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Schön, vielleicht war er kurz für zwei oder drei Stunden eingenickt – aber im Grunde hatte er eine schlaflose Nacht gehabt. Um halb sechs war er aus dem Bett geschlüpft und war geduckt in Boxershorts zu allen Fenstern geschlichen, um Ausschau zu halten. Er hatte sich dazu die notdürftig reparierte Brille aufgesetzt und die Gardinen nur millimeterweise verschoben, damit von außen keine Bewegung erkennbar war.
Aber soweit er das beurteilen konnte, standen alle Autos von heute Nacht noch auf denselben Plätzen. Es hatte sich nichts verändert. Kein Fahrzeug war ausgetauscht worden. Und keines war hinzugekommen. Der Ringelrankenweg sah aus wie immer.
Elling witterte Morgenluft.
Bevor er sich mit dem Bus auf den Weg zur Arbeit machte, rauchte er im Garten eine Zigarette, um sich unauffällig umzuschauen. Ging jemand vorbei, der nicht in den Ringelrankenweg gehörte? Observierte man ihn?
Da hörte er Plätschern hinter sich und wandte sich um – Wildhagen und Bahr waren wieder mit dem Pool beschäftigt, er hatte ihnen vorhin schon einen Kaffee hingestellt und ihnen die 1000 Euro Anzahlung für die Gegenstromanlage in bar gegeben.
Nun hatte Wildhagen – natürlich mit einer Zigarette im Mundwinkel – die Zuleitung geöffnet und Wasser ergoss sich ins Becken. Dort drinnen stand Bahr, der Kleinere, mit Gummistiefeln. Gewichtig blickte er hinab auf die hellblauen Fliesen. Er machte ein Gesicht, als suche er einen Verdächtigen .
»Jetzt schon Wasser?«, fragte Elling, der an den Pool herantrat.
Wildhagen nickte, während sein Kollege den Blick nicht vom Poolboden abwandte: »Dichtigkeitstest. Kennen Sie sicher noch von früher, wenn der Reifen vom Fahrrad platt war … Schlauch ins Wasser, wo’s blubbert, is’ undicht.«
Jetzt sah Bahr doch auf: »So isses. Sieht aber gut aus. Ich muss sagen, Ihr Pool ist ’n Prachtstück.«
»Oder?«, fragte Elling, er war ganz seiner Meinung.
»Ein Prachtstück«, bestätigte Wildhagen, »und dann noch die Gegenstromanlage.«
Elling lächelte breit. Natürlich lobten die beiden ihre Arbeit, aber der Pool war tatsächlich ein Hingucker. Im Ringelrankenweg gab es so was nicht. 20 Meter Bahnlänge. Vermutlich in ganz Rostock nicht.
»Die Gegenstromanlage ist die Krönung, Herr Elling«, schlug Bahr in die gleiche Kerbe, »alles dicht, wie es aussieht.«
Elling lächelte – dann könnten sie sogar bald baden. Und das mitten in dieser Gluthitze. Er würde die Nachbarn einladen, sie würden bis zum Hals im Pool stehen und einen Bacardi trinken. Er sah die Sause fast physisch greifbar vor sich.
Mitten in diese Vorstellung platzte Susanne: »Für dich.«
Er drehte sich um, sie reichte ihm ihr Handy. In der anderen Hand hielt sie die Kaffeetasse. Susanne hatte sich geschminkt, nur der Lippenstift fehlte noch. Sie verlegte ihn ständig. Es mussten sich mittlerweile ein Dutzend davon im Haus und im Auto tummeln.
Er sah sie fragend an.
»Hans-Georg. Er sagt, an deinem Handy geht nur die Box ran.«
»Ich hab’s in Marnow vergessen.«
Er nahm das Handy entgegen, während Susanne sich seine aufgeplatzte Augenbraue ansah, die er mit einem Pflaster versorgt hatte. Er zeigte ihr den erhobenen Daumen. Sie verstanden sich blind, denn sie nickte und blieb stehen, um auf ihr Handy zu warten. Susanne nippte an ihrem Kaffee. Ihr Profil war so fein, fast aristokratisch. Wenn sie den Kopf etwas in den Nacken legte, bekam ihr Hals einen schönen Bogen. Wie ein Schwan.
»Hallo?«
Hans-Georgs Stimme war ein wenig entfernt, schnell hielt Elling sich das Handy ans Ohr.
»Elling. Morgen, Hans-Georg. Gundi und du müsst uns unbedingt besuchen. Der Pool ist nämlich fast fertig. Er hat jetzt auch eine Gegenstromanlage.«
Susanne verdrehte die Augen: »Herr Bahr, was machen Sie denn da?«
»Dichtigkeitstest«, antwortete der Mann.
»Wie früher mit dem Fahrradreifen«, mischte Elling sich ein, »wenn es blubbert, ist es undicht.«
»So wie Ihr Mann sagt«, bestätigte Wildhagen und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ich hab den Einzelverbindungsnachweis von Susannes Handy angefordert«, sagte Hans-Georg am anderen Ende der Leitung ruhig. Elling drehte sich instinktiv von Susanne und den Poolbauern weg, er ging ein paar Schritte.
»Ich hab dir doch gesagt, ich will das nicht.«
»Ich weiß. Aber ich würd ja nicht anrufen …«
»Stopp, Augenblick«, unterbrach Elling und ging zügig weiter, bis er hinter zwei Tannen angekommen war, »hör mal, ich hab ein gutes Leben, ich will, dass alles so bleibt. Ich will von der Übersicht nichts wissen.«
»Aber als dein Freund …«
»Willst du es mir nicht sagen … als mein Freund. Ich will es nicht wissen«, unterbrach Elling ihn.
»54.«
»Was 54? Was heißt das?«
»Herr Elling?«, rief Wildhagen.
Elling sah auf: »Ja?«
»Der Pool ist dicht!«
»Prima!«, rief Elling. Und ins Handy: »54 was?«
»Susanne und Philipp Benedikt haben alleine in den letzten zehn Tagen 54 Mal miteinander telefoniert. Das muss ich dir sagen – als dein Freund. Ich muss es sagen, weil ich es andersrum auch von dir erwarten würde.«
»Ja«, sagte Elling kraftlos. All die Energie, die er eben noch beim Anblick des Swimmingpools empfunden hatte, war dahin. Er hatte das Bedürfnis, zurück ins Bett zu gehen und eine Woche durchzuschlafen. Es waren einfach zu viele Fronten, an denen er zu kämpfen hatte.
»Sie, ähm … Suse macht ’ne Reportage über den Bürgermeister-Kandidaten. Die sprechen Termine ab, Inhalte … das ist eine große Sache für sie. Es ist«, jetzt kam der Sprung über diese Zahl, die 54, »ganz logisch, dass da viel abgesprochen wird. Am Telefon.«
Schweigen. Ein Räuspern.
»Natürlich, ja. Jetzt, wo du es sagst, ich wollte da nicht unnötig – du weißt schon. Macht alles absolut Sinn.«
»Ja.«
»Genau.«
»Konntest du ja nicht wissen, Hans-Georg.«
»Nein. Dann entschuldige den … falschen Alarm.«
»Ich bin dir ja dankbar, dass du das gesagt hast.«
»Als dein Freund.«
»Als mein Freund, ja.«
»Elling, ich … oh, auf der anderen Leitung ruft gerade ein Kollege an.«
Elling hörte gar kein Klingeln.
»Geh ruhig ran.«
»Wir können ja später noch …«
»Ja.«
Klack. Hans-Georg hatte aufgelegt. Elling atmete tief durch. Und bemerkte dann, dass Susanne ihn beobachtete. Sie deutete auf ihre Armbanduhr, offenbar war sie spät dran. Er ließ die Tannen hinter sich und kehrte zum Pool zurück.
»Ein Prachtstück«, sagte Bahr und grinste, und Wildhagen grinste auch – sie machten sich einen Spaß daraus, Elling im Unklaren darüber zu lassen, ob sie über den Pool sprachen oder über Susanne, deren Anblick sie ebenfalls sehr zu schätzen wussten.
Elling gab ihr das Handy zurück: »Schöne Grüße von Hans-Georg.«
»Danke. Hat er wieder von Südafrika erzählt?«
Elling nickte: »Kennst ihn ja.«
Susanne gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Ich bin spät dran.«
»Natürlich, schieß los.«
Susanne nickte und ging zu ihrem Kleinwagen, den sie direkt vor der Ausfahrt geparkt hatte.
Elling sah ihr kurz nach. Dann schlenderte er zurück zu dem Pool. »Es ist wirklich ein Prachtstück«, sagte er.