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»Gibt’s was Neues?«
»Nur das, was in den Nachrichten kommt.«
Elling nickte: »Hab ich gehört.«
Sie standen auf der Rückseite des Kommissariats. Hier, auf dem Parkplatz, hatte Lona den Volvo abgestellt. Sie gab Elling den Schlüssel und sein Handy zurück.
Der warf einen Blick auf das Gebäude, den Lona umgehend verstand.
»Wenn sie dich festnehmen wollen, warten sie nicht, bis du in deinem Büro bist. Dann wär’s schon passiert.«
Das stimmte. Aber es war ebenso gut möglich, dass man ihn hier draußen in Sicherheit wiegen wollte, um ihn drinnen festzunehmen. In einem Gebäude, in dem seine Fluchtmöglichkeiten beschränkt waren.
»Vermutlich ja«, sagte Elling, »weißt du schon, ob der Name stimmt? Jutta Winter?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Ich frage mich, wer das SEK informiert hat. Sie selbst dürfte es ja kaum gewesen sein.«
Sie betraten den Komplex in der Blücherstraße über den rückwärtigen Eingang und nahmen die Treppe.
»Was macht das Auge?«
»Geht. Ich sag, ich bin in den Pool gefallen, dann haben sie was zu lachen.«
Lona nickte. Was auf den ersten Blick banal klang, barg eine kluge Finte – wer lachte, fragte nicht nach.
»Wo ist das Geld?«
»Unter einer Boje. «
Er warf ihr einen fragenden Blick zu, als sie den zweiten Stock erreichten.
»Falls es Ermittlungen gegen dich gibt, beziehen die mich sofort mit ein. Im Wohnmobil wär’s ein Risiko. Also an der Boje im See.«
Im dritten Stock waren die Büroräume der Kollegen verlassen. Es war still. Im zweiten Büro stand ein dampfender Kaffeebecher. Irgendwo ratterte ein Drucker. In den Räumen, die Lona und Elling passierten, waren die Rechner eingeschaltet. Ein Tischventilator verrichtete seine Arbeit. Und in einem Zimmer lief leise das Radio. Als hätte eine Neutronenbombe eingeschlagen und alles menschliche Leben vernichtet und alle Geräte verschont.
»Wo sind die alle?«, flüsterte Elling.
Lona deutete ein Achselzucken an. Als sie das eigene Büro erreichten – ebenfalls leer – drangen ein paar Stimmen zu ihnen.
»Pausenraum?«
»Ich glaube ja«, antwortete Lona.
Und so war es.
Sie standen alle vor dem großen Röhrenfernseher im Aufenthaltsraum, in dem sie sich sonst einen Kaffee machten, zu Mittag aßen oder zusammen Fußball schauten. Vier Tische, Stühle, zwei Fenster zum Innenhof.
Sie waren zu acht, Mertens stand in der Mitte, die Hände in die Hüften gestützt. Alles Männer. Und sie starrten so konzentriert auf die Mattscheibe, dass sie Lona Mendt und Elling im ersten Moment nicht wahrnahmen.
»Morgen«, sagte Lona.
Die Köpfe wandten sich ihnen nur kurz zu. Die Kollegen nickten oder grüßten zurück, um sich dann wieder dem Fernseher zuzuwenden. Auf dem war ein Standbild zu sehen: eine schmucklose, kalte Treppe aus Beton. Durch einen Lichtkegel erhellt.
»Was ist mit deinem Auge?«, fragte Mertens.
»Ach das, bin in meinen Pool gestolpert. «
Die anderen grinsten.
»Was gibt’s?«, wandte Lona sich an Mertens. Statt seiner drehte sich ein dünner, quirliger Typ zu ihr um: »Ihr habt gerade was verpasst: Die senden einen Mitschnitt von ’nem SEK -Einsatz gestern.«
Elling musste unwillkürlich schlucken.
Passend dazu erschien eine Laufschrift: Zugriff in Riemannshöhe. Spezialeinsatzkommando angefordert.
»Die haben das gefilmt?«, fragte Elling. Am Ende der kurzen Frage blieb ihm die Luft weg, er hörte sich an wie Kermit.
»Helmkameras«, sagte der Dürre, »die erproben das gerade beim SEK . Ich finde ja, wir sollten alle eine haben, aber die Linken …«
»Is’ gut, Schmitz«, brummte Mertens.
Elling versteinerte. Nicht nur von außen wirkte er reglos, er wurde auch innerlich zu einer Statue. Ihm war, als würden ihm die Finger abbrechen und verdächtig laut zu Boden fallen, sollte er ein Schnipsen versuchen.
»In den Nachrichten ist nichts gekommen«, stellte Lona fest.
»Nachrichtensperre bis vor einer halben Stunde. Die Kollegen haben gestern ein Parkhaus gestürmt. Das LKA ermittelt. Die haben einen Tipp bekommen«, informierte Mertens sie.
Schmitz wandte sich ihnen zu, er grinste breit: »Die sind da mit einer Mannstärke von 16 Leuten rein, um einen Typen zu schnappen. Und der ist ihnen entwischt. Muss man sich mal vorstellen. So’n Parkhaus ist ja jetzt kein Labyrinth.« Schmitz sah Elling an: »Oder? Elling?«
Elling trat der Stress aus den Poren, seine Stirn glänzte. »Ja, ich … schon irre«, gab er von sich.
»Sag ich ja.«
»Und worum ging’s?«, fragte Lona, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Die Sache ist der Kracher«, wusste Schmitz, »Hintergrund soll eine Erpressung sein. Dem Erpresser ist da gestern das Geld übergeben worden.«
Lona und Elling tauschten einen unauffälligen Blick, in dem sie sich der Irritation des anderen vergewisserten .
»Und von wem?«, fragte Elling.
Mertens blies die Wangen auf und hob die Unterarme: »Das ist noch unklar. Das LKA lässt nur das Nötigste raus … wie üblich.«
Die Laufschrift endete, in das Standbild auf der Mattscheibe kam mit einem Schlag Bewegung.
Schmitz’ Zeigefinger flog hoch: »Da, der Mitschnitt.«
Es war der Mitschnitt eines Mannes, der eine Treppe hinauflief. Deshalb war das Bild stark verwackelt. Alle zwei Schwenks kam der Lauf seiner Maschinenpistole ins Bild. Die Kamera schwenkte hoch. Da wurde weiter oben an dem Punkt, zu dem die Stufen hinführten, eine Brandschutztür aufgerissen. Ein Mann mit Lederjacke, Schal, Brille und Mütze erschien – Elling. Er erstarrte. Für einen Sekundenbruchteil. Da flog ein länglicher schwarzer Gegenstand durchs Bild. Etwas, was niemand sofort identifizieren konnte – nur Elling, der die Tür rechtzeitig zugeworfen hatte. Die Brandschutztür krachte zu, die Blendgranate prallte von ihr ab und explodierte.
Mitten in diesem grellen Blitz stoppte die Wiedergabe.
Das Bild, das den Mann in der Brandschutztür zeigte, wurde oben links in der Ecke eingeblendet, während statt der Treppe die Nachrichtensprecherin im Studio erschien.
Frank Elling rührte sich nicht mehr. Er war aufgeflogen. Jeder in Rostock, der das hier gesehen hatte, musste ihn erkannt haben.
»Im Zusammenhang mit einer Straftat fahndet die Polizei nach diesem Mann«, sagte die Nachrichtensprecherin, »er ist circa 1,80 Meter groß, zwischen 35 und 50 Jahre alt. Er war bekleidet mit einer Mütze, einem dunklen Schal, einer Lederjacke und einer Jeans. Das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern hat für sachdienliche Hinweise, die zu einer Festnahme des Flüchtigen führen, eine Belohnung von 10000 Euro ausgelobt.«
Was mal 20000 Mark waren, dachte Elling reflexhaft.
Die Nachrichtensprecherin verschwand, und man sah wieder den Mitschnitt aus der Helmkamera des SEK -Beamten. Auf dem Elling die Tür wieder zuwarf und abtauchte. Daraus hatte man in der Fernsehredaktion eine Endlosschleife montiert .
Schmitz drehte sich grinsend um: »He, Elling, der läuft so schwul wie du.«
Er und zwei Kollegen lachten.
Elling zwang sich zu einem Lächeln. »Ich geh mal kurz … mich frisch machen.«
Als Elling aus der Herrentoilette zurück in den Gang trat, traf ihn Mertens’ Blick. Der lehnte seine 110 Kilo an die gegenüberliegende Wand, seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
Elling blickte kurz nach links und rechts – sie waren unter sich.
Mertens musterte ihn haargenau, und er machte daraus auch gar keinen Hehl. Er sah ihn an, als habe er sich in Elling getäuscht. »Was ist mit deiner Brille?«
»Bin am Beckenrand vom Pool ausgerutscht.«
»Hmm – hast du mir was zu sagen, Elling?«
Elling blickte den Gang hinunter – die Tür zum Treppenhaus war fünf Meter entfernt. Wenn er loslief, war er vor Mertens da. Er war flinker als sein Chef. Er könnte abhauen.
»Elling?«
»Was?«
»Ob du mir was zu sagen hast – es geht um eine Menge Geld …«
Elling wollte nicht, aber er musste schlucken. »Ich, ähm …«
Ihm fehlten die Worte. Mertens stieß sich mit einer Lässigkeit von der Wand ab, die man ihm wegen seiner Körpermasse gar nicht zugetraut hätte. Mit drei, vier Schritten stand er auch schon vor ihm und blickte ihm dabei direkt in die Augen: »Ja?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Willst du mich verarschen? Bei dieser Summe?«
Ellings Gedanken überschlugen sich. Die Nummer hier war kein Scherz, dafür kannte er Rainer Mertens schon zu lange. Er erkannte, wenn der es ernst meinte – und er meinte es ziemlich ernst. Aber wenn Mertens wusste, dass er gestern im Parkhaus dem SEK entkommen war, warum hatte er ihn dann nicht längst festnehmen lassen? Das ergab keinen Sinn. Also, schloss Elling, wollte Mertens sich ein Stück des Kuchens sichern. Ein Jahr früher in Rente gehen. Oder mal woanders Urlaub machen als an der Müritz. Oder beides. Mertens wollte ihn nicht ausliefern, aber er wollte sein Wissen vergolden.
»Du kannst die Hälfte haben.«
»Was?«
»Die Hälfte … wir teilen.«
Mertens’ Mund öffnete sich, seine Stirn verzog sich zu einem Runzeln. Er musterte Elling auf eine Art, als habe der gerade den Verstand verloren. Oder rede in einer fremden Sprache. Mertens griff in seine Brusttasche und kramte einen Zettel hervor, den er ihm vor die Nase hielt: »147 Euro fünfzig für eine Taxifahrt von Marnow nach Rostock … dafür brauch ich eine gesonderte Begründung, Formblatt 17 / III . Ich mein: Spinnst du? 150 Euro rauszuhauen?«
Elling war, als hätten die Henker auf dem Schafott entschieden, ihn nach Hause gehen zu lassen. Einfach so. Unverrichteter Dinge. Als sei ihm sein Leben geschenkt worden. Eine zweite Chance. Vor Dankbarkeit kamen ihm fast die Tränen, er musste lächeln.
»Was gibt’s denn da zu grinsen? Findest du das lustig?«
»Nein.«
»Dann hör auf zu grinsen.«
»Ja.«