Mareike hatte den neuen Hit von Beyoncé voll aufgedreht – Crazy in Love.
Das war Lucs neuer Lieblingssong. Wenn sie schon nicht bei ihm sein konnte – sie fand seine Blässe übrigens vornehm –, dann wollte sie wenigstens »seinen« Song hören.
Deshalb bekam sie auch nicht mit, wie er aufs Grundstück fuhr. Erst als er die Tür öffnete und der silberne Lack die Sonne reflektierte und es dadurch in Mareikes Augenwinkel aufblitzte, hob sie den Kopf.
Und was sie sah, traf sie fast physisch in der Brust und hinterließ ein schmerzhaft schönes Ziehen – ihr Vater stieg aus einem silbernen Kleinwagen, um den er eine riesige rote Schleife gebunden hatte.
Elling klappte die Tür zu, trat einen Schritt zurück und warf einen zufriedenen Blick auf den Wagen.
»Papa!«
Ein tränenerstickter Schrei irgendwo in seinem Rücken, dessen Frequenz und Dringlichkeit ihn herumwirbeln ließ. Das letzte Mal hatte dieser ganz spezielle Schrei Susanne und ihn erreicht, als im Urlaub jemand eine Tür zuwarf, die sich nicht richtig schließen ließ und dann noch einmal mit aller Kraft eines erwachsenen Mannes dagegen drückte. Der Mann hatte Mareike vier Finger gebrochen, mit denen sie sich gerade am Türrahmen festgehalten hatte.
Aber dieses Mal hatte sie sich nichts gebrochen, sondern es sah aus, als wolle sie eine neue Bestmarke für den 100-Meter-Lauf der Frauen hinlegen. Quer über den Rasen stürmte sie auf ihn zu. Und sie strahlte und weinte, dann warf sie sich mit einer Wucht in seine Arme, die Elling zwei Stützschritte abnötigte
.
»Du bist der Beste, der Beste, der Beste …«, schluchzte sie in sein Ohr. Und hielt ihn fest, als wolle sie ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Und Elling hätte dieser Option sehr wenig entgegensetzen wollen.
Er war gerade der glücklichste Mensch im Ringelrankenweg und in ganz Rostock. Er hielt seine Tochter in den Armen. Viel zu schnell war sie groß geworden, und eines Tages würde sie mit irgendeinem Luc dieser Welt gehen, blasse Kinder bekommen und …
Und er würde dazu lächeln. Er würde lächeln, das hatte er sich fest vorgenommen, auch wenn es ihn entzweiriss. Deshalb hätte Elling seine Tochter ewig so halten können. Halten und nie mehr hergeben.
Sie gab ihm ein paar Küsse auf die Wange, dann ließ sie ihn los, nur seine linke Hand hielt sie noch, während sie den Wagen bestaunte.
»Ist der wirklich für mich?«
Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. Elling nickte wohlwollend. Seine Kleine.
»Ich dachte, du bist unterwegs, und ich wollte eigentlich warten, bis Mama da ist, aber … hier.«
Er reichte ihr den Schlüssel. Und da fing sie wieder an zu weinen.
»Jetzt ist aber gut.«
»Ich bin so glücklich, Papa. Ich hätte ja nie damit gerechnet, ich …«
Elling musste schlucken, er war selbst von seiner Zuneigung gerührt, und deshalb empfand er beim Klingelton seines Handys Erleichterung. Er schaute aufs Display in dem Wissen, den Anruf so oder so entgegenzunehmen. Es war Niemann.
»Sieh ihn dir mal von drinnen an«, sagte er zu Mareike und meldete sich dann, »Herr Niemann?«
»Ich hab da was Interessantes auf dem Computer von Herrn Beck entdeckt.«
»Wenn Sie das …«, er senkte kurz die Stimme, »kinderpornografische Material meinen …
«
»Genau darum geht’s«, unterbrach Niemann ihn, »die ganzen Fotos und Videos sind alle post mortem aufgespielt worden. Es gibt da so ein Dateiverzeichnis, das heißt table of contents.
Und ich habe …«
Elling war mit einem Schlag ernüchtert: »Wie war das?«
»Ich versuche Ihnen gerade zu erklären, was table of contents …«
»Nein, das vorher: post mortem. Sind Sie sicher?«
»Ja. Es wird bei einer Datei im Anhang vermerkt, wenn sie das erste Mal auf einen Computer überspielt wird. Das ist aber manipuliert worden.«
»Wie haben Sie es dann gemerkt?«
»Da ist ein Virenscanner im Hintergrund gelaufen. Der protokolliert akribisch genau jede noch so kleine Änderung. Und den Scanner hat der Täter nicht ausgeschaltet. Der hat den ganzen Kopiervorgang vermerkt. Für das gesamte Material gilt also: Es ist mindestens drei Stunden nach Eintritt des Todes auf dem Computer von Herrn Beck platziert worden.«
Elling spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
»Gibt es irgendwelche kinderpornografischen Fotos, die sich vorher auf dem Computer befunden haben?«
»Nein.«
»Ist das gerichtsfest, Herr Niemann?«
»Das ist es«, antwortete der Kriminaltechniker, und Elling meinte eine Spur Stolz zwischen den Zeilen zu hören, »ich kann sogar nachweisen, dass die Dateianhänge alle manipuliert worden sind. Das heißt: Jemand, der die Sachen auf Herrn Becks Rechner gespielt hat, hat auch dafür gesorgt, dass der Eindruck entsteht, die Dateien würden sich schon seit Monaten auf der Festplatte befinden. Dafür hat er das im Dateianhang hinterlegte Datum manipuliert. Allerdings hat er dabei den Virenscanner nicht beachtet.«
»Gut«, log Elling, »verstehe. Danke.«
Er legte auf. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Das erklärte die Lücke zwischen den Tatphasen eins und zwei, von denen Dr. Pramann gesprochen hatte. Der Mörder hatte die
Fotos und Videos nach dem Tod seines Opfers erst noch besorgt, um die Ermittlungen in die Irre zu führen.
Kinderficker – mit ziemlicher Sicherheit war Alexander Beck genau das nicht gewesen.
Oder doch? War er einfach nur so klug gewesen, keinen Hinweis darauf in seiner Wohnung und auf seinem Computer aufzubewahren? Und hatte der Täter sich vielleicht deshalb entschlossen – er hatte ja die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und wohl nichts gefunden, was in diese Richtung wies –, ihnen mit den Fotos und Videos und der Botschaft auf der Stirn des Opfers den richtigen Weg zu weisen?
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war halb sechs.
Wenn sie nicht gelogen hatte, saß Frau Winter exakt jetzt im Memento und wartete auf ihn. Sie hatte die Antworten.