unterbrach Elling ihn, »was schlagen Sie vor?«
Gerke wiegte den Kopf hin und her.
»Ich würde das unter normalen Umständen nicht ins Feld führen … wirklich nicht.«
»Ja«, bestätigte Elling, ohne zu wissen, wovon sein Berater sprach.
Gerke räusperte sich und zupfte an seinem Einstecktuch herum.
»Das Sparbuch Ihrer Tochter weist ein Guthaben …«
»Nein«, unterbrach Elling.
» … von 8234 Euro auf.«
»Nein«, wiederholte Elling und klatschte, um den Grad seiner Ablehnung zu unterstreichen, auf den Tisch. So heftig, dass seine rechte Handinnenfläche sich sehr schnell sehr taub anfühlte.
Gerke zuckte nicht mal zusammen, die Reaktion überraschte ihn offenbar nicht. »Ich bin selbst Vater, ich würde … Herr Elling, ich würde genauso reagieren wie Sie, es wäre für mich tabu.«
»Das ist es auch. Das soll es auch bleiben.«
Gerke holte tief Luft, als müsse er eine gute Strecke unter Wasser zurücklegen. »Das verstehe ich, wirklich. Als Vater einer Tochter haben Sie mein vollstes Verständnis.«
»Wussten Sie, das man ›voll‹ nicht steigern kann?«
»Was?«
»Nicht wichtig.«
»Also, Herr Elling, … wir müssen ja hier zu einer Lösung
kommen. Sie haben ja selbst versichert … glaubwürdig
versichert, Sie können die Raten irgendwie aufbringen. Das habe ich doch richtig verstanden?«
»Ja«, bestätigte Elling, der sich plötzlich matt fühlte und abgeschlagen. Seine Hand war rot angelaufen und schmerzte.
Sein Gegenüber schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln: »Dann haben wir doch eine Lösung, die alle zufriedenstellt. Ich brauche für die weiteren 15000 Euro eine Sicherheit, die mindestens die Hälfte der Kredithöhe abdeckt – das Sparbuch Ihrer Tochter.«
»Ich hatte doch gerade gesagt …«
Gerke hob abwehrend die Hand: »Nur als Sicherheit,
Herr Elling. Wir rühren es nicht an. Nicht an.
Wenn Sie die Raten zahlen, dann benötigen wir die Sicherheit nicht. Und … Sie können doch zahlen. Das haben Sie ja gesagt.«
»Das hab ich«, gab Elling zu.
Gerke zog ein Formblatt aus einer Schublade, trug die 15000 Euro als Summe ein und markierte drei Stellen, an denen er Ellings Unterschrift benötigte, mit einem »x«. Dann drehte er das Papier auf den Kopf und schob es Elling entgegen, dem er mit der anderen Hand den Kugelschreiber reichte.
Elling wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn, als er aus der Bank kam. Da erreichte ihn Niemann, der Computerspezialist aus der KTU
, auf dem Handy: »Guten Morgen.«
»Morgen, Niemann.«
»Ich erreich Frau Mendt gerade nicht.«
»Die ist bestimmt schon in der Rechtsmedizin und hat ihr Handy ausgeschaltet.«
»Ach so.«
In den zwei Worten lag Bedauern. Vermutlich telefonierte er lieber mit Lona Mendt als mit ihm.
»Es gibt News über das Mordopfer Beck – der ist in der Birthler-Behörde gelistet.«