Die Sonne schien bereits um elf unbarmherzig auf Rostock hinab. Kein Wölkchen am Himmel, der Wetterdienst hatte Regen erst für die nächste Woche angekündigt. Wenn überhaupt.
Lona und Elling setzten sich auf eine Parkbank in der Grünanlage vor dem gerichtsmedizinischen Institut, wo Elling sich eine anzündete.
»Zweimal Linkshänder, zweimal Kehlenschnitt, zweimal ein Könner«, fasste er zusammen und inhalierte so tief, dass Lona glaubte, den spitzen Stich in der Lunge zu sehen.
»Aber sonst gibt es nichts«, sagte Lona, sie stützte den linken Fuß auf der Kante der Sitzbank ab, »Beck war Sozialhilfeempfänger, Leyendecker gutsituiert. Beck kam aus dem Osten, Leyendecker aus dem Westen. Die beiden liegen vom Alter her eine Generation auseinander.«
Elling sog an seiner Zigarette, er blickte hoch. Sie wirkte so klar, tough – das Wort kam gerade in Mode –, er wusste, sie konnte beinhart sein. Und weich. Bei Kindern war sie weich. Aber sie konnte auch anders. Ihr Unterkiefer schob sich dann vor, und dann musste man achtgeben und besser nichts Unüberlegtes sagen. Oder zusehen, dass man Land gewann.
»Warum geht der drei Stunden weg und kommt wieder, um sein Opfer ins Badezimmer zu hängen?«, fragte sie sich laut.
»Vielleicht war er gar nicht weg. Er hat vielleicht die Wohnung durchsucht, und … Beck später so zugerichtet.«
»Warum nicht gleich?«
Er deutete ein Achselzucken an, nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit dem einen Hemdzipfel, der aus seiner Hose hing: »Vielleicht hat er Fotos von Opfern gefunden. Von seinem
Sohn, seiner Tochter, die ganze Wut ist hochgekocht, und er hat ihm dann Kinderficker in die Stirn geritzt.«
Lona Mendt nickte. Das war möglich. Ja, es waren schon Mörder am Tatort eingenickt. Oder einfach dort geblieben, um sich fassen zu lassen. Das Leben war um einiges skurriler als diese ganzen Krimigeschichten, die im Fernsehen liefen.
Die Anzahl von Möglichkeiten ging von Natur aus stets gegen unendlich, aber diese eine hier behagte ihr nicht. Drei Stunden Wartezeit. Genau jener Umstand, der sich auch für Pramann nicht so recht einfügen wollte.
»Der wollte Antworten«, sagte sie leise, »er war da, in Becks Wohnung. Die Tür war abgeschlossen, aufs Klingeln hat keiner geöffnet – also hat er sich Zugang verschafft.«
Elling nickte: »Die aufgebrochene Tür. Und dann hat Beck ihn überrascht.«
»Es kommt zum Kampf.«
»Der Täter kann Beck überwältigen.«
»Und dann foltert sein Mörder ihn – wegen der Antworten.«
»Auf welche Fragen?«, wollte Elling wissen und trat die Zigarette aus.
Der Blick von Lona hatte sich auf einen weit entfernten Punkt gerichtet und fand nun etwas verzögert zurück. Sie hatte sich das Geschehen in der Wohnung vorgestellt, jetzt tauchte sie daraus wieder auf: »Keine Ahnung. Vermutlich was mit Missbrauch.«
»Und was ist, wenn eine Antwort Herbert Leyendecker
gewesen ist?«
Lona musste schmunzeln.
»Was ist daran komisch?«
»Nichts, Supermann«, log sie.
Komisch daran war, dass Frank Elling mit seinem Schnauzer, seinem kleinen Bauch, der Brille und dem etwas ältlichen Kleidungsstil so wirkte wie jemand, der Dienst nach Vorschrift machte. Und genauso arbeitete Elling ja auch. Um Punkt fünf am Nachmittag zuckte seine Hand vom Kugelschreiber zurück, als habe er sie die ganze Zeit über eine Viper gehalten
.
Sein Feierabend war Elling heilig.
Das ist meine Lebenszeit, hatte er ihr erläutert, ich verkaufe etwas von dem Wertvollsten, das ich habe, an den Staat: Lebenszeit. Wenn er mehr haben möchte, müssen wir über den Preis reden. Bisher wollte er nicht mehr, und umsonst bekommt er’s nicht.
Ellings ganzes Auftreten lud zum Unterschätzen ein.
Und genau dann, wenn man nicht mit ihm rechnete, kam der kluge Kopf dahinter zum Vorschein. Sie musste lächeln, weil sie ihn auch gerade wieder unterschätzt hatte. Lona blickte ihm in die Augen: »Von der Chronologie her liegt das sogar nahe: Wenn Leyendecker eine Antwort war, dann …«
Sie suchte noch nach Worten, aber Elling war schneller: » … dann können wir nur hoffen, dass es die einzige war.«
»Exakt. Sonst haben wir es mit einer Serie zu tun.«
Frank Elling seufzte. Eine Serie bedeutete vor allem Druck durch den Vorgesetzten – Mertens –, der ihn durch den Abteilungsleiter bekam, der vom stellvertretenden Polizeipräsidenten und der von der Presse. Druck und Überstunden.
»Ach ja, Beck«, fügte er hinzu, »Niemann hat ihn überprüft, er ist in der Birthler-Behörde gelistet.«
Da lagen die Stasi-Unterlagen, wurden immer noch gesichtet und die zerschredderten Papiere mühsam wieder zusammengefügt.
Lona Mendt merkte auf.
»Niemann hat mich heute Morgen angerufen. Beck war seit 1982 Teil der Staatssicherheit. Jedenfalls ist es ab dann aktenkundig, sagt Niemann.«
»Als IM
?«
»Nein. Zuletzt als Leutnant des MfS.«
Sie musterte ihn: »Was denkst du?«
»Müssen wir im Auge behalten, das denk ich. Dass er sieben Jahre beim MfS war. Aber eben auch 14 Jahre nach der Wende nicht. Wenn es einen Zusammenhang mit früher gibt, dann ist die Frage, warum es jetzt
akut geworden ist.
«
»Und Leyendecker war nicht bei der Stasi.«
»Nein«, bestätigte Elling, »das kommt noch dazu. Und jetzt? Haben wir einen Hebel?«
»Möglicherweise«, antwortete Lona, »Marnow.«
»An der Müritz?«
»Ja. Beck war knapp eine Woche vor seinem Tod da. Sein Handy hatte sich in ein paar Funkzellen da eingewählt. Laut Herrn Niemann war er auch die letzten Jahre für drei Wochen Ende Juni und dann im Juli da. Dieses Jahr aber nur für zwei Tage letzte Woche.«
Elling konnte mit der Information auf Anhieb nichts anfangen. Aber manchmal mussten Informationen reifen, um ihren wahren Wert zu offenbaren. Und oft taten sie das erst, wenn sie sich mit anderen verknüpften. Solchen, die noch zu finden waren.
»Ich hab gestern Abend die Kontoauszüge von Herrn Beck bekommen«, fuhr Lona fort, »die belegen die Funkzellenauswertung. Er war in Marnow und hat sich auf dem Campingplatz da einen Bungalow gemietet. Für eine Nacht.«
»Und du hältst das für auffällig?«
»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern, »die Auszüge sind ansonsten eine Art Endlosschleife. Miete, Strom, Supermarkt, Telekom. Miete, Strom, Supermarkt, Telekom. Und immer so weiter. Und dann noch Marnow. Jedes Jahr. Drei Wochen. Und nur dieses Jahr haben wir den Ausreißer. Wir sollten dahin, Elling.«
»Hmm, ja. Gut. Warum nicht?«
Er sah nicht sehr überzeugt aus, stand aber auf, und sie schlenderten rüber zum Parkplatz. Dort blieb Elling wie angewurzelt stehen, weil der Behindertenparkplatz, auf dem er seinen Volvo abgestellt hatte, leer war.
»Scheiße. Die haben mich abgeschleppt.«
»Sieht so aus«, bestätigte Lona lächelnd.
»Sag mal, freut dich das?«
»Ja. Ja, das freut mich.«
Anfangs hatte Elling eine Kopie seines Dienstausweises hinter die Windschutzscheibe geklemmt, wenn er außer Dienst irgendwo
parkte, wo er nicht durfte. Die Beschwerden, die daraufhin in der Blücherstraße eintrudelten, führten zu einem ernsten Gespräch in Mertens’ Büro.
Deshalb hatte er sich einen Behindertenausweis gefälscht. Wenn er es eilig hatte oder mal wieder spät dran war, nutzte er den. Aber wenn sich eine Politesse die Mühe machte, das dazugehörige Kennzeichen zu überprüfen, flog die Sache auf. So wie jetzt.
»Es war nichts mehr frei.«
»Niemand steht über dem Gesetz, Elling«, stellte sie lächelnd fest.