21
Elling war nicht so verrückt, den Weg über die Riemannshöhe zu nehmen, obwohl es ihn ganz leicht juckte, seine Glückssträhne noch etwas auszureizen. Er hatte den Volvo gute anderthalb Kilometer vom Parkhaus entfernt hinter einem ungarischen Laster abgestellt. Früheres Bruderland, kam ihm in den Sinn.
Er war mit schmerzendem Knie dorthin gehumpelt und eingestiegen. Er hatte mit allem gerechnet – mit dem Aufgleißen von Scheinwerfern, die man auf ihn richtete, mit maskierten Beamten, die ihn unsanft aus seinem Wagen zerrten und seinen Kopf seitlich auf den warmen Asphalt pressten. Stattdessen nur die Grillen, die unablässig ihr kleines Konzert gaben.
Nachdem er sich mit Lona via Funk abgestimmt hatte, fuhr er los. Er entledigte sich der Baseballkappe. An der ersten Ampel, an der er halten musste, streifte er auch die Lederjacke ab, die er hinter seinen Sitz stopfte.
Der MDR spielte Leonard Cohen: Suzanne.
An der zweiten Ampel zählte er 80000 Euro ab, und wieder wurden ihm die Handinnenflächen feucht.
Er grinste in sich hinein.
Was für ein Wahnsinn.
Jutta Winter war tot. Und er hatte das Geld. Niemand sonst konnte es bezeugen. Niemand sonst war im Treppenhaus gewesen. Die Ermittlungsakte war allerdings eine Zeitbombe. Wenn man das Wrack hob, würde man wahrscheinlich auch die Akte auf dem kleinen USB -Speicher finden.
Elling verstaute die 80000 Euro in einem leeren Verbandskasten, den er unter seinen Sitz schob. Die anderen 100000 Euro deponierte er mitsamt der gelben Plastiktüte im Handschuhfach .
Und überlegte kurz, ob er Lona wegen der Summe nicht die Wahrheit sagen sollte. Aber wenn er nun Farbe bekannte, war klar, dass er sie heute Nachmittag belogen hatte. Was zwischen ihnen mehr zunichtemachen könnte, als es die Wahrheit wert war. Was tun?
Elling war unschlüssig und wandte sein Allheilmittel gegen Schulden im Allgemeinen an: Er verschob es auf einen Punkt in der Zukunft. Er musste es nicht jetzt entscheiden.
Anschließend bog er in die Straße ein, in der Lona den Mustang gemietet hatte. Sie stand schon an der Einfahrt und wartete auf ihn. Er stoppte ab, sie stieg zu.
Kurz musterten sie sich. Sie waren nicht mehr dieselben von heute Nachmittag, das spürten sie beide. Sie konnten es nur noch nicht in Worte fassen.
Er legte den ersten Gang ein, um loszufahren, als sie das Blut an seinem ihr abgewandten Auge sah.
»Was ist mit deinem Auge?«
Bevor er antworten konnte, hatte sie das kleine Lämpchen in der Mitte über ihnen eingeschaltet. Jetzt erst konnte sie sehen, wie ramponiert er eigentlich aussah. Die Hose war am Knie aufgeschürft, das Hemd am Bauch. Er hatte schwere Kratzer zwischen dem obersten Hemdknopf und dem Hals. Tiefrot. Sie schwollen an und einige Schürfwunden nässten bereits.
»Das muss genäht werden, Elling.«
Sie meinte die Augenbraue.
Elling schüttelte leicht den Kopf: »Ich will keinen Arztbericht von heute Nacht.«
Er hatte natürlich recht. Wenn er sich jetzt nähen ließ, konnte ihm das später zum Verhängnis werden, denn dann wäre die ärztliche Versorgung seiner Wunde aktenkundig.
»Rutsch rüber, ich fahr«, sagte Lona. Elling gab kein Widerwort – sie tauschten die Plätze, indem Elling den Volvo umrundete und auf der Beifahrerseite wieder einstieg.
»Lass mich mal kurz«, sagte Lona und bog ihm den linken Bügel seiner Brille besser zurück. Jetzt drückte er nicht mehr so hinter dem Ohr .
»Danke.«
»Schon gut.«
Sie startete den Motor und fuhr los.
»Deck eins und zwei negativ«, hörte Lona mit starkem Funkrauschen unterlegt. Sie sah fragend zu Elling, der statt einer Antwort sein Funkgerät anhob.
»Sie nutzen die Spezialfrequenz. Im Augenblick tappen sie im Dunkeln. Aber sie suchen einen Mann mit Baseballkappe, circa 30–45 Jahre, Lederjacke, Brille. Mich.«
»Genauer ist die Beschreibung nicht?«
»Nein. Jedenfalls noch nicht.«
»Irgendwas, was darauf schließen lässt, woher die das wussten?«
Elling deutete ein Kopfschütteln an: »Wüsste ich selbst gerne.«
Der Volvo passierte unversehens eine diffuse Linie, hinter der die Funksprüche erst verzerrten und dann schon bald zu einem Dauerrauschen kulminierten. Elling schaltete das Funkgerät aus. Daraufhin ließ Lona die Seitenscheiben herunterfahren. Frische Nachtluft wehte herein und brachte ihre Haare zum Tanzen. Es kitzelte sie im Nacken.
Elling zündete sich eine an, lehnte sich zurück und inhalierte. Wie ein Mann, der gerade eine Horde Kinder aus einem brennenden Waisenhaus gerettet hatte.
Natürlich gab es ein paar Fakten – die Akte auf dem orangefarbenen Stick, der Film und dazu noch Dinge, die er gar nicht auf dem Radar hatte –, die ihm noch das Genick brechen konnten. Er hätte also angespannt sein müssen. Aber er konnte nicht mehr. Er konnte einfach nicht mehr.
Wenn sie jetzt an einer Straßensperre hielten, würde er sich sofort ergeben und alles gestehen – zum Glück kam keine.
Ansonsten ging es ihm wie Lona gestern. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie ewig weiterfahren können, durch viele Nächte hindurch. Aber am Zielpunkt hätte er eben nicht seine Identität von sich abgestreift und einen neuen Namen angenommen, nein. Er wäre über kurz oder lang sowieso zurückgekehrt in den Ringelrankenweg. Da war sein Zuhause. Seine Kollegin hatte die Freiheit, ihr Zuhause überall dorthin zu verlegen, wo sie gerade wollte.
»Wie ist es passiert?«, fragte er unvermittelt.
»Sie hat die Kontrolle über ihren Wagen verloren.«
Er nickte. Lona überprüfte die ganze Zeit, ob sie jemand verfolgte. Bis jetzt nicht.
»Hast du ihr Kennzeichen?«
»HH -SK -47. Wie bist du da rausgekommen, Elling?«
»Außen. Hab mich fallen lassen.«
Er deutete mit der Hand, die die Zigarette hielt, auf die Platzwunde und sein zerschlissenes Hemd.
»Aus welchem Stock?«
»Weiß ich nicht«, log Elling. Er wollte keine Heldengeschichte daraus machen. Es war, wie es war.
»Hat sie dir das Geld gegeben?«
»Ja«, sagte er und klopfte mit der linken Hand gegen das Handschuhfach, »die Hälfte gehört immer noch dir.«
Lona kommentierte das nicht weiter.
Als sie in den Ringelrankenweg einbog, bemerkte sie, wie Elling sich neben ihr anspannte. Lona fasste das Lenkrad fester. Beide hielten Ausschau nach verdächtigen Zivilfahrzeugen. Solche, die für einen Zugriff nachts auf offener Straße genutzt wurden.
Die kleine Wohnstraße lag jetzt, gegen Mitternacht, ruhig da. Mit den paar Laternen, die leuchteten, entstand der Eindruck einer unwirklichen Idylle.
Lona stoppte vor dem Haus der Ellings und schaltete den Motor aus. Die Lichter des Volvos erloschen.
Sie und Elling starrten gespannt auf das Haus. Im Flur und auf der Terrasse brannte noch Licht – wie üblich, wenn Susanne schon im Bett war und er später nach Hause kam.
Das Haus, der Garten, das Licht – es wirkte wie ein friedliches Refugium. Aber möglicherweise sollte es für Elling auch nur diesen Anschein erwecken – weil es eine Falle war .
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Und deswegen legte Elling auch die Hand auf die Türklinke.
»Frau Winter …«, flüsterte Lona, als könne zu lautes Sprechen einen SEK -Zugriff auslösen.
»Hm?«
»Das war doch ihr Name.«
»Ja«, bestätigte er ebenfalls mit gedämpfter Stimme.
»Wenn du ins Haus kommst, hat sie denen nicht deinen Namen gesagt.«
Elling nickte. Wenn doch, dann war er ohnehin geliefert. Dann würden sie ihn überall finden.
»Wenn nichts passiert – kommst du dann morgen mit dem Volvo ins Büro?«
Lona sah ihm in die Augen und nickte. »Viel Glück, Supermann.«
Elling erwiderte das Nicken, dann stieg er aus und schloss die Beifahrertür. Sie sah, wie er die Gartenpforte öffnete und die Auffahrt hinaufging. Wie er sich zwang, nicht nach links und rechts zu blicken, wie er sich stattdessen bemühte, so zu gehen, als käme er von einem Bier bei Nachbarn nach Hause.
Er erreichte unbehelligt die Haustür, steckte den Schlüssel ins Schloss und verschwand im Haus.
Nur einen Moment später ging die Außenlampe über der Klingel zweimal an und wieder aus. Er war sicher.
Sie startete den Wagen, wendete und fuhr davon.
Elling stand in Boxershorts und freiem Oberkörper im Badezimmer. Er hatte geduscht und seine Schürfwunden mit Salbe versorgt – Bepanthen. Susanne schwor darauf.
Das Wasser hatte das geronnene Blut an der Augenbraue weggespült, sodass die Wunde erneut zu bluten begann. Er seufzte und beugte sich vor, um die Verletzung im Spiegel über dem Waschbecken zu inspizieren – und bemerkte Susanne, die die angelehnte Tür etwas geöffnet hatte und ihn beobachtete. Sie trug eines dieser dünnen Nachthemdchen .
Als sie seine Verletzung erfasste, kam sie ins Bad. »Elling, was ist passiert?«, fragte sie und blickte auf die aufgeplatzte Augenbraue. In ihrer Stimme schwang Sorge mit, das gefiel ihm.
»Das?«
»Nein, wie die Dinosaurier ausgestorben sind – natürlich das«, sagte sie genervt, »also, manchmal … lass mal ansehen. Setz dich.«
»Ich dachte, ich mach etwas Bepanthen drauf«, antwortete er und nahm auf dem Badhocker Platz. Seine Augen befanden sich ziemlich genau in Höhe ihrer Brüste. Aber vermutlich war das kein idealer Zeitpunkt.
»Salbe hilft nicht alleine, du solltest das nähen lassen.«
»Nein, keine Lust.«
»Okay, aber die Blutung muss gestoppt werden.«
Sie wandte sich um und nestelte im Apothekerschrank an der Seite, bis sie den Alaunstift gefunden hatte. Als sie sich wieder zu ihm drehte, entdeckte sie seine am Knie aufgerissene Hose am Boden.
»Was ist passiert? Tut kurz weh, jetzt …«
Sie drückte ihm den Stift quer auf die Platzwunde. Der Schmerz stach ihm direkt bis auf den Knochen, er schloss die Augen.
»Also, was war jetzt?«
»War so ein Lütter, der war betrunken … Widerstand gegen die Staatsgewalt. Der hat plötzlich zugeschlagen, ich bin gestürzt.«
»Hmm …«
Sie setzte den Alaunstift ab. Tatsächlich hatte sie die Blutung damit stillen können. Nun kam die Salbe. Susanne beugte sich vor, um sie präziser auftragen zu können. Er konnte ihre Nachtcreme riechen. Und gab ihr einen Kuss auf den Hals.
Sie drehte sich leicht zur Seite, fuhr aber mit der Versorgung der Wunde fort. »Ich bin müde, Elling«, erklärte sie.
»Die vielen Interviews.«
Kurz blinzelte Susanne und sah ihm dann in die Augen. »Das ist jetzt meine große Chance.«
»Weiß ich doch. «
Sie trat zurück und begutachtete ihr Werk. »Besser, du lässt das morgen mal röntgen.«
»Mal sehen, Suse. Ich weiß nicht, ob ich die Zeit dazu …«
»Du solltest etwas mehr auf dich achten. Auch auf deine Gesundheit.«
»Natürlich, ja«, sagte er mit einsichtiger Miene.
Seine Frau gab ihm einen Kuss auf die Wange und verließ das Bad.
Andere Männer hätten ihre Frau längst gefragt, warum sie erzählte, dass ihr Praktikant sie anrief, wenn es der OB -Kandidat war. Aber Elling wollte nicht fragen. Stattdessen nahm er ein Pflaster und reparierte notdürftig den linken Bügel der Brille.