19
Lona verpasste Elling um zehn oder fünfzehn Minuten.
Sie stellte die Bonneville direkt neben dem Eingang des Kommissariats ab, lupfte den Helm über den Kopf und schüttelte kurz das blonde Haar.
Mit der Retromaschine über die Landstraße zu gleiten, ihr tiefes, wohliges Röhren zu spüren, als wäre man eins mit ihr, eine Mensch-Maschine, das trug sie im doppelten Sinne fort. Fort von der, der sie war.
Wenn sie diesen Zustand erzwingen wollte, gab es nur die Bonneville oder das Abtauchen in einen See, in die Lautlosigkeit, eine Reise in … ja, was? Den Mutterbauch? Lona wusste es nicht. Sie spürte aber ihr Wohlbefinden, und das stellte sich auch ein, wenn sie nachts alleine in ihrem Wohnmobil lag und Regen einsetzte, der unermüdlich aufs Dach und gegen die Fenster trommelte. Am besten Platzregen.
Die offene Spur in Marnow jedenfalls hatte ihr keine Ruhe gelassen, deswegen war sie noch einmal nach Toitenwinkel gefahren. Sie hatte das Polizeisiegel an der Tür gebrochen und sich in Becks Wohnung umgesehen, die mittlerweile nahezu frei von Fliegen war.
Ohne das Gewusel aus Polizisten und KTU -Mitarbeitern und Streifenbeamten nahm sie die Atmosphäre so wahr wie das Opfer. Sicher, man hörte die Schritte in der Wohnung darüber und das Schreien der Kinder draußen, und von irgendwoher dröhnte auch ein tiefer Bass, aber insgesamt war es doch ruhiger, als sie es sich vorgestellt hatte.
Lona hatte keinen genauen Anhaltspunkt, sie ließ die Wohnung auf sich wirken. Das Wohnzimmer. Der Blutfleck. Hier hatte der Täter ihm die Kehle durchgeschnitten. Dann der Flur, das Badezimmer ohne Fenster. Hier hatte er ihn wieder malträtiert. Nur später.
Lona blickte in die verdickte schwarze Lache aus Blut am Boden der Badewanne. Sie ließ das billige Plastik des Duschvorhangs auf sich wirken, die Fliesen, das Handtuch. Alles.
Und dann, sie stand bestimmt schon eine Minute still, kam ihr ein unerhörter Gedanke. Der gar nicht so unerhört war, denn er lag eigentlich auf der Hand: das Messer.
Deshalb schoss sie mit der Triumph durch den Berufsverkehr und erreichte die KTU gerade noch rechtzeitig: Niemann packte seine Siebensachen zusammen, eine Kollegin fuhr ihren Rechner herunter. Weiter hinten schaltete jemand das Deckenlicht aus und verschwand im Treppenhaus.
»Herr Niemann?«
Er sah mit einer missmutigen Miene über die Schulter, die sich dann aber schnell aufhellte.
»Hallo, Frau Mendt. Möchten Sie«, er trat näher, »einen Kaffee?«
Er konnte seinen Blick zwei, drei Sekunden nicht von ihrem Ausschnitt lösen.
»Danke, gerade nicht.«
»Mit wem muss ich sprechen, wenn ich Näheres über das Tatwerkzeug wissen möchte, mit dem Herr Beck ermordet und so zugerichtet worden ist?«
»Anatomisch sind Sie bei Dr. Pramann richtig.«
»Da war ich. Ich will wissen, ob in beiden Tatphasen ein und dieselbe Klinge verwendet worden ist.«
Niemann merkte auf – darauf war er noch nicht gekommen. »Das ist ein ziemlich kluger Gedanke. Und das, verstehen Sie es nicht falsch, aus so einem attraktiven Kopf.«
»Danke. Ich wunder mich manchmal selbst, dass er neben schön zu sein auch noch denken kann«, erwiderte sie mit einem entwaffnenden Lächeln, während er rot anlief. »Können Sie mir was zu dem Messer sagen? «
»Nein, nicht mein Fachgebiet, und der metallurgische Befund liegt auch noch nicht vor.«
»Wann?«
»Morgen vermutlich.«
Lona Mendt nickte – wie es aussah, würde sie heute keine befriedigende Antwort mehr auf ihre Frage bekommen.
»Und der Datenbank-Abgleich der Kinderfotos und Videos? Gab’s da schon Treffer? Opfer, an die wir uns wenden können?«
»Ich hab den Abgleich gestoppt.«
Sie sah ihn verdutzt an, und Niemann registrierte ihre Verblüffung.
»Wieso das?«
»Weil … Herr Elling mir gesagt hat, dass die nicht mehr fallrelevant sind.«
»Hat er das begründet?«
»Ja, mit einer anderen Ermittlungsrichtung.«
Warum hatte Elling sie nicht umgehend darüber in Kenntnis gesetzt, statt sie weiter in eine Sackgasse hinein ermitteln zu lassen? Das passte nicht zu ihm.
Niemann mochte kein Gespür für Komplimente haben, aber er bemerkte ihre Irritation.
»Was war der Auslöser Ihrer Unterhaltung?«, fragte sie.
»Meine Entdeckung, dass das … kinderpornografische Material definitiv nach dem Tod von Herrn Beck auf dessen PC gespielt worden ist.«
Lona Mendt fröstelte, obwohl sich die Gluthitze von draußen bis hier unten in die KTU vorgearbeitet hatte. Eine Fehlspur. Der Mörder war zurückgekommen, um ihre Ermittlungen von sich wegzulenken.
»Waren die Dateien manipuliert, ich meine die hinterlegten Dateianhänge?«
Niemann hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so gut mit Bits und Bytes auskannte. Was sein Interesse an dieser Frau wiederum steigerte. Er nickte: »Ja, das Aufspieldatum ist um Monate zurückgelegt worden. So, als … «
»Ich versteh schon«, unterbrach sie ihn sanft, »so, als hätte Herr Beck das alles schon monatelang besessen.«
Im ersten Affekt wollte Lona ihn von ihrem Handy aus anrufen, sobald sie aus dem Gebäude getreten war, aber sie beschloss, seine Reaktion sehen zu wollen.
Also setzte sie sich auf die Bonneville und fuhr schnurstracks in den Ringelrankenweg.
Auf der Einfahrt zum Haus stand ein silberner Kleinwagen, der von Mareike gerade emsig mit einem Schwamm gewaschen wurde. Als die aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie jemand vom Motorrad stieg, blickte sie auf – parallel mit den Poolbauern Bahr und Wildhagen, die sich für den Auftritt der Blonden eine kleine Pause gönnten.
Lona lächelte Mareike zu und streifte nach dem Helm auch die Lederjacke ab, die sie sich über die Schulter warf, während sie die Auffahrt hochkam. Eine kleine Brise schmiegte ihr den Stoff der Bluse für einen Moment vorteilhaft an die Haut. Bahr und Wildhagen schluckten.
»Hallo, Mareike«, rief Lona dem Mädchen freudig zu und deutete mit dem Kopf auf den Polo, »ist das etwa deins?«
Wer geglaubt hatte, Mareikes Mundwinkel könnten sich unmöglich noch weiter nach außen spannen, sah sich nun belehrt. Denn der Glückwunsch aus dem Mund dieser Frau bedeutete ihr viel. Lona Mendt war für Mareike der Inbegriff von Freiheit. Sie war in höchstem Maße unabhängig. Selbstbewusst. Klug. Und unverfälscht. Für Mareike gab es nichts, womit diese Frau nicht hätte fertig werden können.
Was ein riesiger Irrtum war, dem freilich alle aufsaßen.
Mareike jedenfalls nickte: »Ich hab’s zum Abi bekommen!«
»Herzlichen Glückwunsch.«
Erst reichte sie Ellings Tochter die Hand, die sie schütteln wollte, aber dann erschien es Lona unnatürlich distanziert, also nahm sie Mareike in die Arme. Die genoss diese Nähe. Bei Lona fühlte sie sich wie in Abrahams Schoß, sie hätte sie gerne still und heimlich mal eine Woche lang in ihrem Wohnmobil begleitet. Bestimmt konnte man ungeheuer viel von ihr lernen.
Lona entdeckte Elling und Susanne, die auf der Terrasse etwas diskutierten, Susanne erschien ihr genervt. Elling gestikulierte. Dann entdeckte Susanne sie, zwang sich zu einem Lächeln und hob zum Gruß die Hand. Elling schaute über seine Schulter. Als sich ihre Blicke trafen, wusste er, warum sie gekommen war. Und sie sah die Erkenntnis in seinen Augen, dass sie ihn durchschaut hatte.
Er vertröstete Susanne mit ein paar Worten und kam dann über den Rasen auf Mareike und sie zu. Lona entließ das Mädchen aus der Umarmung.
»Hm, Reichtum ausgebrochen im Hause Elling?«, fragte sie Mareike.
»Papa hat im Casino gewonnen.«
»Das ist ja ein Ding.«
Als er Lona und seine Tochter erreichte, versuchte er ein harmloses Lächeln, das ihm nicht gelang. »Hallo – was passiert?«
Sie musterte ihn einen Augenblick lang. Ja, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, aber sonst hatte er sich gut im Griff. Lona entdeckte in diesem Augenblick eine neue Seite an ihrem Kollegen. Ihm mochte bei Leichenschauen schlecht werden, aber unter Druck konnte er durchaus eine gewisse Kaltblütigkeit an den Tag legen.
»Ich hab gerade gehört, du hast im Casino gewonnen – Glückwunsch.«
Ellings Lächeln brach.
Sie hatten sich einen Platz an der Carbäk gesucht, einem kleinen Fluss, kaum zwei Meter in der Breite, der von Bäumen umsäumt in die Unterwarnow floss und von dort in die Ostsee. Die Einheimischen nannten dieses letzte Stück des Flusses den Wieddingstrang.
Die Bäume spendeten Schatten. Elling stand am Wasser, er rauchte Kette. Lona hatte sich auf das Querstück eines Holzzaunes gesetzt und die Füße hinter das Holzstück drunter geklemmt .
Die Stelle war nur rund 500 Meter vom Ringelrankenweg entfernt. Während des Weges hierher hatten sie kein einziges Wort getauscht. Und Elling hatte auch jeden Blickkontakt vermieden.
»Was ist? Wirst du erpresst? Oder hast du Geld genommen?«
Er drehte sich kurz zu ihr um. Sie blickte ihm in die Augen. Er seufzte und die Schultern sackten herab: »Das oder ist falsch.«
»Hm?«
»Und ist richtig. Ich hab Geld genommen und werde erpresst.«
Er war froh, dass sie sitzen blieb und nicht einfach abhaute. Und auch noch ruhig blieb.
»Von wem?«
Er blies die Wangen auf. »Es gibt angeblich eine Gruppe von Missbrauchsopfern. Die haben eine Frau geschickt. Die hat mir Geld gegeben, damit ich den Fall zu den Akten lege. Und jetzt soll ich noch mal Geld bekommen – im Tausch gegen eine Kopie der Ermittlungsakte.«
»Hmm. Aber es gab nie Missbrauchsopfer, richtig?«
Elling nickte. »Ja«, sagte er schmallippig und zündete sich die nächste Zigarette an. »Aber das wusste ich da noch nicht«, versuchte er sich zu rechtfertigen.
»Wie viel Geld hast du genommen?«
»20000. Ich hab’s auch genommen, um … damit ich praktisch Kontakt behalte, um später rauszufinden, worum es eigentlich geht.«
Lona musterte ihn, als habe sie sich in der Höhe des Preises geirrt, zu dem man ihn bestechen konnte. Sie schien ein wenig ernüchtert. »Gib’s ihr zurück.«
»Das geht nicht.«
»Weil?«
Die Scham ließ ihm Schweißperlen auf die Stirn treten. »Ich, ähm, ich komm da nicht mehr raus, tja«, er breitete die Unterarme aus, »die haben mich auf Band.«
Bis jetzt hatte Lona Mendt gelassen reagiert, aber nun versteinerte ihre Miene, sie ließ sich von dem Zaun gleiten und ging auf ihn zu, um erst knapp vor Elling abzustoppen .
»Elling, wie blöd kann man sein: von wegen ›um später rauszufinden, worum es geht‹ – du hast es genommen für eine Gegenstromanlage. Für Mareikes Auto. Den Pool. Den Urlaub. So sieht’s aus. Und jetzt haben sie dich in der Hand. Oh Mann!«
Sie klatschte mit der offenen Hand wütend gegen den nächsten Baumstamm.
Elling hatte das Bedürfnis, etwas zu erwidern. Die Sache zu seinen Gunsten zu beschwichtigen, zumindest ein klein wenig zu beschönigen, aber er fand nichts, was für ihn sprach – oder von Lona nicht durchschaut worden wäre. Also behalf er sich mit einem Achselzucken. »Ja«, brachte er hervor, »so ist es wohl.«
Er ließ die Arme hängen. Lona Mendt musterte ihn lange. Dann den Bach. Dann wieder Elling.
»Okay, lass uns überlegen, wie du da rauskommst.«
»Warum willst du das tun?«
Sie blickte ihm in die Augen, als müsse er das wissen: »Weil ich dir helfen will.«
»Ich bekomm, ähm, 100000. Wir teilen natürlich.«
Lona Mendt schüttelte den Kopf: »Ich will dir helfen – das Geld kannst du behalten, Elling.«
Er musterte sie. Ihre Augen waren kristallblau, dazu die Sommersprossen, eine kleine Narbe, die ihr durch die linke Augenbraue fuhr, weshalb dort kein Härchen wuchs.
Lona Mendt wirkte so, wie Mareike sie vermutlich sah, dachte Elling. Selbstbewusst, unabhängig, frei. Und das war auch sein erster Eindruck gewesen und auch sein zweiter und dritter. Aber irgendwann – er konnte es an keinem spezifischen Ereignis festmachen – hatte er begriffen, dass sie was mit sich herumtrug. Was Schweres.
»Wann und wo, Elling?«, riss sie ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken.
»Das Parkhaus draußen in der Riemannshöhe, elf Uhr.«
»Wer wird kommen?«
»Die Frau.«
»Und bekommt dann von dir die Ermittlungsakte? «
»Ja, ich hab sie gescannt und auf einen USB -Stick gezogen.«
Sie trat noch einen Schritt an ihn heran. Dann waren sie sich so nahe, dass sie für einen Blick in die Augen von links nach rechts und zurück schauen mussten. »Lass uns dieses Band zurückholen, Elling.«
»Ja.«
Er beugte sich vor und umarmte sie, und Lona ließ es geschehen. Mehr noch – sie genoss die körperliche Nähe. Gehalten werden. Geschützt sein.
»Du bist meine Traumfrau.«
Lona musste schmunzeln und löste die Umarmung.
»Ja, aber du bist schon vergeben, Supermann.«
Elling lächelte eine Spur verlegen, dann meldete sich sein Handy. Er zog es aus seinem Jackett und sah auf dem Display, dass es sich um Hans-Georg handelte, seinen Kollegen aus Hamburg.
»Ich muss kurz ran«, entschuldigte er sich und Lona nickte ihm zu. »Hans-Georg. Guten Abend. Auch so heiß bei euch?«
»Ziemlich, ja. Wir haben den ganzen Tag die Rollläden unten. Is’ hier sonst nich’ auszuhalten. Aber weswegen ich anruf: Die Nummer, die bei Susanne angerufen hat, die hättest du im Telefonbuch nich’ gefunden. Der Teilnehmer hat nämlich einer Aufnahme ins öffentliche Verzeichnis widersprochen.«
»Sieh an.«
»Ja – es ist die Nummer von eurem OB -Kandidaten, von Philipp Benedikt.«
»Was?«
Eine Nachfrage, die er sich selbstverständlich hätte sparen können – die aber seiner Verblüffung Ausdruck verlieh. Mit vielem hätte er gerechnet. Damit nicht.
»Ich kann den Einzelverbindungsnachweis anfordern. Dann weißt du, wann und wie oft …«
»Nein«, unterbrach Elling und schüttelte den Kopf, »nein, ich … danke, das brauche ich nicht. Danke. Ich bin gerade in einer Besprechung. Ich melde mich wieder, ja? «
»Gut«, sagte Hans-Georg, und sie legten auf.
Elling wandte sich wieder Lona zu.
»Wir müssen unsere Handys nach Marnow bringen«, sagte sie.
Er benötigte ein paar Augenblicke, bis er ihre Sorgfalt erfasste. Dann nickte er.