Lona Mendt musste sich keinen Wecker stellen. Die Wirkung der Schlaftabletten ließ immer gegen sechs Uhr morgens nach. Dann verdrängte ihr Bewusstsein den letzten Traum. Sie spürte das Sonnenlicht auf den Augenlidern. Das Seitenfenster hatte sie leicht geöffnet. Vogelzwitschern drang herein und ermunterte sie aufzustehen.
Sie öffnete die Augen. Ein Sommermorgen.
Sie schlug das Laken, in dem sie bei dieser Hitze schlief, beiseite. Sie trug nur ihren Slip, auch das ein Tribut an die nächtlichen Temperaturen. Wenn Sie das linke Bein sehr weit streckte und dann auch noch den Zeh nach links beugte, erreichte sie mit knapper Not den Einschaltknopf des Radios, das sie selbst dort in die Wand eingelassen hatte.
Mit rücksichtsvoller Lautstärke ertönte Somebody to Love
von Jefferson Airplane.
Die Seiten- und Heckrollos hatte sie heruntergezogen. Nur auf den Sichtschutz vor der Windschutzscheibe hatte sie verzichtet – wer immer sie schlafen sehen wollte, hätte dafür mit einem Boot direkt vor ihr Wohnmobil paddeln und dann aufstehen müssen. Und wenn jemand diesen Aufwand trieb, dachte sie, hatte er es sich verdient.
Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen und warf zuerst einen Blick auf ihr Handy. Ellings Mobiltelefon lag direkt daneben. Von dort aus konnte er sie nicht angerufen haben. Aber von seinem Festnetzanschluss im Ringelrankenweg aus. Das hatte er, wie sie sah, aber nicht getan. Stattdessen hatte sie eine SMS
von Susanne Elling erhalten: »Habe mein Handy im Auto liegen lassen. Wir sehen uns nachher im Büro. Bis dann, Elling.
«
Also hatte es auch in der Nacht keinen Zugriff gegeben. Denn wie geplant hatten sie ihre Handys ja hier im Wohnmobil deponiert. Deshalb signalisierte Elling ihr mit seiner Nachricht, dass er noch auf freiem Fuß war.
Lona blickte etwas verschlafen zur Seite, auf die unberührte Seite des Bettes. Dort lag ein Blütenmeer aus lila Banknoten. Insgesamt exakt 180000 Euro. Nämlich die 100000, die Elling im Handschuhfach verstaut hatte, wie auch jene 80000, die sie unter dem Fahrersitz in einem Verbandskasten gefunden hatte. Den Elling vermutlich zu eilig geschlossen hatte, um zu bemerken, dass dort ein Schein herauslugte. Den Schein, den sie beim Aussteigen heute Nacht entdeckt hatte.
Elling hatte ihr die Hälfte von 100000 angeboten und sie über die Summe, um die es in Wahrheit ging, getäuscht, um sich den Löwenanteil zu sichern. Lona verspürte Enttäuschung – wegen der Lüge, nicht wegen des Geldes. Und auch nicht wirklich deshalb: Es ging um Verlässlichkeit. Um Loyalität. Lona fragte sich, ob Elling, wenn es hart auf hart kam, auch so bedingungslos an ihrer Seite stünde wie sie an seiner. Und musste konstatieren, dass sie darauf nicht setzen konnte.
Nach einer halben Flasche jungen portugiesischen Weißweins war es über sie gekommen, und sie hatte das ganze Geld auf dem Bett zerstreut. Sie hatte noch nie so viel auf einmal gesehen. Um dann festzustellen, dass auch 180000 Euro nichts änderten. Ihr Puls hatte sich nicht erhöht, sie hatte keine feuchten Hände bekommen, es war lila Papier für sie.
Und da lag es jetzt. Sie musste sich ein Versteck überlegen. Später.
Lona schwang sich aus dem Bett, das mal aus zwei Längsbetten bestanden hatte und später von ihr durch eine einzige, durchgehende Matratze ersetzt worden war. Sie warf die Kaffeemaschine an und goss sich schon mal ein Glas kaltes Wasser aus dem Kühlschrank ein. Bis der Kaffee durchlief, streifte Lona sich ein Shirt über.
Mit dem Kaffee und dem Wasser nahm sie auf dem Beifahrersitz
Platz und zog die Beine an. Nippte von dem Kaffee. Und genoss den unbezahlbaren Ausblick. Der See lag ruhig – nicht mal ein Kräuseln fand sich an der Wasseroberfläche. Nur weiter hinten zog eine Entenfamilie vorbei. Keine Wolke am Himmel. Es herrschte absolute Windstille, denn selbst die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht.
Irgendjemand da draußen beim Radio konnte offenbar ihre Gedanken lesen. Er legte das Lied auf, das ihren Strohhalm ins Morgen bildete: Riders on the Storm.
Jedes Menschen Tod ist mein Verlust.
Sie ließ das Rollo auf ihrer Seite hinaufschnappen und öffnete das Fenster. Es war noch angenehm frisch.
Ein älterer Herr, den sie gestern schon gesehen hatte, schob einen jungen Erwachsenen – der Mundpartie und den Augen nach zu urteilen vielleicht sein Sohn – im Rollstuhl ans Ufer. Der Blick des jungen Mannes war erschreckend leer. Lona fröstelte bei dem Anblick. Er warf die Angelrute aus, und sie hatte das Gefühl, einem erloschenen Geist beim Fischen zuzusehen.
Der ältere Mann hatte einen leichten Campingstuhl dabei, den er nun ausklappte, um darauf Platz zu nehmen. Seiner Tragetasche entnahm er ein blaues gebundenes Buch, schlug es an einer zuvor markierten Stelle auf und begann zu lesen: »Ich bin wirklich gespannt darauf, die Taka-Tuka-Insel kennenzulernen. Stellt euch nur vor, ausgestreckt am Strand zu liegen und die großen Zehen in die richtige Südsee zu tauchen. Man braucht nur den Mund aufzusperren und eine reife Banane fällt einem direkt hinein!«
Mehr hörte Lona nicht. Sie sah nur noch den Vater und den behinderten Sohn. Und sie fragte sich, ob der erfassen konnte, mit wie viel Liebe er bedacht wurde. Egal, dachte sie, er spürt es.
Danach duschte sie, zog sich einen Bikini an und kraulte im Marnower See bis zum anderen Ufer und wieder zurück. Als sie aus dem Wasser kam und die Nässe aus den Haaren wrang, nickte der Vater ihr zu.
»Guten Morgen.
«
»Morgen«, gab sie freundlich zurück, bevor sie wieder im Wohnmobil verschwand, sich abtrocknete und anzog. Mit einem Honigbrot setzte sie sich an die Dinette und genoss den Blick auf den See. Es war ein guter Platz. Ruhig, verwinkelt, im guten Sinne verschwiegen. Sie hatte das Gefühl, sie würde hier länger stehen.
»Rostock«, sagte der Sprecher im Radio, »bei einem Verkehrsunfall im Bereich Riemannshöhe ist gestern vermutlich ein Auto in die Unterwarnow gestürzt. Die Polizei geht von überhöhter Geschwindigkeit aus. Von den Insassen fehlt bis jetzt jede Spur. Taucher suchen seit den Morgenstunden nach dem Wrack. Und nun zum Wetter … der Jahrhundertsommer hat uns fest im …«
Lona schaltete das Radio ab.