Lona hatte sich auf den Stellplatz von einer sehr schmalen Person einweisen lassen, die sich als Meike Bender vorgestellt hatte. Die Besitzerin des Platzes dirigierte sie routiniert durch den Engpass zwischen Kastanie und Ufer.
Dabei trug sie die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht. Sie schien so in sich zu ruhen, wie Lona es noch bei keinem anderen Menschen erlebt hatte.
»Sie kennen sich gut aus mit Ihrem Wohnmobil.«
»Sie
haben mich eingewiesen«, gab Lona das Kompliment mit einem Lächeln zurück, während Meike Bender ihr dabei half, die Strom- und Wasserversorgung anzuschließen. Sie und ihr Mann hatten den Platz nach der Wende erstanden, damals war er noch nicht mal erschlossen gewesen.
Sie hatte ein hübsches Gesicht. Aber auch in ihrem Blick lag der getretene Hund. Weit zurückgenommen. Aber sichtbar.
Und dann war der Eindruck wie weggewischt, denn sie deutete plötzlich über sich in den Himmel. »Sehen Sie.«
Lona hob den Blick. Ein Raubvogel zog seine Bahn und überließ seinen Kurs willig der Thermik, um Kräfte zu sparen.
»Ein Mäusebussard.«
Lona nickte.
»Ist es nicht großartig, dass sie jederzeit fliegen können, wohin sie wollen?«
»Schon, ja.«
Meike Bender nickte: »Aber sie wissen nicht um ihr Privileg – meinen Sie, es ist gut zu wissen, ob man über ein Privileg verfügt?«
Das erwischte Lona halbwegs auf dem linken Fuß, sie musste
kurz überlegen: »Wenn man es bewusst nutzen will, muss
man es wissen. Wenn es sich nicht abnutzen soll, darf
man es nicht wissen.«
In dem Blick von Meike Bender lag angenehmes Erstaunen.
Bei ihr hatte Lona sich das Boot gemietet, mit dem Alexander Beck den See überquert hatte, und sie tat es ihm nach. Anfangs fuhr sie mit dem Kanu Schlangenlinien, aber nach einer Weile hatte sie den Wechsel der Ruderschläge von links nach rechts so optimiert, dass sie zügig vorankam. Und tatsächlich – keine zehn Minuten später legte sie am Marnower Hof an. Vermutlich wirklich schneller, als wenn sie den See umfahren hätte.
Die Tische befanden sich auf einer ausgedehnten Holzterrasse, die sich wie die der Benders über das Ufer des Sees erstreckte und auf dicken Pfählen ruhte. Es gab eine gutbürgerliche Speisekarte, und Lona entschied sich für den frisch gefangenen Zander. Er wurde auf den Punkt gegrillt, das Fleisch glasig, dazu Rucolasalat mit Tomaten.
»Kennen Sie den?«
Beim Zahlen streckte sie dem Kellner das Foto von Alexander Beck entgegen.
Der nickte: »Ja. Er hat viel gegessen und wenig Trinkgeld gegeben.«
»Wann war das?«
»Ich hatte fünf Tage frei, dann Schicht mit Frau Brünner, muss so letzten Dienstag gewesen sein.«
»Hat er alleine gegessen?«
»Ja.«
»Er ist doch mit dem Boot gekommen …?«
»Weiß ich nicht, da war ich wohl drinnen. Auf jeden Fall ist er mit einem weggerudert.«
»Rot? Der Rumpf?«
»Puh … kann sein.«
»So wie das?«
Dabei deutete sie auf das Boot, mit dem sie hierher gerudert war
.
»Genau das. Ja. Ist das vom Campingplatz?«
Lona nickte. Und dann britzelte es über ihr und leuchtete kurz auf. Eine Fliege war in den Insektenvernichter geraten.
»Und wohin ist er gerudert, wissen Sie das?«
Der junge Mann deutete hinüber. In der späten Nachmittagssonne musste Lona die Hand vor die Augen halten. Sie sah die Dächer einiger Häuser, die Spitze eines Kirchturms und ein großes Gebäude mit einem Flachdach.
»Das große Gebäude, was ist das?«
»Das ist unsere Klinik.«
»Und die Kirche … ich dachte, ich hätte im Vorbeifahren schon eine andere in Marnow gesehen.«
»Ja, das ist die neue, die Sie gesehen haben. Die ist nach der Wende gebaut worden. Die da drüben ist von früher. Die wird auch kaum noch genutzt.«
»Haben Sie Herrn Beck danach noch mal gesehen?«
»Wen?«
»Den Mann mit dem wenigen Trinkgeld.«
»Nein.«
Von Westen kam Wind auf und sie musste sich ins Zeug legen, aber letztlich brauchte Lona für die Überfahrt keine zehn Minuten.
Aber hier verlor sich Becks Spur.
Die Kirche war geschlossen. Eine handschriftliche Nachricht informierte darüber, dass sie lediglich an zwei Tagen geöffnet hatte (Mittwoch und Freitag).
In der Klinik – vom alten Mittelteil zweigten zwei moderne Flügel ab, an deren Fertigstellung noch gearbeitet wurde – nahmen sich nach und nach drei Mitarbeiterinnen ihres Anliegens an – ohne Erfolg.
Nein, ein Alexander Beck sei nicht hier gewesen. Jeder müsse sich über seine Versichertenkarte ausweisen. Und hätte er das getan, wären seine Daten im Rechner hinterlegt. Waren sie nicht
.
Lona klapperte daraufhin noch die Besitzer der vier umliegenden Häuser ab – auch das ohne Ergebnis.
Es hatte fast den Anschein, als habe der Ort Alexander Beck verschluckt. Und ihn erst in Rostock wieder preisgegeben.